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Vor den
Fragen nach dem Woher, Wieso und Warum, die sich nicht nur
Historiker mit dem Blick in die Geschichte stellen, stehen Fragen
nach dem Was, Wo und Wann, auch des Wieviel, also die Erfassung der
"nackten" Tatsachen. Aus solcher Arbeit, die - was über ihre
Schwierigkeit nichts sagt - eigentlich Vorarbeit ist, Vorverständnis
von Geschichte schafft, sind für weiterführende Forschungen
anregende Publikationen entstanden. Als unentbehrlich haben sie sich
auch für die hochkomplizierte Rekonstruktion der Geschichte der
Konzentrations- und Vernichtungslager erwiesen, deren Beherrscher
eine teils penible, teils schlampige Bürokratie betrieben, von der
nur ein Teil erhalten blieb.
Das vorbildhafte Werk, das eine solche frühe Durcharbeitungsstufe repräsentiert
und zugleich die Schwelle von der Ermittlung der Fakten hin zu deren
sachkundiger Zuordnung überschreitet, betrifft Auschwitz und ist Danuta Czech zu
danken. Deutsch erschien es zuerst 1989. Die Arbeit hat jüngst Aufnahme in das
fünfbändige profunde Werk "Auschwitz 1940-1945" gefunden. Daran orientierte sich
Grit Philipp mit ihrer Veröffentlichung, einem Kalendarium der Ereignisse des KZ
Ravensbrück. Es setzt mit dem 1. Januar 1940 ein und endet am 30. April 1945,
ein Schluß, der die Nachgeschichte ausklammert, die eigene Forschungen über die
Prozesse gegen die Peiniger, die Rückkehr der Überlebenden, die Aufnahme in
ihren Ländern usw. verlangen würde. Des weiteren enthält der Band Fotos aus
einem sogenannten SS-Album, die der Propaganda dienten. Sie werfen die Frage
auf, wie es um die fotografische Dokumentation der Wirklichkeit steht, zumindest
im Moment, da sowjetische Truppen das Hauptlager erreichten. Sodann sind
"Zugänge" aufgelistet, einsetzend am 25. Mai 1939, endend mit dem 26. Januar
1945. Eine Auswahlbibliographie beschließt das repräsentativ gestaltete Buch.
Dessen Nützlichkeit wird im Vorwort rechtens herausgestellt, dessen Rang ein
wenig überbewertet, wenn der Band uneingeschränkt an die Seite des polnischen
gerückt wird. In diesem Text hätte man sich Unterrichtung über den
Forschungsstand zur Geschichte des KZ gewünscht, Informationen über Fortschritte
und Desiderate, die sich bei allen in dreijähriger Arbeit verdienstvoll
ermittelten Fakten doch im Kalendarium niedergeschlagen haben. Die Verfasserin
verweist selbst auf zwei Lücken, die fehlenden Daten zum Männerlager und zu
"verschiedenen Außenlagern". Was das letzte für das Gesamtbild bedeutet, wird
allein an dem Faktum klar, daß seit 1943 etwa die Hälfte aller Häftlinge sich
zum Zwecke ihrer Ausbeutung in der Rüstungsindustrie oder in sonst
kriegswichtigen Einrichtungen außerhalb von Ravensbrück befand. Da wären die
Namen von Betrieben zu erfassen gewesen. Sie erscheinen vereinzelt im Text und
sind einmal (Auer) im Ortsregister versteckt, ein anderes Mal (Hasag) auch dort
nicht aufgenommen. Register der Außenlager und Einrichtungen, in denen die
Häftlinge arbeiteten, fehlen. Das erinnert an den Satz aus einem Brecht- Drama,
wonach nichts passiert sei, solange kein Name genannt würde. Hier hätte sich der
Rat der Mitglieder der Fachkommission Brandenburgische Gedenkstätten (A. Leo und
B. Faulenbach werden bedankt) geltend machen können.
Kurz gesagt: Das Vorliegende wäre vorerst eher als Arbeitsmaterial zu bestimmen
gewesen und zur Orientierung und Weiterarbeit aller, die sich mit der Geschichte
von Ravensbrück befassen. Deren Zahl ist erfreulich gewachsen, ebenso die
Zwischenergebnisse ihrer Forschungen, die wie andernorts und massenhaft meist
auf prekären, häufig unterbezahlten Arbeitsstellen verrichtet werden. Zu ihnen
zählt das soeben greifbar gewordene Totenbuch des Lagers. Es liegt in begrenzter
Zahl vervielfältigt vor und ist unter der Redaktion von Bärbel Schindler-Saefkow
aus Recherchen in vielen Ländern hervorgegangen. Ermittelt wurden bisher die
Namen einer Minderheit der Getöteten, von 10 331 Insassen, und, soweit
feststellbar, deren Geburts- und Todesdatum, Wohn- und Sterbeort. Von manchen
Häftlingen werden nur Nummern angegeben, unter denen sie erfaßt gewesen waren.
Die Beteiligten hoffen, mit der Hilfe vieler weiter und zu einem repräsentativen
und würdigen Gedenkbuch zu kommen.
In einem ergebnisreichen Stadium befinden sich Arbeiten, die auf die Außenlager
gerichtet sind. Würden Historiker in der Lage sein, politisch-geographische
Karten Deutschlands und einzelner seiner Länder herzustellen, die alle KZ samt
Außen- und Nebenlagern, Lagern für Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und weitere
Häftlinge markierten, würde sich eine häufig gestellte Fragen erledigen: Was
haben die Deutschen vom Leiden und Sterben derer gewußt, die in die Gewalt der
Faschisten geraten waren. Es würde dann ein Blick darauf genügen, um eine andere
Frage zu stellen: Was haben sich Deutsche gedacht, die "zwischen" diesen Lagern
lebten?
Indessen erweist sich, nicht erst, seit sich forschende Aufmerksamkeit auf die
Außenlager richtete, daß ein Teil auch der Nachgeborenen sich an deren Existenz
weitgehend desinteressiert zeigt. Die einen meinen, es sei genug über Faschismus
und Krieg geredet und geschrieben worden. Andere möchten den Schmutz im Nest
ihrer Vorfahren unerwähnt lassen. Dritte besorgen sich um den Ruf ihres Ortes
und fürchten um die Wirkung geschäftstüchtiger Reklame. Kommunalpolitiker
glauben, sich mit wichtigerem befassen zu müssen und schielen auf Wähler, die in
herausgeputzten Ortschaften leben wollen, auf die kein Schatten außer dem der
Bäume und des Kirchturms fällt.
Zu diesen Hindernissen kommen weitere: Wer vor Ort nach den materiellen
Zeugnissen der Lager forscht, bemerkt, daß über sie im wahrsten Wortsinn
vielfach Gras gewachsen ist. Häufig bereitet es Mühe, auch nur deren Umrisse,
geschweige denn Reste von Gebäuden aufzufinden. Die Zahl ortskundiger Zeitzeugen
schrumpft jedes Jahr. Dennoch ist eine komplettierte Übersicht über die
Außenlager des KZ Ravensbrück, in denen die Häftlinge gegen die Niederlage des
Regimes anschuften mußten, entstanden. Mit ihr zeichnet sich, unterschiedlich
scharf, auch eine Geschichte dieser Stätten ab.
Was jetzt notwendig erscheint und schließlich dazu führen soll, daß die einstige
Existenz dieser Lager ins Bewußtsein derer tritt, die heute in ihrer Nähe leben,
ist die Zusammenführung aller, die sich der Aufgabe bisher widmeten oder das
nach Amt und Würden tun müßten. In manchen Orten haben sich Menschen aus eigenem
Antrieb der Geschichte ihrer Lebensräume angenommen. Ohne deren Arbeit wäre
vieles verloren gegangen. Andere, Lehrer und Pfarrer, könnten gewonnen werden,
dem Beispiel einiger Amtskollegen zu folgen. Eine Zwischenbilanz von Erforschtem
und Gesuchtem und der Austausch gewonnener Erfahrungen mit Forschern, die sich
der Geschichte anderer KZ zugewandt haben, bleibt dringlich. Ohne verstärkte
ideelle und materielle Förderung dieser Arbeit durch die Landesregierungen in
Potsdam und Schwerin, Landräte und Bürgermeister wird oft nicht voranzukommen
sein. Dabei käme es darauf an, das Eis zum Schmelzen zu bringen, das sich wie
ein Panzer mancherorts vor die Begegnung mit der Geschichte gelegt hat, sofern
diese nicht die Leidensgeschichte der "eigenen" Leute ist.
Daß auf Friedhöfen an Wehrmachtssoldaten erinnert wird, die im Kriege umkamen,
kann mit moralisch vorweisbaren Argumenten nur gutheißen, wer diejenigen nicht
ignoriert, die massenhaft erst aufgrund der militärischen Siege eben dieser
Soldaten aus einem friedfertigen Leben gerissen und denen, wenn nicht das Leben
genommen, so Jahre davon unwiderbringlich gestohlen wurden. Frauen und Männer
aus so vieler Herren Länder waren für Jahre auch "Einwohner" deutscher
Ortschaften, wenn sie auch von deren "Ureinwohnern" als solche nicht behandelt
wurden, wenn auch ihre Behausungen meist Wohnungen nicht genannt werden können,
wenn sie auch mit einem Gebet an einen anderen Gott oder mit einem gegen die
Deutschen gerichteten Fluch gestorben sein mögen. Wo sich das Bewußtsein vom
Leben der Zwangsarbeiter in der Mitte der deutschen Gesellschaft durchsetzt und
ihrer pietätvoll gedacht wird, wäre mehr als ein flüchtiges Zeichen wider die
Nazis unserer Tage und deren Sympathisanten gesetzt.
Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte
des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Fünf Bände. Hg. Waclaw
Dlugoborski / Franciszek Piper. Aus dem Polnischen von Jochen August, Verlag des
Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1999.
Grit Philipp, Kalendarium der Ereignisse im
Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Unter Mitarbeit von Monika Schnell,
Metropol Verlag, Berlin 1999.
Gedenkbuch für die Opfer des
Konzentrationslagers Ravensbrück, Vorläufiger Zwischenbericht.
Berlin/Fürstenberg (Havel) 2000.
Junge Welt,
18.12.2000
haGalil onLine
27-12-2000
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