Hat der israelische
Oppositionsführer Ariel Sharon mit seinem Besuch auf dem Jerusalemer
„Tempelberg“ die Katastrophe ausgelöst? Gewiss. Er wollte die Moslems
provozieren und gleichzeitig die arabischen Abgeordneten im israelischen
Parlament, die gegen den Besuch demonstrierten, als „Staatsfeinde“
diskreditieren.
Die Provokation war erfolgreich: Die Region explodierte, und innerhalb
der israelischen Gesellschaft begann der arabisch-jüdische Bürgerkrieg.
Doch sieht sich der Historiker veranlasst, zwischen Provokation und
Ursache zu unterscheiden: Die Ursachen, die Wurzeln dieser Eruption
liegen tiefer.
Die Erfahrung seit dem
Jom-Kippur-Krieg beweist: Erst wenn die Araber Gewalt anwendeten, war
Israel bereit, Kompromisse einzugehen, die eigentlich auch vorher die
logische Schlussfolgerung aus der politischen Lage hätten sein müssen.
Erst nach dem Jom-Kippur-Krieg hat Israel den Sinai evakuiert. Erst nach
der Intifada hat man mit der PLO Verhandlungen aufgenommen und in Oslo
ein Abkommen unterzeichnet. Erst nach dem Golfkrieg zeigte sich die
Regierung des Hardliners Shamir bereit, an der Friedenskonferenz in
Madrid teilzunehmen. Erst nach einem langen Kampf gegen die
Hisbollah-Terroristen hat sich Israel aus dem Südlibanon zurückgezogen.
Wieso, fragt man sich, konnte man nicht früher, ohne Blutvergießen und
Gesichtsverlust, zum selben Ergebnis kommen?
Sicher: Auf der arabischen Seite
war man oft stur und unklug, aber das allein ist weder Erklärung noch
Entschuldigung für die wiederholte Erfahrung der Gewalt (beziehungsweise
Niederlage) als Einleitung zu Verhandlungen, Kompromissen, Frieden.
Damit stellte sich spätestens seit Ende Juli die große Frage: Wieso
rannte man offenen Auges in die nächste Katastrophe? Sah man nicht, dass
der lange Stillstand in den Friedensverhandlungen bei den Palästinensern
eine Frustration erzeugen musste, die früher oder später explodieren
würde?
Am Anfang war die Erbsünde
Nun ist es passiert. Nicht wegen
der umstrittenen jüdischen Siedlung Har Homa bei Jerusalem, nicht wegen
der alltäglichen Präsenz der israelischen Besatzung im palästinensischen
Leben, nicht einmal wegen der Ausdehnung der jüdischen Siedlungen in der
Westbank, sondern wegen der Al-Aksa-Moschee, wegen eines besonders
wirkungsvollen religiösen Symbols. Da wundert man sich auch, weshalb
eine Provokation, die aus dem rechten Flügel der israelischen Politik
kommt, eine so heftige Reaktion gegen die angeblich linke Regierung Ehud
Baraks hervorgerufen hat. War nicht gerade diese Regierung
kompromissbereiter als jede Regierung zuvor?
Die Antwort liegt in der
Diskrepanz zwischen den Plänen Baraks, den damit verbundenen Hoffnungen
der Palästinenser und israelischen Araber – und den Taten von Baraks
Regierung. Sein Wahlsieg 1999 war im Endeffekt nicht mehr als eine
optische Täuschung: Netanjahu hatte nach und nach sein Image als
„Magier“ verloren und erlitt so bei der Wahl eine klare Niederlage. Doch
die rechten Parteien haben ihre parlamentarische Mehrheit behalten
können: Die drei religiösen Parteien, die zur Netanjahu-Koalition
gehörten, schufen mit der zwar dezimierten Likud-Partei, der
rechtsradikalen „Nationalen Einheit“ und der Partei der russischen
Einwanderer eine Mehrheit von 58 der insgesamt 111 „jüdischen Sitze“ in
der Knesset. Die übrigen neun Sitze der arabischen Abgeordneten gelten
in Israel, das sich immer mehr als „jüdischer Staat“ versteht, sowieso
als Exklave. Das Ergebnis: Baraks Koalition bestand etwa zur Hälfte aus
Parteien und Abgeordneten der israelischen Rechten. Der Wahlsieg war ein
Pyrrhussieg.
Kein Wunder, dass das Hauptziel
von Barak und der angeblich siegreichen israelischen Linken, die
energische Fortsetzung des Friedensprozesses, keine Chance hatte. Die
rechten Parteien und Abgeordneten waren so lange in der Koalition
geblieben, als sie Ministerposten besetzen konnten, ohne auf Land
zugunsten der Palästinenser oder der Syrer zu verzichten. Als man am
Ende doch Entscheidungen treffen musste, die wegen des Osloer Vertrags
unumgänglich waren, schieden sie aus der Koalition aus. Baraks Regierung
wurde zur Minderheitsregierung, die im Parlament nichts mehr durchsetzen
konnte.
Als sich Israel etwa aus dem Dorf
Abu Dis, nur 200 Meter von der Jerusalemer Altstadt, zurückziehen
sollte, führten Tumulte am Gedenktag der „Nakba“, der arabischen
Katastrophe von 1948, zu einem Aufschrei der rechten Parteien, was
wiederum Barak dazu veranlasste, die Übergabe des Dorfs an die
palästinensische Autonomiebehörde auf unbestimmte Zeit zu verschieben.
Wohlgemerkt: In Abu Dis steht längst das Parlamentsgebäude der
Palästinenser bereit.
Stillstand, das war the name
of the game, und als nach Camp David weder Israel noch die USA die
Dringlichkeit einer Vorwärtsbewegung erkannten, reichte die Provokation
Sharons aus, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Und es war kein Zufall
und für Sharon keineswegs eine Überraschung, dass ausgerechnet ein
religiöses Symbol die Massen so effektiv mobilisieren konnte: Im
Zeitalter der postmodernen Verzweiflung, die so viele Menschen „zurück“
zur Religion führt, ist im stark fundamentalisierten Nahen Osten eine
Überreaktion auf religiöse Symbole die Regel geworden, und zwar auf
beiden Seiten – bei Juden wie bei Moslems. „Heilige“ Stätten stehen nun
im Mittelpunkt der Ausschreitungen. Das Josefsgrab in Nablus: Synagoge
oder Moschee? Juden verbrennen nun Moscheen, Moslems verbrennen
Synagogen. Und weil die nationale Konfrontation in einen Religionskrieg
aufging, schwappt dieser Krieg auch ins Ausland über: In Deutschland und
anderswo setzen Araber und Rechtsradikale eine anti-israelische Kampagne
in anti-jüdische Ausschreitungen um, ohne zu erkennen, dass damit der
arabisch-israelische Konflikt eine alt-neue Qualität erhält.
So schließt sich der Kreis. Diese
auch im Ausland stattfindende Auseinandersetzung demonstriert die
prinzipielle Schwäche der zionistischen Ideologie: Der Zionismus konnte,
all seiner Illusionen zum Trotz, das Problem des Antisemitismus nicht
durch die Schaffung eines Judenstaates lösen. Mehr noch: Er erwies sich
als Last statt als Lösung für Juden der Diaspora, auch dort, wo sie mit
dem nationalen Judentum, mit dem Zionismus keine gemeinsame Sache
machen. Und das bringt uns zur Kernfrage, zur Frage nach der tieferen
Ursache der heutigen Lage zurück: Am Anfang der Kette findet man weder
Sharon noch Barak, weder die religiösen Parteien noch den „Kalten
Krieg“, weder Oslo noch die Gründung des Staates Israel, die alle die
Lawine in Schwung gebracht haben. Am Anfang steht die „Erbsünde“
Europas: Die gescheiterte Emanzipation und Integration der Juden. Lange
bevor das Dritte Reich die Gleichberechtigung der Juden rückgängig
machte, hatte sich die nationaljüdische Lösung der so genannten
„Judenfrage“ zu Wort melden können, als Ersatz für die gescheiterte
Emanzipation. Die anti-emanzipatorische europäische Grundhaltung brachte
Zionisten dazu, nicht nur nach Palästina auszuwandern, sondern dorthin
auch nationalistische, völkische, ja rassistische Einstellungen aus
Europa mitzunehmen.
Die europäische Geschichte der
Neuzeit hat auch dazu beigetragen, dass für Juden, für Zionisten, die
Wehrlosigkeit zur schlimmsten Trauma wurde – was in Israel in eine
Mischung aus Paranoia und Schießfreudigkeit übersetzt wurde. Vor allem
die israelische Rechte, die nun Dank der unheiligen Allianz
Sharon-Arafat Hochkonjunktur erlebt, hat, wie so viele Elemente des
Konflikts, ihre Wurzeln in europäischen Nationalismus.
Zur Lösung der
Israel-Palästina-Frage kann aber Europa kaum etwas beitragen. Eher
umgekehrt: Die antisemitischen Vorfälle der letzten Zeit, besonders in
Verbindung mit den Ereignissen im Nahost, weisen auf einer
„Rückwanderung“ der „Judenfrage“ nach Europa. Wenn man dazu in Betracht
zieht, dass die Aufwertung Jerusalems im Islam – eine wichtige Quelle
der heutigen Unruhen – eine Folge der Kreuzzüge war und dass der
jüdische wie der arabische Nationalismus das Europa des 19. Jahrhunderts
als Vorbild benutzten: Dann relativiert sich das Bild Europas als Quelle
der Zivilisation und Kultur.