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Die meisten Menschen, die aus
Nazideutschland flüchteten, hatten keine andere Wahl. Sie wurden
verfolgt, weil sie Juden waren oder der falschen Partei angehörten
oder einfach zeitig die Nationalsozialisten kritisiert hatten.
Selten war es dagegen, dass einer das Land verließ, dessen Leben
nicht unmittelbar gefährdet war, ja dass einer eine glänzende
Karriere aufgab, weil er ahnte, worauf der Nazismus hinauslaufen
könnte.
Sebastian Haffner gehörte zu diesen
Ausnahmen. Er tat unter außergewöhnlichen Bedingungen das eigentlich
Selbstverständliche und bewahrte so seine persönliche Integrität.
Das hört sich schlicht an, aber wenn man bedenkt, dass es, wie
Hannah Arendt einmal schrieb, "im Dritten Reich nur wenige Menschen
[gab], die die späteren Verbrechen des Regimes aus vollem Herzen
bejahten, dafür aber eine große Zahl, die absolut bereit waren, sie
dennoch auszuführen", dann wird klar, dass Haffner einer
bemerkenswerten Minderheit angehörte, die sich nicht mit dem Regime
arrangierte und sich letztlich dem Machtbereich Hitlers entzog.
1939, also im Jahr seiner Emigration
nach London, verfasste der erst 32-jährige Haffner seine
"Erinnerungen" an die Jahre 1914 bis 1933, die, wie schon seine in
der gleichen Zeit entstandene Innenansicht Deutschlands "Germany:
Jekyll & Hyde", ein beeindruckendes und herausragendes
zeitgeschichtliches Dokument sind. Haffners brillante Analyse
erschien damals natürlich nicht in Deutschland, aber auch die
englische Ausgabe blieb unpubliziert und wurde erst jetzt im
Nachlass entdeckt.
Haffner bewertet in seinen
Erinnerungen die "Stresemann-Epoche" von 1924 bis 1929 als "die
einzige echte Friedenszeit". Es habe kein Bedarf an Erlösern
bestanden wie noch während der Inflation, und jeder war "herzlich
eingeladen, sich das Leben nach seinem Geschmack einzurichten". Aber
genau in dieser Situation, in der jeder die Möglichkeit hatte, nach
seiner Façon glücklich zu werden, entdeckt Haffner ein
massenpsychologisches Phänomen: Eine ganze Generation in Deutschland
wusste "mit dem Geschenk eines freien Privatlebens nichts
anzufangen". Die Deutschen, so Haffners originelle Analyse, wurden
mürrisch und warteten "geradezu gierig" darauf, die "Friedenszeit zu
liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten."
Als Vorbote des Massenwahns
identifiziert Haffner den "Sportfimmel", der Mitte der
Zwanzigerjahre Mode wurde, und dem auch er selbst erlag. Nicht
anders als heute waren die Politiker voll des Lobes über die
"Massenverblödung der Jugend", die eine Art Vorbereitung auf die
Ereignisse gewesen seien, in deren Zentrum eine abstoßende Figur
rückte: "die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener
Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das
Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der
abwechselnd flackernde und stierende Blick". Die Leute, so Haffner
weiter, die Hitler "1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten
es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße
Feuer geben zu lassen".
Was Historiker eher als unseriöse
subjektive Anwandlung abtun würden, macht die Stärke Haffners aus:
Es wird dadurch deutlich, wie unglaublich komödiantisch und lachhaft
Hitler gewesen ist und dass selbst seine Anhänger dies wussten.
"Kein Mensch", polemisiert Haffner, "hätte sich gewundert, wenn
dieses Lebewesen bei seiner ersten Rede von einem Schutzmann am
Kragen genommen und irgendwo abgestellt worden wäre, wo man nie
wieder etwas von ihm sah und wohin es ohne Zweifel gehörte." Aber
statt in einer geschlossenen Anstalt zu landen, begannen die
Menschen, sich durch "das Monstrum" faszinieren zu lassen.
Je mehr diese Faszination um sich
griff, je mehr Leute sich auf die Seite des Siegers schlugen, desto
mehr sank die Lebensfreude in Deutschland. Die Zeit des harmlosen
Tuns und Treibens, der Leichtigkeit des Seins für einen Jugendlichen
wie Haffner war vorbei. Der brutale und lärmende Auftritt der Nazis
lässt sich auch nicht mehr aus dem Leben verbannen. Haffner, der
genau dies versucht hat, erlebt den Zusammenbruch seines privaten
Konzepts auf unangenehme Weise, als Braununiformierte die
juristische Fakultät auf der Suche nach Juden stürmen. In seine
Bücher vergraben, versucht Haffner diesen Vorfall zu ignorieren, bis
"das Gesicht eines Krokodils" vor ihm auftaucht und ihn anherrscht:
"Sind Sie arisch?" und Haffner mit "Ja" anwortet. Die Demütigung,
"Unbefugten auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch", und
wie alle um ihn herum den Kopf einzuziehen, bestärkte Haffner ganz
wesentlich in seinem Entschluss, Deutschland zu verlassen.
Wie sinnlos und gefährlich es war
auszuharren, führte ihm jedoch das Verhalten von fünf Freunden vor
Augen, mit denen er studiert hatte und ritterlich-akademische
Debatten führte. Revolutionäre und nationalistische, konservative
und individualistische Ansichten lagen dabei im friedlichen
Wettstreit und zunächst spielten weder Gesinnung noch Herkunft eine
Rolle. Das änderte sich, als einige der hoffnungsvollen jungen Leute
die Nazi-Verbrechen zu legitimieren begannen und mit einer
selbstgefälligen Amüsiertheit feststellten, dass unter den
"jüdischen Freunden natürlich eine gewisse Nervosität herrschte".
Die Rassenlehre wurde plötzlich mit der Notwendigkeit der
"völkischen Homogenität" gerechtfertigt, die Morde der Nazis wurden
als Petitessen abgetan, vernachlässigbar angesichts des sich
vollziehenden "gewaltigen Akts in der deutschen Volkwerdung". Keiner
der Freunde scherte sich darum, dass einem von ihnen faktisch die
Existenzberechtigung abgesprochen wurde, weil er Jude war. Die von
den Nazis ausstrahlende absolute Kälte, Arroganz und
Mitleidlosigkeit hatte sich auch in diesen engsten seiner
Kommilitonen eingeschlichen. Und das war der eigentliche große
Triumph des Nationalsozialismus: die Vernichtung des Privaten.
Haffner sieht seine Geschichte als
"ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern", einem "überaus
mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen,
anonymen, unbekannten Privatmann". Und dieser kleine Privatmann will
nichts weiter, "als das bewahren, was er, schlecht und recht, als
seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private
Ehre betrachtet". Haffner ließ sich auf diesen ungleichen Kampf ein,
weil die Nazis die Feinde all dessen waren, was ihm lieb und teuer
war. Worüber er sich, und nicht nur er, vollkommen täuschte, war,
"wie furchtbare Feinde sie sein würden". Obwohl keine besondere
intellektuelle Befähigung vonnöten war, um die Nazis nicht zu mögen,
gab es nur wenige, die eine Zusammenarbeit mit den Nazis
ausdrücklich ablehnten. Sebastian Haffner versucht diese Erfahrung -
dieses "Rätsel" - in seinen "Erinnerungen" zu erklären. Dabei führt
er uns aufschlussreich vor, wie sich die nazistische
"Weltanschauung" in jedem Alltagsbereich einnistete und dem normalen
Leben die Luft abschnürte.
Sebastian Haffner:
Geschichte eines Deutschen
Die Erinnerungen 1914 - 1933
DVA, Stuttgart/München 2000
200 Seiten, 39,80 DM
Rezension
taz - 5.9.2000 Politisches Buch
Kommentar KLAUS BITTERMANN
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haGalil onLine
12-09-2000
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