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Der Präsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland hatte in deutlichen Worten vor einer
weiteren "Zündelei" mit nationalen Parolen gewarnt. Schon vor Spiegels Rede bei
der Berliner
Demonstration am 9. November hatte die Union versucht diese Rede zu
verhindern.
Auf der
Kundgebung am Jahrestag des
NS-Pogroms im November 1938 hatte Paul Spiegel, bezugnehmend auf die
Naziverbrechen der letzten Jahre und Monate, die über 200.000 Teilnehmer
gefragt: "Können Sie sich vorstellen, welche Erinnerungen diese Verbrechen in
uns Juden auslösen, auslösen müssen" und fuhr fort: "...es geht
nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es
geht um dieses Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem
Land. Wollen Sie eines Tages von Glatzköpfen und deren Vordenkern regiert
werden? Das ist die Frage, um die es wirklich geht. Nicht wie viele Ausländer
dieses Land verträgt.
Machen Sie Ihre demokratisch gewählten Politiker mitverantwortlich für das, was
hier geschieht. Was nützt es, in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages
nach den Attentaten auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin in wohlklingenden
Reden den Antisemitimus zu verdammen, wenn einige Politiker am nächsten Tag
Worte wählen, die missverstanden werden können? Wenn sie die Zuwanderungsfrage
heute aus taktischen Gründen zum Wahlkampfthema machen wollen, von so genannten
"nützlichen" und "unnützen" Ausländern faseln."
Er kritisierte
die von Unionsfraktionschef Merz ausgelöste Debatte um eine "deutsche
Leitkultur" scharf: "Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es
etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu
töten? Geht es um Kultur oder um die Wertvorstellungen der
westlich-demokratischen Zivilisation, die wir in unserem Grundgesetz fest
verankert haben? In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: "Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist die Aufgabe staatlicher Gewalt."
Die Würde des Menschen – aller Menschen ist unantastbar, nicht nur die des
mitteleuropäischen Christen!
Wenn dieses Prinzip als deutsche Leitkultur verstanden wird, dann kann ich das
nur befürworten. Dann aber möchte ich alle Politiker in die Pflicht nehmen, sie
auffordern, ihre populistische Sprache zu zügeln und zunächst einmal dafür zu
sorgen, dass dieser Artikel 1 des Grundgesetzes auch umgesetzt und ernst
genommen wird. Politik, Justiz und Polizei sind gefordert, alles – wirklich
alles! – zu unternehmen, um die Würde aller Menschen in diesem Land zu
schützen".
Er rief die
Politiker dazu auf, ihre "populistische Sprache in der Debatte um die
Einwanderungspolitik zu zügeln: "Meine Damen und Herren Politiker:
Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln! Schützen Sie
die Menschen in diesem Land und schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit wir alle
gemeinsam leben können"...
Spiegels Redetext,
der bereits am Donnerstagnachmittag bekannt geworden war, hatte in der Union
schon vor der eigentlichen Kundgebung für Aufregung gesorgt.
CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU), der den Begriff der "deutschen
Leitkultur" zum Thema stilisiert hatte, habe noch kurz vor der Kundgebung
versucht gegen den Text zu intervenieren.
In Reaktion auf die in
der deutschen Öffentlichkeit (leider) ungewöhnlich deutlichen Worte Spiegels,
bezeichnete ausgerechnet CSU-Mann Alois Glück als "polarisierend", und Michael
Glos, Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, warnte in der Welt am Sonntag:
"Jeder, der so völlig überspitzt formuliert, muss sich selbst fragen, ob er
damit nicht seinen eigenen, berechtigten Anliegen eher schadet als nutzt".
CSU-Generalsekretär
Thomas Goppel forderte erneut eine Änderung des Asylrechts. Die CDU-Vorsitzende
Angela Merkel will dem Thema "nationale Identität" weiterhin größte
Aufmerksamkeit sichern. Bei der SPD diagnostiziert sie "ein gestörtes Verhältnis
zum Vaterland", dadurch will sie sich jedoch nicht davon abhalten lassen "über
unser Selbstverständnis als Nation und unser Vaterland" nachzudenken.
Quellen:
Berliner Zeitung, Welt, Magdeburger Volksstimme,
dpa
haGalil onLine
12-11-2000
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