Die Israelis stellen sich blind und taub
ISRAEL UND PALÄSTINA:
VERZERRTE WAHRNEHMUNGEN
Die israelische
Öffentlichkeit reagiert auf die blutigen Konflikte
der jüngsten Zeit mit einer Stimmung, die sich im Wunsch nach
einer Koalition unter Einschluss der friedensfeindlichen Kräfte
widerspiegelt. Diese Stimmung wird durch die Berichterstattung der
Medien genährt. Die aber halten sich unkritisch an die
Informationen der Armee, die ungenau, lückenhaft oder schlicht
unwahr sind.
Von AMIRA HASS
Korrespondentin der Tageszeitung Haaretz für die besetzten palästinensischen
Gebiete; Autorin von "Drinking
the Sea at Gaza", Henry Holt, N. Y. 1999.
Seit Beginn der "Al-Aksa-Intifada" stützen sich die israelischen Medien auf
die Verlautbarungen von Armee- und Regierungssprechern. Doch diese
Informationen, die üblicherweise zuverlässig und präzise sind, strotzen
nunmehr von Ungenauigkeiten, Unwahrheiten und Lücken.
Zum Beispiel gab man den Journalisten zu verstehen, das Übermaß an Gewalt
bei der Auflösung der Demonstrationen sei notwendig und gerechtfertigt
gewesen, weil israelische Soldaten und Zivilisten gefährdet gewesen seien:
Angeblich hätten aufgebrachte Jugendliche am 29. September während des
Freitagsgebets in der Al-Aksa-Moschee jüdische Gläubige, die an der
Klagemauer beteten, mit Steinen beworfen.
Dagegen hat die israelische Menschenrechtsorganisation Betselem einen Bericht
veröffentlicht, der die Darstellung der palästinensischen Augenzeugen
bestätigt: Die Steine galten zunächst dem Großaufgebot israelischer
Polizisten, deren Anwesenheit auf dem Platz vor der Moschee eine Provokation
darstellte. Überdies setzten die Ordnungskräfte gegen die Steinewerfer kein
Tränengas ein, sondern von Anfang an Gummigeschosse, die auf geringe
Entfernung tödlich sein können und es auch waren. Das auf diesem heiligen
muslimischen Boden vergossene Blut löste im ganzen Land eine Welle der
Empörung aus. Der Tod mehrerer junger Palästinenser hat das Feuer weiter
geschürt.
Bis zum 20. Oktober gab es bei den Palästinensern in den besetzten Gebieten
115 Tote und 4 500 Verletzte, dazu kommen weitere zwölf Tote und 1 650
Verletzte in Israel selbst. Auf israelischer Seite gab es acht Tote. Um die
Umstände jedes einzelnen Dramas aufzuklären, müssten sich Dutzende
Untersuchungskommissionen von Betselem an die Arbeit machen. Freilich
stimmen sämtliche Zeugenaussagen darin überein, dass die israelische Armee
auf den Einsatz von Tränengas weitgehend verzichtet hat, obwohl dieses
Mittel bekanntermaßen höchst wirksam ist, um Menschenmassen ohne
Blutvergießen auseinanderzutreiben. Vielmehr hat das Militär regelmäßig
Scharfschützen eingesetzt, die auf die Demonstranten zielten, und zwar auf
deren Oberkörper: Die Zahl der Toten und Verwundeten, die in den ersten
Tagen der Zusammenstöße oberhalb der Hüfte getroffen wurden, liegt nach
Angaben aus palästinensischen Krankenhäusern bei 70 Prozent.
Die meisten israelischen Medien haben die Interpretation übernommen, die
Soldaten hätten nur in für sie lebensgefährlichen Situationen von ihren
Waffen Gebrauch gemacht. Erst als Kamera-Aufnahmen die gezielten Schüsse
dokumentierten und der Beweis erbracht war, dass die offizielle Version
nicht zutrifft, räumte die Armee einige "bedauerliche Irrtümer" ein. Die
einzig plausible Erklärung lautet: Das israelische Militär muss den
Schießbefehl gegeben haben, um auf diese Weise die Unruhen zu beenden - und
erreichte damit das Gegenteil.
Am 6. Oktober erklärte der Armeesprecher, Soldaten auf einem vorgeschobenen
Posten in der israelischen Siedlung Netzarim (Gaza) hätten zweimal auf
Palästinenser geschossen, nachdem diese das Feuer eröffnet hatten. An diesem
6. Oktober wurden an der besagten Stelle vier Palästinenser getötet und
vierundzwanzig verletzt. Ich selbst war am Ort des Geschehens und weiß, was
der Armeesprecher verschweigt: dass Dutzende von Schüssen fielen und auch
direkt aus der Siedlung mehrfach ganze Gewehrsalven abgegeben wurden. Ebenso
unerwähnt ließ die Armee, dass Soldaten, die auf entfernteren Wachtürmen
postiert waren, mit Maschinengewehren auf Tausende unbewaffnete
Demonstranten gefeuert haben. Das Ziel der Aktion liegt auf der Hand: Die
gegen die israelische Besetzung demonstrierenden Jugendlichen sollten von
dem befestigten Vorposten möglichst fern gehalten werden. In diesem Fall
handelte es sich gewiss nicht darum, dass die Soldaten ihr Leben verteidigen
mussten.
Die Armeesprecher haben kaum einen Schuss von palästinensischer Seite
unerwähnt gelassen. Zwei Dinge jedoch blieben den israelischen Medien
verborgen. Zum einen eröffneten die bewaffneten Palästinenser im Allgemeinen
nur dann das Feuer, wenn Scharfschützen gezielte Todesschüsse auf die Menge
abgegeben haben. Und zum anderen gingen die Schüsse der Palästinenser nur
allzu oft ins Leere. Belegt wird dies durch die Zahl der Opfer auf beiden
Seiten. Die palästinensischen Sicherheitskräfte haben im Übrigen ihr
Bedauern über den Schusswaffeneinsatz geäußert und erklärt, es sei
hauptsächlich "in die Sonne" geschossen worden.
Indem die israelischen Medien detailliert über diese Zusammenstöße berichtet
und dabei von "schwerem Beschuss" der Vorposten gesprochen haben,
verstärkten sie in der Öffentlichkeit natürlich den Eindruck, Israel sei in
einen kriegerischen Konflikt verwickelt, gegen eine palästinensische Armee,
die ihrer eigenen gleichsam ebenbürtig sei.
Unter Berufung auf Informationen der Armee behauptete der israelische Rundfunk
zudem, palästinensische Krankenwagen hätten "Autoreifen und Munition" zu den
Orten gebracht, an denen es zu Zusammenstößen kam - als ob die Palästinenser
zu solchen Zwecken nicht genauso gut Privatautos benutzen könnten.
Schließlich sind, wo immer die Gewalt eskaliert, auch Vertreter des Roten
Kreuzes zur Stelle und kontrollieren die Nutzung der Krankenfahrzeuge. Diese
gezielte Falschmeldung sollte lediglich die empörenden Angriffe der
israelischen Streitkräfte gegen palästinensische Krankenwagen und die
Ermordung eines Fahrers rechtfertigen.
Im israelischen Radio und Fernsehen, aber auch in den Zeitungen (mit Ausnahme
von Haaretz) werden die Namen der palästinensischen Opfer nicht genannt:
Deren Anonymität schützt die jüdische Öffentlichkeit davor, den Schmerz und
die Empörung der Angehörigen wahrzunehmen. Auf diese Weise ließen sich die
Ereignisse leichter als Ergebnis eines von der palästinensischen
Autonomiebehörde initiierten Komplotts präsentieren. Dabei fürchtet der
Palästinenserchef in Wahrheit doch jede Unruhe und jeden größeren
Zusammenstoß. Denn er weiß sehr wohl, dass sich der Aufruhr irgendwann auch
gegen ihn und seinen autoritären Führungsstil wenden könnte, da er es ja
auch nicht geschafft hat, sein Versprechen eines unabhängigen
palästinensischen Staates einzulösen.
Die Falschinformationen im Zusammenhang mit den jüngsten Zusammenstößen sind
nur die Zuspitzung einer verzerrten Darstellung des in Oslo vereinbarten
Friedensprozesses, die bereits sieben Jahre andauert. So sind die Israelis
ganz allgemein blind und taub geblieben gegenüber den Klagen der
Palästinenser, denen die endlos verschleppten Friedensverhandlungen weder
ein gerechtes Abkommen noch ein menschenwürdiges Leben eingebracht haben.
Während zugleich für die Bewohner der Palästinensergebiete die Auswirkungen
der Osloer Verträge unübersehbar sind: Sie leben eingesperrt in Dutzenden
von Käfigen, die Kolonisierung der besetzten Gebiete wurde verstärkt, und
die wirtschaftliche Entwicklung ist an die Bedingung geknüpft, dass sich die
palästinensische Autonomiebehörde einem neuen Typ von israelischer Kontrolle
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haGalil onLine
13-11-2000
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