"Das Gedenken darf nicht zur
Routine werden"
Ein
19-jähriger jüdischer Abiturient stand als Redner im Mittelpunkt der
Feier zum 9. November 1938 in der Paulskirche
Am Gedenktag an das Pogrom des
9./10. November 1938 stand bei der Veranstaltung des Magistrats in der
Paulskirche der 19-jährige jüdische Abiturient Tobias Händler als Redner
im Mittelpunkt. "Werde ich zum Opfer werden, eines Tages?", fragte er in
die Zuhörerreihen. Blieb mir das nur erspart, weil man mir nicht
ansieht, dass ich Jude bin?"
Tobias Händler, der vor kurzem im
Lessing-Gymnasium das Abitur gemacht hat, hatte vor einem Jahr die
jährlich wiederkehrende Gedenk-Veranstaltung in der Paulskirche besucht
und noch in derselben Nacht "einen einfühlsamen Brief" an die
Oberbürgermeisterin geschrieben, wie Petra Roth in ihrer Ansprache zuvor
gesagt hatte. Darauf war der junge Mann in diesem Jahr neben Michel
Friedman und dem britischen Historiker Professor Ian Kershaw als Redner
gebeten worden. "Der Gedanke, diese Veranstaltung könne zur Routine
werden, ließ mich nicht los", leitete Tobias seine Ansprache ein.
Allerdings könne "in diesem Jahr von Routine niemand sprechen".
Damit war er auf das Thema
gekommen, das die diesjährige Gedenkstunde beherrschte: "Wie ist es
möglich", fragte OB Petra Roth, "dass in Deutschland wieder jüdische
Friedhöfe geschändet, dass Menschen drangsaliert und ermordet werden?"
Man habe sich zu fragen: "Was haben wir versäumt?"
Michel Friedman,
stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland,
blickte zurück auf die sich nach 1933 von Monat zu Monat steigernde
Judenjagd der Nationalsozialisten und fragte, im Blick auf heute: "Wann
beginnt das Morden?" Beginne es, wenn "menschenhassende Parteien gewählt
werden?" Oder beginne es, wenn "rassistisches Gedankengut im Internet
konsumiert wird?" Friedman erkannte Zeichen dafür, dass "wir uns mit
Gewalt schon wieder abgefunden haben". Er warnte: "Wir haben nur
gemeinsam eine Chance - oder wir werden gemeinsam untergehen." Wenn
"diese Gesellschaft jüdisches Leben nicht will," so Friedman, "werden
nicht nur jüdische Menschen das Land verlassen".
Dem gegenüber klangen die Worte
des Hitler-Biographen Ian Kershaw gelassener. Der Experte von der
University of Sheffield sah das Klima im heutigen Deutschland "anders
als damals". Bei aller Besorgnis: Die Geschichte werde sich nach seiner
Erwartung nicht wiederholen. In der Zeit des Nationalsozialismus sei
"der Rassenhass staatliche Ideologie" gewesen, "von den Massen
toleriert". Heute bestehe in Deutschland "eine gefestigte liberale
Demokratie".
"Es fällt mir in den 19 Jahren
meines Lebens kein Moment ein, in dem ich mich in diesem Land oder der
Stadt unwohl gefühlt hätte", schloss auch Tobias Händler seine Ansprache
versöhnlich. Einst sei er der einzige jüdische Schüler am
Lessing-Gymnasium gewesen. Jetzt würden dort 20 jüdische Schüler
unterrichtet und er habe die Schule mit einem großen Freundeskreis
verlassen. Das Plädoyer des Abiturienten: Die jährlichen
Gedenkveranstaltungen auf eine breitere Basis stellen, mehr Jugendliche
einbeziehen. Denn von denen hätten "manche eine Abneigung gegen das
Thema". clau / top
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Was ist eigentlich ein
integrierter Deutscher?
Zur Debatte
über die "Leitkultur", die Gewährung von Asyl und Zuwanderung sowie die
Integration von Ausländern / Von Dieter Oberndörfer
Auf der Suche nach
Wahlkampfthemen entdecken führende Christdemokraten aus Bayern oder
Berlin erneut das Thema Zuwanderung und Asyl. Da lässt sich kräftig
schüren, denkt sich der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz.
Vor wenigen Tagen erst nahm er
das Wort von der deutschen "Leitkultur" wieder auf, das von seinem
bayerischen Kollegen Günter Beckstein stammt. Der Freiburger
Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer greift mit dem folgenden
(leicht gekürzten) Beitrag, der auf einem Vortragstext bei einer
Veranstaltung von Pro Asyl basiert, in die aktuelle Debatte ein.
1.
Asylrecht im demokratischen
Verfassungsstaat
(. . .) In der Welt der
Nationalstaaten besteht in allen politischen Gemeinschaften ein
politischer Zwang zur Abgrenzung. Zugleich wirken sich in den
demokratischen Verfassungsstaaten bei der Definitionen des "Möglichen",
also auf die Bestimmung der Grenzen für Zuwanderung und Asylgewährung,
auch die nationalen Ideologien ihrer Entstehungsgeschichte aus. So wird
in Deutschland die Liberalisierung der Asylpolitik und von Zuwanderung
nicht zuletzt durch die Überlebenskraft der überlieferten völkischen
Ideologie blockiert. Ihr zufolge muss Deutschland ein Land von Menschen
deutscher Abstammung und deutscher Kultur sein, von dem Fremde und
Fremdes ausgeschlossen bleiben sollen, - eine Vorstellung, die durch die
Privilegierung deutschstämmiger Aussiedler gegenüber fremdvölkischen
Ausländern bei Zuzug und Einbürgerung dokumentiert und indirekt
bekräftigt wurde.
Die in allen demokratischen
Verfassungsstaaten vorhandene Spannung zwischen ihren weltbürgerlichen
Grundrechtspostulaten und ihren Abgrenzungen von anderen Staaten und
deren Menschen findet sich auch im Grundgesetz Deutschlands.
So beginnt das GG in Artikel 1
mit den Sätzen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche
Volk bekennt sich daher zu unverletzlichen und unveräußerlichen
Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des
Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden
Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung
als unmittelbar geltendes Recht". In den folgenden Grundrechtsartikeln 2
bis 5 zu Freiheit der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz, der
Glaubens- und Meinungsfreiheit wird dieser universale Charakter der
Menschenrechte expliziert. So heißt es in Artikel 2: "Jeder hat das
Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. (. . .) jeder hat
das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der
Person ist unverletzlich." Artikel 3 GG führt aus: "Alle Menschen sind
vor dem Gesetz gleich, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, niemand
darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner
Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen
oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."
Artikel 5 billigt die Meinungsfreiheit "jedem" zu. Artikel 6 zum Schutz
der Ehe und Familie bezieht sich nicht nur auf deutsche Familie. So
heißt es: "Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der
Gemeinschaft." Ab Artikel 8 ändert sich dann aber die Sprachregelung.
Nun ist im Widerspruch zu den Artikeln 1 bis 3 in den Artikeln zur
Versammlungs- , Vereinigungs- , Berufsfreiheit und Freizügigkeit nur von
Rechten für "alle Deutschen" die Rede. So sagt Artikel 11 lapidar: "Alle
Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet." Im
maßgeblichen Kommentar zum GG von Maunz-Düring wurde diese unübersehbare
Diskrepanz zwischen den so genannten "Deutschenrechten" und den
allgemeinen Menschenrechten der Artikel 1 bis 3 jahrzehntelang
unkritisch und unreflektiert hingenommen. Dies ist ein Sachverhalt, in
dem sich vielleicht auch der inzwischen bekannt gewordene politische
Horizont des Staatsrechtslehrers Maunz ausdrückte, eines heimlichen
Freundes von Gerhard Frey, dem Herausgeber der "Deutschen
Nationalzeitung".
Die Kluft zwischen
weltbürgerlichen Grundrechtspostulaten und politischer Praxis gibt es in
allen demokratischen Verfassungsstaaten. Sie ist nie ganz zu
überbrücken. In Deutschland ist sie gerade in der Ausländer- und
Asylpolitik mit der Einschränkung oder sogar Nichtbeachtung wesentlicher
Menschenrechte, vor allem aber von den Artikeln 1 bis 3 GG zur
Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt, zur Freiheit der Person und der
Gleichheit vor dem Gesetz, unübersehbar. Diese Kluft sollte jedoch als
normatives Defizit erkannt werden und dazu motivieren, sie so weit wie
möglich abzubauen. Andernfalls verkommen die Grundrechte und ihr
weltbürgerliches Fundament, "die Würde des Menschen", zur bloßen
Rhetorik verlogener politischer Festtagsreden. Trotz der nie ganz
aufhebbaren Widersprüche zur politischen Wirklichkeit muss ihr moralisch
bindender Charakter wahrgenommen werden. Sie verpflichten den Staat und
seine Bürger zur Humanisierung der Politik. (. . .)
Die fatale Wirkung nationaler
Überlieferungen auf das Recht und die Rechtsauslegung demokratischer
Verfassungsstaaten dokumentiert sich in Deutschland nicht nur im zähen
und bislang erfolgreichen politischen Widerstand gegen die
Liberalisierung der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik, sondern
gerade auch im Asylrecht der Rechtsprechung und der Asylgewährungspraxis
der staatlichen Verwaltung. Die Väter des Grundgesetzes hatten mit
Artikel 16 GG - "Politische Flüchtlinge genießen Asylrecht" - einen
individuell einklagbaren Anspruch auf Asyl durch die Verfassung
geschützt. In der Rechtsprechung Deutschlands wurde der Begriff des
politischen Flüchtlings jedoch nur auf Flüchtlinge vor Verfolgung durch
staatliche Behörden eingeschränkt. Diese fugenlose Ineinssetzung des
Politischen mit dem Staat entspricht den antiliberalen Überlieferungen
des kontinentaleuropäischen Rechts. Unter dem Einfluss der
vordemokratischen Fürstenherrschaft - in Deutschland nicht zuletzt auch
in der Tradition der autoritären Staatsmetaphysik Hegels - hatte die
Rechtswissenschaft bei der Unterscheidung von privatem und öffentlichem
Recht vor allem den Staat im Blick. Der Staat und nicht die Bürger und
ihre Rechte sind somit der Inbegriff des Politischen. Lehrer des
öffentlichen Rechts werden daher Staatsrechtler genannt. Sie sind nicht,
wie schon Hermann Heller in der Weimarer Republik gegen die damals
führenden Koryphäen des öffentlichen Rechts gefordert hatte, Lehrer der
Politik, zu der neben dem Staat gerade auch die Bürger und ihre Rechte
gehören. Mit der Fixierung des öffentlichen Rechts auf den Staat konnte
politische Verfolgung logisch immanent nur für Verfolgung durch
staatliche Organe stehen und sich nicht wie in der amerikanischen
Rechtstradition generell auf die Verletzung und den mangelnden Schutz
elementarer Menschenrechte beziehen.
An der restriktiven Definition
politisch legitimer Flucht durch die deutsche Rechtsprechung hat auch
die jüngste, im Ergebnis begrüßenswerte Entscheidung des BVG zum
Asylrecht von Flüchtlingen aus Afghanistan wenig geändert. Das BVG
begründete seine Kritik der bisherigen Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichte mit der These, in Afghanistan hätten sich trotz
fehlender internationaler Anerkennung des afghanischen Staates im
Herrschaftsbereich der Taliban staatsähnliche Organe gebildet. Daher
seien die von den Taliban verfolgten Afghanen im Gegensatz zur
bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte als politische
Flüchtlinge anzuerkennen. Damit bleiben aber auch weiterhin Flüchtlinge
aus Staaten mit Bürgerkriegen, in denen es nicht mehr, wie in einigen
afrikanischen Staaten (z. B. Somalia ) international anerkannte
staatliche oder staatsähnliche Autoritäten gibt, ferner oder oft auch
Flüchtlinge, die wegen ihrer Religion oder Abstammung von ihren
Mitbürgern verfolgt und dagegen von ihren eigenen nationalen
Staatsorganen nicht hinreichend geschützt werden, außerhalb des
Rechtsanspruchs auf Asyl. Innerhalb Europas findet sich die Verkürzung
der Definition des politischen Flüchtlings auf Verfolgte durch
staatliche Instanzen nur noch in der Schweiz und Frankreich. Aber auch
hier folgt die Anerkennung von Asyl weit weniger der mit dem
menschenrechtlichen Fundament des Grundgesetzes absolut unvereinbaren
unmenschlichen Begriffslogik der deutschen Asylverweigerungs- und
Abschiebepraxis. Ermessensspielräume für die Einbringung von
Menschlichkeit bei der Behandlung des Einzelfalles gibt es in ihr kaum.
Sie ist stählern konsequent und duldet keine Ausnahme. Wenn sich, wie in
der deutschen Abschiebepraxis, der Rechtsstaat nur noch an der Logik
seiner selbst gestrickten Begriffssystematik und nicht an der
eigentlichen normativen Prämisse des Rechtsstaates, der Würde des
Menschen, oder einfacher ausgedrückt, an schlichter Menschlichkeit
orientiert, pervertiert er zwangsläufig zum bürokratisch sklerotisierten
Unrechtsstaat
Zuwanderung und Asylgewährung
in Deutschland
In einem Entschließungsantrag des
Ausschusses des Europäischen Parlaments für Grundfreiheiten und innere
Angelegenheiten vom November 1988 heißt es : "Seit einigen Jahren
scheinen die Länder der Union (. . .) alles daran zu setzen, um die
Asylbewerber davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, indem sie
insbesondere die Bedingungen für den Zugang zum Flüchtlingsstatus laut
Definition des Abkommens von Genf verschärfen und immer mehr Abkommen
über die Rücknahme in Länder abschließen, die nicht in jedem Falle als
,sicher' angesehen werden können. Somit kann von einer Verschlechterung
der Asylpolitik in Europa gesprochen werden."
Die Ursachen der hier
beschriebene Entwicklung sind vielfältiger Natur und unterscheiden sich
zum Teil von Land zu Land. Von genereller Bedeutung war in den letzten
Jahren jedoch überall die Stagnation der europäischen Wirtschaft und die
dadurch verstärkte Rivalität zwischen Einheimischen und Ausländern auf
dem Arbeitsmarkt. In Deutschland fallen die wirtschaftlichen und
sozialen Kosten der Vereinigung zusätzlich ins Gewicht. Auf diesem
Hintergrund haben sich im Meinungsklima Deutschlands die Einstellungen
zu Ausländern, Zuwanderung und Asylgewährung seit Mitte der neunziger
Jahre tief greifend verändert. Vor allem nach dem Sieg der Union bei der
hessischen Landtagswahl und der u. E. falschen Analyse, dass dieser
primär durch ihre Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
herbeigeführt worden sei, wurden Forderungen nach einer Liberalisierung
der Zuwanderung oder der Asylpolitik in beiden großen politischen Lagern
zum Tabuthema. Die Führungen der Parteilager standen dabei wohl auch
unter dem Eindruck der politischen Erfolge rechtsradikaler Parteien und
ihrer ausländerfeindlichen Polemik in verschiedenen europäischen
Nachbarstaaten.
Nach der Niederlage der Union bei
den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und den negativen Reaktionen
der Öffentlichkeit und Wähler auf die Wahlkampfparole des
Spitzenkandidaten der Union, Rütgers, "Inder statt Kinder", änderte sich
allerdings in den Unionsparteien ihre bisherige schroffe Ablehnung einer
aktiven Zuwanderungspolitik. Wie zuvor die Sozialdemokraten in der Rolle
der Opposition gegen die Regierung Helmut Kohls, verlangten nunmehr auch
prominente Vertreter der Union eine gesetzlich geregelte
Zuwanderungspolitik. Dabei wurde jedoch von gewichtigen Stimmen ein
Junktim zwischen der Förderung und Regelung von Zuwanderung und der
Abschaffung des Individualrechts auf politisches Asyl gefordert.
Die Bundesrepublik müsse gegen
die Überflutung durch Asylbewerber, die "uns ausnutzen" (Innenminister
Beckstein), geschützt werden. Um Raum für "Zuwanderer zu schaffen, die
uns nützen", müsse der bisherige Schutz des individuellen politischen
Asylrechts aufgehoben werden. Da für die Änderung des Asylartikels im
Grundgesetz die erforderliche Zweidrittelmehrheit des Bundestages nicht
zu erreichen war - auch zahlreiche Abgeordnete der Sozialdemokraten und
der Union hätten mit Sicherheit dagegen gestimmt -, wurde mit diesem
Junktim jedoch de facto eine hohe politische Barriere gegen die
angeblich gewünschte "nützliche" Zuwanderung errichtet. Auch
Innenminister Otto Schily bekannte sich zu diesem Junktim, obwohl er
zuvor selbst in einem Interview des Spiegel eingeräumt hatte,
dass die erforderliche Mehrheit für die Änderung des Grundgesetzes nicht
zu Stande kommen würde. Daraus ergibt sich, dass das Junktim lediglich
taktisch motiviert war. Mit ihm sollten die weitere Zuwanderung und vor
allem ein Zuwanderungsgesetz ohne politische Blessuren in der
Öffentlichkeit und den eigenen Reihen verhindert werden.
Noch in den neunziger Jahren
hatte die Kupierung des politischen Asylrechts durch das Abkommen von
Schengen und den neuen Grundgesetzartikel 16 a eine große nationale
Debatte ausgelöst. Übergriffe auf Ausländer wurden mit
Lichterdemonstrationen von Hundertausenden beantwortet. An
Demonstrationen gegen Morde an Ausländern beteiligen sich heute nur noch
wenige Menschen. "Für die Würde von Kampfhunden demonstrieren heute weit
mehr Menschen als für die Würde des Menschen" (Friedman). Die
Öffentlichkeit hat sich inzwischen trotz aller vollmundigen Aktivitäten
gegen politischen Rechtsradikalismus an die zahlreichen mörderischen
Übergriffe auf Ausländer gewöhnt. Die Volte einiger, die jetzt ein
Verbot der NPD fordern, erinnert an den Ruf "haltet den Dieb". Im Kampf
um die Vorherrschaft an den Stammtischen haben ihre eigenen Beiträge zur
Ausländerfeindlichkeit den jetzt bekämpften politischen Gegner gestärkt.
Die Zustimmung, die die
Vorschläge zur Abschaffung des Rechts auf politisches Asyl jetzt in
Teilen der Unionsparteien und der Regierungskoalition, ja sogar selbst
bei Innenminister Otto Schily fanden, oder die Änderungen im
Meinungsklima, die sich in Umfragen in der Zunahme negativer
Einstellungen zu Ausländern und Asylgewährung abzeichnen, symbolisieren
einen moralischen Tiefpunkt der neuen Berliner Republik. Er
verdeutlicht, dass die Pflichten, die sich aus der menschenrechtlichen
Substanz des Grundgesetzes und aus der neueren deutschen Geschichte
ergeben, heute nicht mehr von jenem breiten politischen Konsens
geschützt werden, der noch in der Zeit der Bonner Republik bestand.
Charakteristisch für die Debatte
zur Aufhebung des Rechts auf politisches Asyl war zudem die gezielte
Desinformation der Öffentlichkeit über die Form und das tatsächliche
Ausmaß der angeblichen Überflutung Deutschlands durch Asylbewerber und
Asylanten. Die meisten Asylbewerber werden ja nach ihrer vorläufigen
Aufnahme in kargen Kasernierungsheimen abgeschoben. Bezogen auf die Zahl
seiner Bevölkerung und die Zahl seiner Asylgewährungen steht Deutschland
in Europa nicht an erster, sondern nur an achter Stelle. In Zahlen
ausgedrückt bedeutet dies eine Anerkennung von 8000 bis 12 000
Flüchtlingen pro Jahr. Für einen wohlhabenden Staat mit 80 Millionen
Einwohnern ist dies keine Ruhmestat.
Mit der Polemik des bayrischen
Innenministers Günter Beckstein und anderer Unionspolitiker gegen
Asylbewerber und Asylanten, "die uns ausnutzen", wurde die bereits
vorhandene Fremdenfeindlichkeit weiter angeheizt. Da hunderttausende
abgelehnter Asylbewerber, die sich der Abschiebung entzogen, ihr Leben
als "Illegale" durch Beschäftigung zu Minilöhnen fristen müssen und
inzwischen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen ein unentbehrliches
Schmiermittel ihrer Profitabilität geworden sind, stellt der Vorwurf des
"Ausnutzens" den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf. Die Illegalen
werden als billige Arbeitskräfte zum Vorteil deutscher Unternehmer,
deutscher Bauherren und letztlich auch der deutschen Volkswirtschaft
"ausgenutzt" und sind in vielen Wirtschaftsbereichen längst zu einem
unersetzlichen Schmiermittel der Profitabilität geworden. (. . .)
Zur Verstärkung der Ängste vor
Ausländern trug auch immer wieder die wiederholte und gezielte
Verbreitung wahrheitswidriger fantastischer Zahlen über den Umfang der
Zuwanderung bei. Nach Innenminister Otto Schily war schon 1998 mit
jährlich 350 000 Zuwanderern die "Grenze der Belastbarkeit erreicht".
Der Minister erwähnte bei diesen Angaben über bloße Einreisen mit keinem
Wort die ihm bekannte, weit höhere Abwanderung und dass z. B. 1998, also
in dem Jahr, auf das er sich bezog, sogar mehr Ausländer ab- als
zugewandert waren. In einem Interview im Spiegel am 12. 1. 2000
unter der Überschrift "Überforderung der Gesellschaft" wurde er vom
bayerischen Innenminister Beckstein sogar noch überboten. Beckstein
erdichtete Zuwanderungen von jährlich 600 000 bis 1,4 Millionen. Auch er
unterschlug dabei, dass nach Abzug der Gruppe der volksdeutschen
Aussiedler schon seit einigen Jahren mehr Ausländer ab- als zugewandert
waren.
Integration der Zuwanderung:
Aneignung und Durchsetzung der Offenheit des demokratischen
Verfassungsstaates für kulturellen Pluralismus - die notwendige Debatte
über das nationale Selbstverständnis
In der Debatte über die
angebliche Flut von Zuwanderern und Asylbewerbern wurde zuletzt der
Nachdruck auf die "Integration" der in Deutschland bereits lebenden
Ausländer gelegt. Vor weiterer Zuwanderung müssten erst sie einmal
integriert werden. Als wichtigste Voraussetzung für die nunmehr
gewünschte Integration wurden hierbei - so auch im neuen
Einbürgerungsrecht - bessere Kenntnisse der deutschen Sprache gefordert.
Sie sind in der Tat für die Teilnahme am politischen Leben und den
beruflichen Erfolg wichtig. Ebenso wie materieller oder beruflicher
Erfolg verbürgen sie jedoch, wie benachbarte deutschsprachige Länder
veranschaulichen, keineswegs eine besonders freundliche Einstellung zu
Deutschland und erst recht nicht politische Identifikation mit dem
deutschen Staat, also staatsbürgerliche Integration. Dies gilt ebenfalls
für die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. Auch sie
erleichtert politische Identifikation und soziale Integration, ist aber
nicht ihre zwangsläufige Folge.
Weit fundamentalere Bedeutung für
die soziale und staatsbürgerliche Integration der Zuwanderer und damit
auch für eine liberale Asylgewährung haben jedoch das Staatsverständnis
der Deutschen selbst und die mit ihm verbundenen Einstellungen zu
Ausländern. Die völkische Nation geht von der Vorstellung einer
homogenen, für alle verbindlich definierbaren und vor Verunreinigung
durch fremde Elemente zu bewahrenden "nationalen" Kultur aus. Solange
sich dieses überlieferte völkische Staatsverständnis in den Köpfen hält,
bleiben Ausländer von der Nation ausgeschlossen. Gefordert sind daher
die geistige und politische Aneignung der Prinzipien des demokratischen
Verfassungsstaates. Dieser versteht sich als Staatsbürgernation. Er
schützt in seiner Verfassung die Freiheit des religiösen Bekenntnisses
und der Weltanschauung - also kulturellen Pluralismus und kulturelle
Toleranz.
Diese Akzeptanz des kulturellen
Pluralismus der Staatsbürgernation und die Absage an die immer nur
fiktiv gewesene kulturelle Homogenität der völkischen Nation sind die
eigentliche geistige Voraussetzung für die Aufnahme von Ausländern und
eine liberale Asylpolitik. Daher sollte die Debatte über das Asylrecht
nicht von der Zuwanderungsdebatte abgekoppelt werden. In beiden Fällen
geht es letztlich um die Einstellung zu Ausländern. Die Absage an
Zuwanderung jetzt sogar in einem sich schon in naher Zukunft wegen des
Geburtendefizits entvölkernden Land gründet letztlich in der Ablehnung
von Ausländern und hilft damit den Gegnern des Asylrechts.
Auf dem Hintergrund des immer
noch völkisch geprägten nationalen Selbstverständnisses der Deutschen
und ihrer daraus erwachsenden Ängste vor Überfremdung "ihrer" Kultur
wird die Forderung nach Integration der Ausländer in die deutsche
Gesellschaft von den meisten als Assimilation an die Deutschen und ihre
kulturellen Überlieferungen verstanden. Damit aber richten sich
Erwartungen an die Ausländer, die auch in klassischen
Einwanderungsländern, wenn überhaupt, meist nur innerhalb mehrerer
Generation erfüllt wurden. Zeitlich kurzfristige Perspektiven und
Postulate für Integration im Sinne einer "Einschmelzung" der Ausländer
in die einheimische Mehrheit verstärken daher die negativen
Einstellungen zu Ausländern und hemmen ihre staatsbürgerliche
Integration.
Und was ist der Bezugspunkt für
die Integration der Ausländer, was ist das spezifisch Deutsche? Was ist
der Inhalt der nunmehr von Minister Günter Beckstein geforderten
christlichen deutschen "Leitkultur", in die sich die Ausländer
integrieren sollen, bevor sie deutsche Staatsbürger werden dürfen? Wer
kann oder darf ihren Inhalt definieren? Der Verfasser wäre glücklich,
wenn seine Vorstellungen über eine christliche Leitkultur und ihre
Konsequenzen für die Asylpolitik Günter Becksteins maßgeblich wären.
Dies ist zu seinem Bedauern nicht der Fall. Wer definiert aber nun die
für alle verbindliche Leitkultur? Es gibt dafür im demokratischen
Verfassungsstaate glücklicherweise keine staatliche Instanz.
Wer die Integration der Ausländer
in die deutsche Kultur fordert, müsste die Frage beantworten können: Was
ist ein integrierter Deutscher? Sind Süd- oder Norddeutsche, Katholiken,
Protestanten, säkularisierte und kirchlich-konfessionell nicht gebundene
Bürger, zum Islam oder Buddhismus konvertierte Deutsche, Akademiker oder
Bauern, Mitglieder der SPD oder der CSU jeweils das Modell für
Integration und den integrierten Deutschen? Die Frage nach dem gut
integrierten Deutschen und nach den Kriterien für Integration ist im
Hinblick auf unsere sich in ihren kulturellen Lebensformen und Stilen
ständig weiter pluralisierende Gesellschaft nicht zu beantworten. Ihre
verbindliche Beantwortung steht zudem im Gegensatz zu der durch das
Grundgesetz geschützten individuellen Freiheit des Kultus, der Freiheit
der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses, dem Fundament des
modernen freiheitlichen Verfassungsstaates. Was die deutsche Kultur für
die Bürger bedeutet und wie sie von ihnen definiert wird, dürfen sie
individuell entscheiden. Auch Deutsche dürfen sich ursprünglich fremden
Religionen und Kulten zuwenden, und diese Freiheit liegt im
wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse der christlich gebundenen
Bevölkerung - d. h. des Schutzes der Freiheit ihres eigenen religiösen
Bekenntnisses gegen Bevormundung durch den Staat oder gesellschaftliche
Gruppen. Die Kultur Deutschlands ist die Kultur seiner Bürger. Und diese
Kultur ihrer Bürger ist nichts Statisches, sie wandelt und pluralisiert
sich. Zu einer wie auch immer von Einzelnen, von Minderheiten oder
Mehrheiten definierten Leitkultur dürfen sie sich bekennen und sie
propagieren. Ihre Verbindlichkeit für die Gesamtheit aber darf im
modernen Verfassungsstaat nicht vom Staat und seinen Organen gefordert
und erzwungen werden. Kulturelle Freiheit muss allen Bürgern - ohne
Ansehung ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung -
gewährt werden. Dies gilt auch für Zuwanderer fremder Herkunft. Nur dann
können sie sich in unseren Staat integrieren und gute Patrioten werden
können.
Die bislang immer noch geringe
Akzeptanz gesellschaftlichen Pluralismus in Deutschland manifestiert
sich auch in der unsinnigen Polemik gegen die Entstehung so genannter
Parallelgesellschaften als Folge von Zuwanderung. Eine bunte und
zunehmende Vielfalt von oft wenig miteinander verbundenen
Parallelgesellschaften oder Lebenswelten ist gerade für moderne
Gesellschaften charakteristisch. Sie gab es im Übrigen auch in den
angeblich homogenen Gesellschaften Europas der Vergangenheit. Arbeiter,
Bauern, Handwerker, Wissenschaftler, Protestanten oder Katholiken, um
nur einige ihrer Parallelgesellschaften zu nennen, hatten parallel zu
den anderen Gruppen der Gesellschaft ihre jeweils eigenen Lebenswelten.
Der republikanische
Verfassungsstaat bleibt immer Programm und ständig neue Aufgabe.
Politische Integration im Sinne der Bejahung der politischen und
rechtlichen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates ist eine von
jeder Generation und auch von allen, welche die formale
Staatsbürgerschaft schon besitzen, stets neu zu bewältigende Aufgabe.
Politische Integration bleibt immer ein Prozess mit hohen Risiken und
möglichen Rückschlägen. Die Voraussetzung für politische Integration
aber ist stets die Akzeptanz von kulturellem gesellschaftlichen
Pluralismus.
Die Bekämpfung rechtsradikaler
Übergriffe auf Ausländer allein durch Polizei, Gerichte und Gesetzgebung
reicht nicht aus, um den Nährboden, in dem sie in der Breite und Tiefe
unserer Gesellschaft verwurzelt sind, auszutrocknen. Notwendig sind
positive Perspektiven: Notwendig sind die Wahrnehmung der möglichen
Bereicherung und Vitalisierung unserer politischen Gemeinschaft durch
Fremde und Fremdes. Diese Perspektive aber setzt die Aneignung des
weltbürgerlichen normativen Fundaments der Staatsbürgernation und die
Akzeptanz des von ihm geschützten kulturellen Pluralismus und
kultureller Toleranz voraus.
Die Bekämpfung rechtsradikalen
Terrors muss zum Signal des Aufbruchs zu einer großen nationalen Debatte
über unser Staatsverständnis und dessen Wertefundament werden. Die
Aneignung der Staatsbürgernation und ihres kulturellen Pluralismus ist
die große Herausforderung für die sich in Zukunft noch weiter
pluralisierende deutsche Gesellschaft. Sie ist auch die geistige
Vorrausetzung für die Überwindung der europäischen Nationalismen und die
politische Einigung eines neuen, nach außen für Zuwanderer und
Flüchtlinge offenen Europa.
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"Juden als Deutsche anerkennen"
Spiegel rügt Ausgrenzung / Baeck-Preis für Friede Springer
Von Katharina Sperber
BERLIN, 2. November. Gegen den
"herablassend-fürsorglichen Begriff des jüdischen Mitbürgers" hat sich
der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland gewehrt.
Dieser Bezeichnung für jüdische
Deutsche liege "häufig eine Befangenheit zugrunde", sagte Paul Spiegel
am Donnerstag in Berlin bei der Verleihung des Leo-Baeck-Preises an die
Verlegerin Friede Springer. "Ich wäre froh, wenn man diese Befangenheit
ablegen könnte und einen Juden ebenso selbstverständlich als Deutschen
anerkennt wie einen Christen."
Es gehöre zu einer angestrebten
Normalität, dass "wir keine jüdischen Mitbürger sind und auch nicht als
solche sprachlich ausgegrenzt sein wollen", erläuterte Spiegel. Die
"Kinder der Täter" sollten die Leiden der Holocaust-Überlebenden und
ihrer Kinder wahrnehmen und in der Kommunikation miteinander
berücksichtigen. Jüdischsein dürfe "nicht auf den Holocaust begrenzt"
werden. Spiegel mahnte, auch wahrzunehmen wie die jüdische Kultur heute
in Deutschland wieder zu existieren beginnt".
Spiegel ehrte Friede Springer für
ihr Engagement im christlich-jüdischen Dialog. Sie habe sich stets für
die Belange der Juden in Deutschland und Israel "nicht nur interessiert,
sondern den Dialog gesucht und beharrlich fortgesetzt" und damit "in
besonderer Weise" das Werk ihres verstorbenen Mannes, des Verlegers Axel
Cäsar Springer fortgesetzt.
Im nächsten Jahr soll der frühere
SPD-Chef Hans-Joachim Vogel den Leo-Baeck-Preis erhalten.
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"Abbrennen lassen
... den Volkszorn laufen lassen"
Der Wendepunkt
in der Politik des Judenhasses: Die Reichspogromnacht und die
Komplizenschaft der deutschen Gesellschaft / Von Joachim Perels
In der Haltung zu den Juden,
schreibt Joachim Perels, zeigt sich, wie barbarisch oder wie human eine
Gesellschaft ist. In seinem Text untersucht der Politikwissenschaftler
von der Universität Hannover das Pogrom von 1938 aus der Perspektive der
Auslöschung des Rechts der Juden - womit das Pogrom die
"rechtszerstörende Logik des späteren Vernichtungsprozesses" bereits
gezeigt habe. Wir dokumentieren den Beitrag von Joachim Perels, der
zuerst in TRIBÜNE, Heft 155, September 2000, 39. Jahrgang, erschienen
ist, im Wortlaut.
1.
Am 10. November 1938 notiert
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der das Pogrom gegen die Juden
in der vergangenen Nacht mit Rückendeckung Hitlers in Gang gesetzt
hatte, in seinem1. Tagebuch: "Die Synagoge brennt . . . Wir lassen nur
so weit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig ist.
Sonst abbrennen lassen . . . Aus dem ganzen Reich laufen nun die
Meldungen ein: 50, dann 75 Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet,
dass 20 000 bis 30 000 Juden sofort zu verhaften sind . . . In Berlin
brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn . . . laufen
lassen."
Einen Tag später heißt es in dem
Tagebuch: "Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 100 Tote. Aber kein
deutsches Eigentum beschädigt."
Die Opfer erleben jene Nacht des
staatlich inszenierten Terrors als grenzenlose Erniedrigung. Der
amerikanische Konsul in Leipzig berichtet: "Nachdem sie Wohnungen
demoliert und den größten Teil des Mobiliars auf die Straße geworfen
hatten, warfen die unersättlich sadistischen Täter viele der zitternden
Bewohner in einen kleinen Bach, der durch den Zoologischen Garten
fließt, und forderten die entsetzten Zuschauer auf, sie anzuspeien, mit
Lehm zu besudeln und sich über ihre Not lustig zu machen . . . Das
geringste Anzeichen von Mitleid rief auf Seiten der Täter einen
regelrechten Zorn hervor."
Und die Frau eines Kölner Arztes
schildert das Ausgeliefertsein der Juden so: "Sie kamen um halb vier in
der Frühe. Diesmal waren es nur fünf Männer in SS-Uniform, zwei in
Zivil. Niemals sonst sind mir menschliche Wesen vorgekommen, die so
aussahen: Ihre Augen waren weit offen, das Haar stand in der Höhe - der
Ausdruck von Männern in Raserei... Um halb neun kamen drei, recht
unauffällig aussehende Männer im Auto bei uns an. Sie waren alle jung,
trugen Regenmäntel und zeigten die Gestapo-Abzeichen vor, die sie unter
ihren Aufschlägen trugen. Nach einem kurzen Verhör in der Eingangsdiele
erklärten sie meinen Mann für verhaftet."
2.
Das Novemberpogrom ist ein
Wendepunkt in der nationalsozialistischen Politik des Judenhasses. Bis
zu dem Pogrom, für das es allerdings schon einzelne lokale Vorläufer im
Jahre 1933 und danach gab, wurden die Aufhebung des Gleichheitssatzes
für Juden, ihre Ausschaltung aus dem öffentlichen Dienst, ihre
bürgerliche und zivilrechtliche Diskriminierung, vor allem durch die
Nürnberger Gesetze, im Wesentlichen in rechts- und justizförmige Formen
gegossen.
Die Linie dieser negativ
berechenbaren Verwandlung von Juden in Bürger zweiter Klasse, die aber
noch nicht außerhalb des ausgrenzenden Gesetzes gestellt wurden - so
bewegt sich die Rechtsprechung des Landgerichts Hamburg zu den
Nürnberger Gesetzen von 1935 zunächst noch in diesem Rahmen - wird mit
dem 9. November 1938 durch das außergesetzlich organisierte und gelenkte
Pogrom ersetzt. Auch wenn es in der politischen Führung - von Himmler,
Göring und Funk - erhebliche Kritik an der überstürzten Inszenierung des
Pogroms wegen der Auswirkungen auf die Öffentlichkeit des Auslands gab,
so war dies lediglich ein taktischer Einwand.
In der Pogromnacht wurden im Kern
jene Instrumentarien ausgebildet, die in dem 1941 beginnenden Prozess
der Vernichtung der Juden ihre eigentliche und grauenvolle Wirksamkeit
entwickelten. Die Juden sind nicht mehr allein Formen systematischer
Diskriminierung ausgesetzt. Sie werden rechtloses und schutzloses Objekt
staatlichen Handelns. Ernst Fraenkel, Sozialdemokrat, bis 1938 noch
geduldeter und diskriminierter jüdischer Anwalt in Berlin, hat in seinem
im amerikanischen Exil 1941 erschienenen "Dual State" für die
Charakterisierung dieses Vorgangs den Begriff des Maßnahmenstaates
geprägt, der die Schranke jeglicher Rechtsposition - vom Recht auf Leben
bis zur körperlichen Integrität - bei der Durchsetzung der Machtziele
der Regierung vollständig beseitigt.
Der Absturz der Juden in die
Rechtlosigkeit nahm unterschiedliche Formen an. Der Justiziar der SS,
Werner Best, der wie andere führende Nazis den in seinen Augen
primitiven, so genannten Radau-Antisemitismus ablehnte, entwickelte im
Zuge des Pogroms kühle Techniken der Entrechtlichung. Er verfügte die
Einweisung von Juden in Konzentrationslager als tatbestandslose, reine
Machtmaßnahme.
In der Verfügung des
Reichsführers SS vom 10. November 1938 heißt es: "Die verhafteten Juden
sind in Staatspolizeigefängnissen unterzubringen. Verhaftungsbefehle
sind nicht notwendig."
Der staatlich angeleitete Angriff
auf die Rechtspositionen der Juden, der in Sachbeschädigungen,
Körperverletzungen und Tötungen zum Ausdruck kam, wurde vom
Justizministerium durch ein internes Schreiben vom 19. November 1938 der
Strafverfolgung
grundsätzlich entzogen. Nur wer eigennützige Motive bei der
Vergewaltigung von jüdischen Frauen, bei Plünderungen verfolgt hatte,
konnte - ohne öffentliches Aufheben - verfolgt werden.
Der zuständige Referent im
Justizministerium, Günther Joel, Verbindungsmann zur SS, legitimierte -
wie dies später in der von Schlegelberger einberufenen Konferenz zur
Absicherung des Anstaltsmords im Frühjahr 1941 geschah - die
Exkulpationslinie der Regierung folgendermaßen: "Der
Reichsjustizminister . . . hat darauf hingewiesen, dass es natürlich
unmöglich sei, diese Sachen in der üblichen justizförmigen Weise
abzuwickeln. Wenn man zunächst die Rechtsordnung von oben her aufhebe,
sei es nicht möglich, dann die an der Ausführung beteiligten Personen
strafrechtlich zu belangen . . . Rechtlich begründet ist das unter
anderem damit, dass den Tätern das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit
gefehlt hat, weil sie ja auf Anordnung gehandelt haben."
Damit waren Tötungen von Juden
ohne jeglichen Rechtsgrund sanktionsfrei gestellt. Gewissermaßen im
Vorgriff auf den Prozess der Massenvernichtung wurde das Recht auf Leben
außer Kraft gesetzt.
Ein Beispiel für viele andere:
Das Verfahren gegen den SA-Führer Adolf-Heinrich Frey, der am 10.
November 1938 die 81-jährige jüdische Witwe Susanne Stern in Eberstadt
mit einer Pistole rechtswidrig tötete, nachdem sie sich weigerte
mitzukommen, wurde am 10. Oktober 1940 auf Grund einer Verfügung des
Justizministeriums eingestellt.
Wie sehr in der
rechtszerstörenden Logik der spätere Vernichtungsprozess bereits
angelegt war, ergibt sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis moralisch
wacher Zeitgenossen. In einem Vortrag Karl Barths, des aus Deutschland
herausgedrängten, in der Schweiz lebenden theoretischen Kopfes der
Bekennenden Kirche, den er wenige Wochen nach der Reichspogromnacht am
5. Dezember 1938 gehalten hat, heißt es: "Was in dieser Sache in
Deutschland jetzt offenkundig beschlossen und schon ins Werk gesetzt
ist, (besteht) in der ,physischen Ausrottung' gerade des Volkes Israel."
Nicht nur die strafrechtlichen
Schutzpositionen werden für die Juden beseitigt, auch das Zivilrecht
wurde ins Gegenteil verkehrt. Die ökonomische Existenz der Opfer wurde
mit den Mitteln des Maßnahmenstaates weitgehend zerstört. Den Juden
durfte der Schaden in Gestalt von Versicherungsleistungen nicht ersetzt
werden. Die Geschädigten mussten, in einer teuflischen Verdopplung des
Angriffs auf ihre materiellen Lebensgrundlagen, die Last des Schadens,
der ihnen zugefügt wurde, auch noch selber tragen.
In einer im Reichsgesetzblatt
veröffentlichten
Verordnung "Über eine Sühneleistung der Juden deutscher
Staatsangehörigkeit" vom 12. November 1938 heißt es: "Den Juden
deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit wird die Zahlung einer
Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich
auferlegt." Etwaige Zahlungen deutscher Versicherungsgesellschaften an
Juden wurden vom Reich konfisziert. Die Entrechtung schlug sich in
vielen kompakten Einzelregelungen gegen die Juden nieder: dem Ausschluss
vom Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Ausstellungen, der
Unterbindung der Berufsausübung von Verlegern, Ärzten, Apothekern,
Rechtsanwälten, des Verbots der Benutzung von Bibliotheken, von Speise-
und Schlafwagen, des Führens von Kraftfahrzeugen und, notabene, des
Haltens von Brieftauben.
Diese Form des Kampfes gegen die
Juden war Ausdruck eines radikalisierten negativen Lernprozesses des
Regimes nach dem 9. November 1938, der nun die Verfolgung der Juden in
Form technisch-bürokratischer Erniedrigungsprozesse verschärfte. Eine
furchtbare Dialektik bildete sich aus. Gerade die "Nachteile" des
Pogroms für die NS-Führung - die negative Öffentlichkeitswirkung vor
allem in den USA - trugen zur Beschleunigung des staatlichen
Generalangriffes auf die Juden bei. Es ist kein Zufall, dass in der
Phase der Verschärfung der Judenverfolgung nach dem Novemberpogrom das
strategische Ziel der Ermordung der Juden in mehreren, zum Teil auch
öffentlichen Äußerungen der politischen Führung als Alternative zur
erzwungenen Auswanderung in den Vordergrund rückt. Im "Schwarzen Korps"
der SS hieß es am 24. November 1938: "Im Stadium einer solchen
Entwicklung (der Lage der Juden) ständen wir daher vor der harten
Notwendigkeit, die jüdische Unterwelt genauso auszurotten, wie wir in
unserem Ordnungsstaat Verbrecher eben auszurotten pflegen: mit Feuer und
Schwert. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des
Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung."
Und Hitler erklärte, noch vor
seiner berüchtigten
Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, am 21. Januar des gleichen Jahres
gegenüber dem tschechischen Außenminister, die Juden würden in
Deutschland vernichtet werden.
Das innerste Motiv der
Entwürdigung und Tötung der Juden wird mit dem Niederbrennen der
Synagogen, dem Zerreißen der Thorarollen, dem Vandalismus in den
jüdischen Gemeinden kenntlich, ohne dass dies den Akteuren bewusst sein
musste. Der Kampf richtet sich gegen die hebräische Bibel, gegen die
Gedankenwelt des Alten Testaments, für die zwei Momente besonders
wichtig sind: die Geltung des Rechts gerade für diejenigen, die an der
unteren Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie stehen, die Witwen,
Waisen und die Fremden.
Die Einforderung des Rechts, wie
wir sie vor allem bei den Propheten als Leitmotiv ihrer
Auseinandersetzung mit den Oberen finden, ist die messianische Hoffnung
auf eine Welt, in der die hierarchisch-brutalen Machtbeziehungen
zwischen den Menschen überwunden sind, in der Frieden und Gerechtigkeit
sich küssen, wie der Psalmist sagt (Ps. 85,11).
Die Zerstörung der Gotteshäuser
der Juden bezieht ihre destruktive Gewalt aus der Negation des
egalitären Rechtsverständnisses des Alten Testaments und dessen
Antizipation einer Welt, die der Unterdrückung und des Hasses nicht mehr
bedarf.
3.
Dass sich der Prozess der
Auslöschung des Rechts der Juden, der in den mobilen Tötungskommandos
und in den Gaskammern auf unfassliche Weise kulminierte, sich in der
deutschen Gesellschaft durchsetzen konnte, hängt damit zusammen, dass
Gegenpositionen zur Verfolgung der Juden - im Unterschied etwa zu
Interventionen einzelner Kirchenvertreter gegen den Anstaltsmord - nur
schwach ausgebildet waren. Nimmt man nur die Bekennende Kirche
einschließlich der lutherischen Landeskirchen, so zeigt sich, dass
wenige Pfarrer - Helmut Gollwitzer in Berlin, Julius von Jan in
Württemberg und einige andere - sich in ihren Predigten nach der
Pogromnacht an die Seite der gepeinigten Juden stellten, dass aber
leitende Vertreter des Protestantismus, so der dienstälteste
Landesbischof, August Marahrens aus Hannover, im Angesicht der vor dem
Landeskirchenamt niedergebrannten Synagoge schwiegen. Als ihn Pfarrer
Karl Immer in einem Brief fragte, warum er zur "Blutschuld vom November
1938" kein Wort sage, blieb er ohne Antwort.
Eine andere, aber doch
ambivalente Reaktion kam vom württembergischen Landesbischof Wurm, der
nach dem Krieg erster Ratsvorsitzender der EKD war und im Krieg
schließlich gegen die Ermordung der Juden protestierte. Wurm schrieb in
einem Brief an Reichsjustizminister Gürtner vom 6. Dezember 1938
angesichts der Pogromnacht von der Notwendigkeit der Einhaltung von
Gottes Geboten und der Wiederherstellung der "Autorität des Gesetzes".
Aber sein Widerspruch gegen die
Ausschreitungen des 9. November richtete sich allein gegen die Mittel
des Kampfes gegen die Juden. Wie in anderen Verlautbarungen
argumentierte er, einst Fraktionsvorsitzender der Deutschnationalen im
württembergischen Landtag, in einem traditionell antisemitischen,
grundsätzlich regimekonformen, "dem Führer und dem Nationalsozialismus"
verpflichteten Bezugsrahmen: "Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat
das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich
habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke
und Adolf Stöcker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf
religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem
Gebiet für zutreffend gehalten."
Indem Bonhoeffers Satz - "Nur wer
für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen" - kaum wirksam
wurde, erfuhr Hitler auch in der von den Deutschen Christen unabhängigen
evangelischen Kirche, obgleich sie für sich den Arierparagrafen ablehnte
und in einem internen, an Hitler adressierten Memorandum den
Antisemitismus kritisierte, doch eine passive, durch Stillhalten
bestimmte, aber auch aktive Unterstützung seiner Politik gegen die Juden
im staatlichen Bereich.
Nach dem Novemberpogrom stellten
sich - als sei nichts geschehen - die Bischöfe der Lutherischen
Landeskirchen Meiser, Marahrens und auch Wurm in einer gemeinsamen
Erklärung vom 31. Mai 1939 uneingeschränkt an die Seite der
judenfeindlichen Politik der Regierung Hitler. Die Bischöfe erklärten:
"Im Bereich des völkischen Lebens ist eine ernste und
verantwortungsbewußte Rassenpolitik zur Reinerhaltung unseres Volkes
erforderlich."
Die Durchsetzung der Politik des
Judenhasses beruhte in starkem Maße auf der Mitwirkungsbereitschaft
jener auf das politische Machtzentrum bezogenen traditionellen Eliten,
nicht nur der Kirchen, sondern vor allem der Bürokratie, die die
judenfeindlichen Normen und ihre Interpretation entwickelten, der
Justiz, die wie das Reichsgericht die Nürnberger Gesetze im
überschießenden Gehorsam noch extensiv interpretierte, und der
Universitäten, in denen die so genannte differenzielle Behandlung von
Juden auf den nationalsozialistischen Begriff gebracht wurde. Ohne die
Verankerung des Antisemitismus in den traditionellen Eliten hätte der
Weg, der schließlich in die Schoah mündete, so nicht beschritten werden
können.
4.
Die Verantwortung für die Untaten
am 9. November 1938 - öffentlicher Abscheu ist im Unterschied zur
Erörterung der Frage gesellschaftlicher Komplizenschaft leicht zu äußern
- trat nach 1945 nur begrenzt in den Blick. In dem vom deutschen
Bundestag beschlossenen ersten Straffreiheitsgesetz von 1949 wurden auch
Körperverletzungsdelikte, die in der Pogromnacht gegenüber den Juden
begangen wurden, der Strafverfolgung entzogen. Dies gehört zu der in der
ersten Regierungserklärung Adenauers vom September 1949 proklamierten
Politik, in der sich kein Wort über die Ermordung der Juden findet.
Die Intervention des bayrischen
Justizministers Josef Müller (CSU) gegen das strafrechtliche Vergessen
der Reichspogromnacht blieb ohne Erfolg. Müller hatte zum politischen
Widerstand gehört und richtete, im Gegensatz zu verbreiteten Stimmungen,
einen schärferen Blick auf das NS-Regime.
Das Straffreiheitsgesetz war der
Beginn einer in der Nachkriegsperiode untergründig wirksam werdenden
Relativierung des antisemitischen Fundaments der NS-Despotie. Hierzu
trug die Justiz nicht wenig bei. Konfrontiert mit der juristischen
Verfolgung des NS-Regimes erklärte sie in den 50er Jahren die Judikatur
auf der Basis der Nürnberger Gesetze für rechtlich unangreifbar. Gustav
Radbruchs Begriff des gesetzlichen Unrechts, das bei der Verletzung des
Gleichheitssatzes, bei der Behandlung von Menschen als Untermenschen
gegeben ist, spielte für die Justiz keine Rolle mehr.
In einer Entscheidung des
Landgerichts Nürnberg von 1968 wurde, als sei das Hitler-Regime
rechtlich nach wie vor existent, das gesamte juristische
Interpretationsarsenal zur Anwendung des Blutschutzgesetzes
revitalisiert, um das Verhalten des jüdischen Kaufmanns Katzenberger
angemessen zu beurteilen. So hieß es kurz und bündig: "Der vollzogene
Geschlechtsverkehr zwischen Herrn Katzenberger als Juden und Frau Seiler
in der Zeit bis Sommer 1938 gestattete die Verurteilung Katzenbergers
wegen eines fortgesetzten Verbrechens der Rassenschande."
Die Reichsgerichtsrechtsprechung und der Kommentar von Stuckart-Globke
wurden über mehrere Seiten ausgebreitet. Die gesamte Kasuistik der
Rassenschandejudikatur wurde herangezogen, um zu dem Ergebnis zu kommen,
dass nicht die Todesstrafe für Katzenberger, wohl aber eine
Zuchthausstrafe "hätte ausgesprochen werden dürfen".
Selbst bei der juristischen
Wertung der systematischen Ausrottung der Juden durch die seit Juni 1941
im Rücken der Wehrmacht im Osten operierenden Einsatzgruppen gibt es,
bei allen Verurteilungen, Formen einer Teilexkulpation, durch die der
aktive Anteil der überwiegend akademischen SS-Kommandeure an der
systematischen Ermordung der Juden - insgesamt etwa 1,5 Millionen
Menschen - in bestimmtem Maße entwirklicht wird: 91,6 Prozent aller
Karriere-SS-Führer, die auf der Basis von Rahmenbefehlen Juden in den
Tod schicken ließen und selber töteten, wurden, obgleich mit einer
umfassenden Entscheidungsgewalt ausgestattet, von der Justiz lediglich
als Gehilfen in einem ihnen äußerlichen und fremden Geschehen, das
allein von der engeren NS-Führung bestimmt worden sei, angesehen.
Diese Auflösung der massenhaften
Identifikation mit den ideologischen Tötungsintentionen des Regimes trug
dazu bei, das Gewicht des Antisemitismus als Antriebskraft im Prozess
der Vernichtung der Juden weitgehend zu verdrängen. Die Entwirklichung
der Bedeutung des Antisemitismus im Nationalsozialismus hängt offenbar
damit zusammen, dass die traditionellen Eliten, die einst im
Reichsjustizministerium, im Reichsgericht, in der militärischen
Kooperation mit den Einsatzgruppen den staatlich verfügten Judenhass
mitgetragen haben, vielfach zum Rückgrat der jungen Bundesrepublik
wurden.
Je mehr der Antisemitismus als
Element der NS-Herrschaft relativiert oder als gesetzespositivistisch
geboten qualifiziert wurde, umso eher konnte man sich von der
Aufarbeitung auch der eigenen Vergangenheit dispensieren.
5.
Die langen Jahre der Verdrängung
sind inzwischen vorbei. Die Wirklichkeit der Etappen und Techniken der
Erniedrigung und Tötung der Juden liegen wissenschaftlich und
publizistisch vor aller Augen. Aber die Ausgrenzungsmechanismen, denen
die Juden, die wenigen Überlebenden und ihre Nachkommen, in diesem Lande
ausgesetzt sind, bestehen, wie nicht nur Umfragen zeigen, in mancher
Beziehung fort. Zwar ist der Antisemitismus als öffentliches Kampfmittel
geächtet. Latent aber existiert er vor allem aber in der
nichtöffentlichen Meinung weiter.
Als Ignatz Bubis Martin Walser
nach seiner Sonntagsrede vom Oktober 1998 des Antisemitismus zieh,
benutzte er sicher einen allzu groben Keil. Ein antisemitisches Ticket
findet sich in jener fatalen Rede nicht, die die Erinnerung an das
größte Schreckensregiment der deutschen Geschichte mit antimoralischen
Kampfvokabeln - wie "grausamen Erinnerungsdienst" (als sei nicht das
Erinnerte grausam) - in Frage stellte. Aber in der direkten
Konfrontation mit Bubis, in dem nach der Sonntagsrede in der FAZ
abgedruckten Gespräch, greift Walser doch auf bestimmte
Stigmatisierungsformen zurück.
Walser wirft Bubis vor, dass er
bei rechtsradikalen, ausländerfeindlichen Vorfällen in Rostock auftauche
und damit diese Vorfälle in den falschen Zusammenhang einer
Revitalisierung des nationalsozialistischen Ungeistes stelle. Das aber
bedeutet, dass - eine klassische Projektion - Bubis als negativer
Mit-Produzent des Rechtsradikalismus dargestellt wird, obgleich dieser
Extremismus mit Bubis nicht das Geringste zu tun hat, sondern von ihm
gerade attackiert wird. Die falschen Zurechnungen schrecken. Wie fern
ist die Vergangenheit, wenn ein Schriftsteller von Rang einen
Überlebenden der Schoah, dessen Vater in Treblinka ermordet wurde, dafür
kritisiert, dass er, seine Biografie im Rücken, gegen den
Rechtsradikalismus interveniert? In der Haltung zu den Juden zeigt sich,
wie barbarisch oder wie human eine Gesellschaft ist. Die Erinnerung an
das Regime des Grauens muss stets neu erkämpft werden - auch gegen jene
inadäquate Lockerheit, mit der Bundeskanzler Schröder zuweilen auf die
Vergangenheit, etwa mit dem vormoralischen Postulat, die
Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft solle "ohne pädagogischen
Zeigefinger geschehen" , zu sprechen kommt. (Inzwischen findet Schröder
in Äußerungen zur nur begrenzt ausgleichenden Entschädigung von
Zwangsarbeitern einen anderen, sachgemäßeren Ton.)
Die kritische Erinnerung kann als
Wall gegen nationalistische Anwandlungen wirken. Sie liefert humane,
zumal rechtliche Maßstäbe für das politische und gesellschaftliche
Handeln in unserem Land.
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Masel tow
Beim
Jiddisch-Weltkongress
Von Karl-Otto Sattler
Auch als "Denkmal für die Opfer
des Holocaust" ist das Gesamtlexikon der jiddischen Sprache konzipiert,
wie Professor Wolf Moskovitz von der hebräischen Universität Jerusalem
in Straßburg bei einem Kolloquium im Rahmen des ersten
Jiddisch-Weltkongresses sagte. In dieses Werk sollen auch seltene und in
entlegenen ländlichen Regionen Osteuropas benutzte Dialekt-Begriffe
aufgenommen werden, die mit den von den Nazis ermordeten Juden zum Teil
aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwunden sind.
Moskovitz rief die an dem
ambitionierten Projekt beteiligten Forscher auf, das Wissen der letzten
noch lebenden Zeitzeugen aus dem osteuropäischen Shtetl-Milieu für den
Aufbau dieses Lexikons zu nutzen. Er appellierte an internationale
Institutionen wie den Europarat und auch an die israelische Regierung,
dieses vor einigen Jahren von amerikanischen und israelischen
Wissenschaftlern gestartete und inzwischen von Jerusalem aus betriebene
Vorhaben finanziell zu unterstützen. Bislang fließen nur begrenzte
Mittel aus privaten Fonds.
Laut Moskovitz sind bislang 80
000 der avisierten 250 000 Worteinträge erfolgt. Das
französisch-jiddische Lexikon stellt das momentan einzige
Jiddisch-Wörterbuch dar und markiert eines der wichtigsten Projekte bei
der Renaissance des Jiddischen. Diese als Mischung aus deutschen,
slawischen, hebräischen und aramäischen Elementen über Jahrhunderte vor
allem bei den osteuropäischen Juden gewachsene Sprache praktizierten bis
zum Zweiten Weltkrieg 90 Prozent der zehn Millionen auf dem Kontinent
lebenden Juden. Die Nazis vernichteten bei ihren Massenverbrechen mit
den ermordeten Juden auch große Teile der jiddischen Sprache und Kultur.
Heute sind rund um den Erdball noch ein bis zwei Millionen Menschen des
Jiddischen mehr oder weniger mächtig.
In einer Botschaft des
staatlichen israelischen Jiddisch-Instituts heißt es, die 40000
Veröffentlichungen in dieser Sprache machten den größten Teil des
gesamten jüdischen Literaturerbes aus. Die in jüngerer Zeit europaweit
an Universitäten, in Medien, bei Musikschaffenden, bei Theatern und in
Russland auch bei Schriftstellern zu beobachtende Renaissance des
Jiddischen will der Europarat in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund
seines Einsatzes für die kulturelle Vielfalt engagiert fördern.
Der von dem Staatenbund und der
Stadt Straßburg getragene Jiddisch-Weltkongress, der von zahlreichen
Konzerten und Theaterstücken umrahmt wird, ist das Resultat mehrjähriger
Vorarbeiten. 2003 soll in Straßburg ein europäisches Jiddisch-Zentrum
eröffnet werden, das die Bemühungen zum Erhalt und zur erneuten
Verbreitung dieser Sprache auf dem ganzen Kontinent vernetzen soll.
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Araber und Juden studieren
gemeinsam
Auch dank
Unterstützung des Fördervereins Beit Berl
Von Sabine Krischke
Der Wiesbadener Förderverein
Beit Berl unterstützt seit zehn Jahren das gemeinsame Studium arabischer
und jüdischer Studierenden an einem israelischen College. Der Abbruch
des Friedensprozesses im Nahen Osten schadete der integrativen Arbeit
bislang nicht.
WIESBADEN. Die Erleichterung war
groß, als Gad Arnsberg, Dozent am israelischen College Beit Berl, vor
einigen Tagen in Wiesbaden weilte und die frohe Botschaft überbrachte:
Die arabische Bevölkerung habe in Briefen an das College betont, dass
sie trotz der aktuellen Situation an der integrativen Arbeit festhalten
wolle. "Das war die große Frage, die zum Semesterbeginn im Herbst alle
beschäftigte", sagt Hartmut Boger, Vorstandsmitglied des Fördervereins
Beit Berl und Direktor der Volkshochschule Wiesbaden, die wiederum
Mitglied im Verein ist.
Dass die arabischen Studenten,
deren Familien sowie Dozenten der Hochschule nun ein positives Signal
gaben, "darf als Erfolg der jahrzehntelangen multikulturellen Arbeit des
College gewertet werden".
Die pädagogische Hochschule, 30
Kilometer nordöstlich von Tel Aviv in der Sharonebene gelegen, bildet
seit mehr als 40 Jahren Lehrer für die Grund- und Mittelstufe aus - und
zwar sowohl für jüdische als auch für arabische Schulen. Beit Berl ist
nach den Worten Bogers das einzige integrative College Israels mit einem
arabischen Lehrerseminar. 6000 Frauen und Männer studieren derzeit an
der Hochschule, davon 22 Prozent Araber.
Die Stadt Wiesbaden ist dem
College bereits seit 27 Jahren freundschaftlich verbunden. Begonnen
hatte die Partnerschaft mit einem Schüleraustausch, den das Jugendamt
organisierte. Die zahlreichen Kontakte und Begegnungen mündeten
schließlich vor zehn Jahren in der Gründung des Fördervereins Beit Berl,
den politisch aktive Wiesbadener ins Leben riefen.
Ziel des Vereins ist zum einen,
die Begegnung zwischen jüdischen und arabischen Studenten an dem
israelischen College finanziell zu unterstützen und damit einen Beitrag
zum friedlichen Zusammenleben der israelischen Gesellschaft zu leisten,
zum anderen, den deutsch-jüdischen Dialog zu fördern. So vergibt der
Verein jährlich an rund 90 israelische Beit Berl-Studenten Stipendien -
die eine Hälfte davon seien Araber, die andere Juden. Voraussetzung ist,
dass die jungen Männer und Frauen für ein multikulturelles Israel
eintreten und aus unterpriviligierten Familien kommen.
Mit Spendengelder des Wiesbadener
Vereins - insgesamt rund zwei Millionen Mark seit der Gründung -
realisierte die staatliche Hochschule zudem teilweise den Bau eines
Studienzentrums mit Bibliothek, das 1995 eröffnet wurde. Der Neubau ist
Lern- und Begegnungsstätte zugleich.
Der Förderverein Beit Berl
unterstützt aber auch den Studentenaustausch zwischen der Fachhochschule
Wiesbaden und dem israelischen College und organisiert in der
Landeshauptstadt zahlreiche Veranstaltungen, Lesungen oder
Diskussionsrunden mit renommierten israelischen Schriftstellern wie Amos
Oz und Yoram Kaniuk, mit Künstlern oder Politikern. Den Kontakt und
Dialog zwischen Deutschen und Juden zu fördern, ist schließlich das
zweite wichtige Vereinsziel: "Unser Motto lautet ,Verständigung braucht
Begegnung', ob zwischen Deutschen und Juden in der Bundesrepublik oder
Juden und Arabern in Israel", sagt Boger.
Größter Spendengeber ist mit
70000 Mark jährlich das Land Nordrhein-Westfalen. "Johannes Rau
unterstützte uns von Anfang an und Wolfgang Clement führt das fort", so
die Geschäftsführerin des Fördervereins, Jutta Mac Connell. Auch
Rheinland-Pfalz spende jedes Jahr 20000 Mark. Das Land Hessen beteilige
sich allerdings seit dem Regierungswechsel nicht mehr mit barer Münze an
der Stipendienfinanzierung.
50 Mitglieder zählt der
Förderverein Beit Berl derzeit, darunter sind zahlreiche Prominente wie
Finanzminister Hans Eichel, Bundesbankpräsident Ernst Welteke oder
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. "Unser Sitz ist zwar
Wiesbaden, aber die Mitglieder kommen aus ganz Deutschland", so Connell.
Informationen zum Förderverein
Beit Berl gibt es bei der Volkshochschule Wiesbaden, Tel. 0611/9889111,
oder im Internet: www.beit-berl.de.
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