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«Wenn ihr wollt, so ist es kein Märchen»,
schrieb Theodor Herzl, der Begründer des modernen politischen Zionismus, und
prophezeite damit bereits 1902 die Gründung des Staates Israel. Soll sich der
Traum vom eigenen Staat nun auch für die Palästinenser erfüllen?
Die Verhandlungen über die
Gebietsaufteilung zwischen Palästinensern und Israeli stehen einmal mehr im
Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, und auch ohne vertragliches
Einvernehmen will Arafat im Herbst einseitig ein unabhängiges Palästina
ausrufen. Damit stellt sich für eine Million israelischer Araber die Frage, wo
sie denn eigentlich zu Hause sind: in Israel oder jenseits der neuen Grenzen in
Arafats Ministaat? Für die ältere Generation wird die Frage eines Neuanfangs in
Arafats Hoheitsgebiet eher theoretisch bleiben, für die jungen israelischen
Araber aber ist die Option eines Lebens in Ramallah, Jericho oder Nablus
durchaus eine reale.
Sie alle haben die israelische
Staatsbürgerschaft, geniessen aktives und passives Wahlrecht, sind jedoch vom
obligatorischen Militärdienst befreit. Zu fragil ist die Problematik der
doppelten Loyalität, das Dilemma, im Kriegsfall die Waffe gegen die arabischen
Brüder richten zu müssen. Ihre Identität ist brüchig, schwankt zwischen
palästinensischem Nationalgefühl und Identifikation mit dem demokratischen
Rechtsstaat Israel. Gerade jetzt, da Palästina nicht mehr nur eine Vision,
sondern eine sich abzeichnende Realität ist, gärt es in den Köpfen der jungen
Generation, existiert eine melancholische Sehnsucht nach einem Leben im eigenen
Nationalstaat, der zwar weniger Demokratie und Wohlstand, dafür aber Heilung für
die zerrissene Seele verspricht.
Rebellischer Geist
Eine jüngst erhobene Umfrage des
Givat-Haviva-Instituts für Friedensforschung erweist, dass 70 Prozent der
israelischen Araber sich als Palästinenser sehen und nur 15 Prozent als Israeli.
Vor fünf Jahren zeigte eine vergleichbare Studie noch ein ganz anderes Bild,
damals definierten sich lediglich 27 Prozent als Palästinenser. Anders als ihre
im Laufe der Jahre konform gewordenen Eltern rebellieren deren Töchter und Söhne
gegen die Normen einer jüdischen Gesellschaft, zu der sie sich nicht zugehörig
fühlen. Die jungen Rebellen haben ein starkes Selbstbewusstsein, keine Angst vor
Konfrontation, mupfen auf gegen Diskriminierung an Schulen und Universitäten.
Der Frust der arabischen Minderheit hatte sich bisher nur am «Tag der Erde»
entladen, in Massenkundgebungen gegen die israelische Politik der
Bodenkonfiszierung und Landnahme. Doch wie tief verwurzelt die Ressentiments
gegenüber dem jüdischen Staat sind, haben die Ausschreitungen am diesjährigen
israelischen Unabhängigkeitstag gezeigt. An den Universitäten von Jerusalem,
Haifa und Tel Aviv lieferten sich arabische Studenten gewalttätige Schlachten
mit den Sicherheitskräften, skandierten antiisraelische Parolen, verbrannten gar
die blau-weisse Nationalflagge.
Für die 26-jährige Kunststudentin Hanan
geht das Verbrennen der Flagge zu weit, doch steht auch sie den
palästinensischen Nationalsymbolen näher als den israelischen. «Meine Flagge und
Hymne sind eindeutig palästinensisch», meint Hanan, «und am israelischen
Unabhängigkeitstag gedenke ich der Besetzung meines Landes.» Geboren wurde Hanan
in Umm al-Fahm, einer der grössten arabischen Städte Israels. Obwohl sie nur
einen Muslim heiraten und niemals vor der Ehe mit einem Mann leben würde, engte
sie das konservative, von islamischen Gesellschaftsmustern geprägte Leben in Umm
al-Fahm schon als Teenager ein. Ihr Kunststudium trat sie gegen den Willen ihres
Vaters an, den allein die Vorstellung, seine Tochter könnte sich im Aktzeichnen
üben, entsetzte. Als sich Hanan dann auch noch an der renommierten Kunstakademie
Bezalel in Jerusalem bewarb, belächelten ihre Brüder sie als grössenwahnsinnig -
doch Hanan bestand die Aufnahmeprüfung. Zwar habe sie dort nie Diskriminierung
erfahren, «aber die haben immer gestaunt, wenn ich preisgab, dass ich Araberin
bin».
Als muslimische Frau führe sie einen
Kampf an zwei Fronten: den gegen das konservative islamische Wertesystem und den
gegen die israelische Gesellschaft. Sie würde sich bewusst nie als
arabisch-israelische Künstlerin bezeichnen, denn dieses ganze Gerede von der
arabisch-israelischen Identität sei eine reine Erfindung von Historikern und
Soziologen: «Wie kann ich denn Israeli sein, wenn mein Opa und mein Vater
Palästinenser und meine ganzen Wurzeln palästinensisch sind? Und was spricht
dagegen, dass ich eines Tages in Palästina leben werde, als international
anerkannte palästinensische Künstlerin?»
Der 33-jährige Niro ist wie Hanan
israelischer Staatsbürger arabischer Abstammung: Dadurch stehe er immer auf der
anderen Seite der Geschichte. Aufgewachsen ist er in Ras al-Amud, einem
arabischen Dorf an der Peripherie von Jerusalem, das demnächst ganz in
palästinensische Kontrolle übergehen soll. «Schon allein deswegen bin ich kein
Israeli, auch wenn ich in diesem Land lebe», meint Niro. Ehe er vor drei Jahren
nach Tel Aviv zog, neigte Niro sich fünf Mal am Tag gen Mekka, fastete am
Ramadan und trank keinen Alkohol. Doch schon als kleiner Junge träumte er von
einem Leben jenseits des Marktplatzes. Für die Ausbildung als Photograph reichte
sein Geld nicht, da blieb nur die preisgünstige Friseurlehre, doch half ihm
seine Fertigkeit als Figaro, in Tel Aviv Fuss zu fassen. Auf der belebten
Dizengoffstrasse arbeitet Niro seit drei Jahren bei einem Szenefriseur und teilt
sich mit seinem Freund Avi im Stadtzentrum eine Dreizimmerwohnung.
«Die Eltern meines Freundes sind Shoah-
Überlebende, da hatte ich anfangs starke Berührungsängste, wusste auch, dass sie
nicht gerade begeistert sind, dass ihr Sohn mit einem Mann zusammenlebt. Und
dann auch noch ein Araber, dachte ich mir. Doch ich hatte Glück, die haben mich
aufgenommen wie einen Sohn», lächelt Niro. In Tel Aviv fühle er sich zu Hause,
er mag die Offenheit und Toleranz der Menschen, die Hektik auf den Strassen, das
pulsierende Nachtleben. «Aber ich weiss sehr wohl, dass Tel Aviv eine Insel
ist», meint er, «hier kann ich Araber und schwul sein, mit grüngefärbten Haaren
rumlaufen, ohne dass sich jemand daran stösst.» Dagegen beunruhigt ihn die
grosse Politik, der zunehmende Einfluss der religiösen Parteien. Bei den letzten
Wahlen hat er Ehud Barak und der linksliberalen Meretz-Partei seine Stimme
gegeben, «obwohl es meine Religion mir verbietet, in einem jüdischen Staat zu
wählen». Doch von den strengen Verhaltensregeln des Islam hat Niro sich längst
abgewandt, das säkulare Lebensgefühl von Tel Aviv entspricht viel eher seinem
Wesen. Und Tel Aviv gegen Ramallah eintauschen? «Nein, dass würde ich ganz
bestimmt nicht.» Auch Thaar mag Tel Aviv lieber als Nazareth, wo der 23-Jährige
vorläufig noch bei seinen Eltern lebt. Doch anders als Niro könnte er sich ein
Leben in einem künftigen Palästina sehr wohl vorstellen, wenn auch nur im
modernen, amerikanisierten Ramallah. Die ewige Frage nach seiner Zugehörigkeit
nervt ihn, meint Thaar, weil er darauf keine Antwort weiss: «Ich kann nicht
eindeutig sagen, ob ich Israeli oder Palästinenser bin. Ich habe zwar den
israelischen Pass, werde aber im Alltag immer wieder daran erinnert, dass ich
als Araber weniger wert bin. Und wenn ich mich noch so anstrenge, meine
arabische Herkunft wird hier immer ein Handicap sein.»
Misstrauen und Barrieren
Die grosse Zäsur erlebte Thaar, als er -
anders als seine jüdischen Freunde - nicht zum Militär eingezogen wurde. «Ein
paar Jungs aus meiner Schule wollten mir noch nicht mal sagen, in welche Einheit
sie gehen, denn als Araber war ich ein Sicherheitsrisiko», erinnert er sich. Die
Armee ist eine der wichtigsten Säulen der israelischen Gesellschaft, und auch im
Berufsleben ebnet eine Laufbahn als Offizier oder Luftwaffenpilot den Weg in die
Topetagen der freien Wirtschaft - Privilegien, die israelischen Arabern
vorenthalten bleiben. Diskriminierung gibt es in allen Bereichen, meint Thaar:
«Als ich während meines Studiums ein Zimmer in Campusnähe in Ramat Aviv mieten
wollte, wiesen mich die Hausbesitzer ab, weil ich Araber bin.»
Bei den jüngsten Studentenunruhen hat
auch Thaar seinen Frust abgelassen, Parolen skandiert, bis er heiser war. Der
politisch engagierte Filmstudent befürchtet, dass sich die Fronten verhärten
könnten und Israel dann einem Bürgerkrieg entgegenschlittert. Wenn er zu Hause
im christlich-muslimischen Nazareth mit Freunden diskutiert, sei der Hass gegen
das politische Establishment zu spüren, die Sehnsucht nach einem Leben im
eigenen Nationalstaat. Die jüngste Äusserung eines Junior-Likud-Aktivisten, man
solle den israelischen Arabern die Staatsbürgerschaft wieder aberkennen, streute
Salz in die offene Wunde. Zumindest freut es Thaar, dass er sein Film- und
Fernsehstudium früher beenden kann, ohne den Zeitverlust von drei Jahren
Militärdienst. «Sicher weiss ich auch, dass ich Israel viel zu verdanken habe»,
fügt er nachdenklich an, «denn wäre ich in einem Flüchtlingslager in Gaza
geboren, hätte mein Leben ganz anders ausgesehen.» Aber wenn es denn im
September wirklich ein Palästina geben wird, dann möchte Thaar den ersten
Unabhängigkeitstag mit Freunden in Ramallah feiern.
haGalil onLine
14-07-2000
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