Der zunehmende
religiöse Fundamentalismus macht auch vor der jüdischen Community
nicht Halt.
Das vor knapp einem
Jahr mit großem politischem Brimborium eröffnete jüdische Lehrhaus
der "Lauder Foundation" in der Rykestraße im Prenzlauer Berg wird ab
Donnerstag einen Intensivkurs für zehn junge jüdische Männer
beginnen, die wie in einem Internat zusammen leben und ein Jahr rund
um die Uhr ihr religiöses Wissen vertiefen werden. Dreimal am Tag
werden sie zusammen beten - nur einer wird nicht aus der Schrift
vorlesen dürfen: der Berliner Jonathan M. Und das, obwohl er so
etwas wie der junge Vorzeigejude der Bundesrepublik ist.
Der 19-jährige
Berliner kommt aus einer traditionell religiösen Familie, die die
jüdische Gemeinde der Stadt nach dem Krieg mitbegründet hat und eine
der Stützen der Gemeinde darstellt. Er wurde, was einmalig in
Deutschland sein dürfte, seit Kindesbeinen nur an jüdischen
Institutionen erzogen und ausgebildet: vom Kindergarten bis zur
Jüdischen Oberschule in der Großen Hamburger Straße, wo er dem
ersten Abijahrgang angehört.
Die Abifeier im Sommer
geriet sogar zum politischen Ereignis, die Festrede hielt
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Doch obwohl Jonathan sehr
gläubig ist, regelmäßig in die orthodoxe Synagoge geht und in
"Religionslehre" in den vergangenen Jahren stets Bestnoten hatte,
zweifelt Rabbiner Joshua Spinner aus dem "Lehrhaus", ob er wirklich
ein vollwertiger Jude ist.
Die Begründung
Spinners: Jonathans Großmutter mütterlicherseits sei bloß vor einem
liberalen Rabbiner zum Judentum übergetreten. Deshalb hat Spinner
Bedenken, ob Jonathan nach den halachischen, nach den religiösen
Gesetzen wirklich Jude sei.
Die sehen vor, dass
Jude nur ist, wer eine jüdische Mutter hat. Rabbiner Spinner reicht
selbst das nicht: er will nur orthodoxe Juden um sich scharen. Nach
den Informationen des Leiters der Lehrhauses, Joel Levy, dürfe
Jonathan zwar an den Studienkursen des Internatsprogramms mitmachen
und auch in der Synagoge beten - aber vorlesen aus der Thora dürfe
er nach Ansicht Spinners nicht.
"Das ist wirklich
absurd", kommentiert Jonathan gegenüber der taz. Das sei so, als
werde man als Christ nicht zum Abendmahl zugelassen. Jonathan
wörtlich: "Ich wäre ein Jude zweiter Klasse." Rabbiner Spinner
urteile damit de facto, dass er ihn nicht als Juden akzeptiere.
Jonathan ist erzürnt.
Er verweist darauf, dass seine Großmutter bei einem Rabbiner
übergetreten sei, der heute sicherlich als orthodox gewertet würde:
ein hoch angesehener Holocaust-Überlebender. Rabbiner Spinner hat
Jonathan angeboten, in London eine Art "technische Konversion" zum
orthodoxen Judentum zu machen, wie Levy es nennt. Das wäre zwar
"eine schnelle Sache" - Levy schätzt, dass die Angelegenheit an
einem Tag erledigt wäre.
Aber Jonathan weigert
sich, einen solchen, quasi erneuten Übertritt überhaupt zu erwägen:
"Das habe ich dermaßen von nicht nötig." Der orthodoxe Rabbiner
Berlins, Jitzhak Ehrenberg, akzeptiere ihn schon jetzt, ohne Zögern.
Jedem, dem er seine Geschichte erzähle, könne sie gar nicht
verstehen.
Jonathan betont,
allein dadurch, dass er eine solche "technische Konversion" machte,
er erst recht als Jude mit zweifelhaftem "Status" für den Rest sein
Lebens abgestempelt wäre. Seine Mutter erklärt, das Judentum der
ganzen Familie wäre dann in Frage gestellt.
Die Folgen des Zweifel
an Jonathans Rechtgläubigkeit würden allerdings weit über die
Familie hinausgehen. Da vor dem Krieg die Mehrheit der Juden in
Deutschland liberal geprägt war, wäre de facto der jüdische Status
der meisten Juden hierzulande in Frage gestellt. Das trifft um so
mehr auf Berlin zu, wo vor der Shoah das liberale Judentum blühte.
Nicht zuletzt deshalb
hat sich auch die Jüdische Gemeinde, die im Beirat des Lehrhauses
vertreten ist, des Falles von Jonathan angenommen. Noch ist unklar,
ob das Gemeindeparlament, die "Repräsentantenversammlung", am
Mittwoch dazu debattiert.
Gemeindechef Andreas
Nachama, selbst liberal geprägt, ist die Sache sehr unangenehm.
Lange hat er nach einem Kompromiss zwischen Rabbiner Spinner und
Jonathans Familie gesucht - doch der geht es mittlerweile auch ums
Prinzip: "Da kommt ein junger Spinner und will jüdisches Leben
auseinander dividieren", sagt Jonathans Mutter. Lehrhaus-Chef Levy
sagt, Jonathan könne während des Gottesdienstes mitbeten, denn es
würden beim Internatskurs sicherlich immer mehr als die neun jungen
Männer zusammen kommen, die der Rabbiner als "halachisch" begreife
und im Internat wohnen wollen - zehn Juden sind nötig, um einen
Gottesdienst in der Synagoge machen zu können.
Doch auf eine
"technische Konversion" und ähnliche "Spielereien" will sich
Jonathan nicht einlassen. Wenn nicht doch noch "ein Wunder" passiere
"und ich plötzlich ein Jude werde", sagt er bitter, werde er den
Kurs nicht besuchen. Und seine Mutter betont mit Blick auf Rabbiner
Spinners Fundamentalismus: Was in den USA dauernd passiere und in
Israel schon Alltag sei, drohe jetzt auch hierher zu schwappen. Aber
eine Wiederbelebung des Judentums unter diesen Vorzeichen brauche
man in Berlin und Deutschland nicht.
taz Berlin
lokal / 5.9.2000
TAZ-Bericht PHILIPP GESSLER
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haGalil onLine
12-09-2000
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