Wortprotokolle der österreichischen
Bundesregierung:
"Die Juden rennen uns die Tür ein"
Wortprotokolle der
österreichischen Bundesregierung
von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden
"Die Juden rennen uns die Tür
ein" behauptete der österreichische Bundeskanzler Ing. Leopold Figl, nebst
seinem Nachfolger Julius Raab und dem zweifachen Staatsgründer Karl Renner
einer der Gründerväter der 2. Republik und politischer Repräsentant der
"Wiederaufbaugeneration", bei der Sitzung des österreichischen Ministerrates
am 5. September 1950.
Thema war – wieder einmal – die Rückstellung enteigneten ("arisierten")
jüdischen Vermögens, konkreter Anlass: ein Schreiben des US-Hochkommissärs
Geoffrey Keyes, der die in einem Gesetzesentwurf seiner Ansicht nach
enthaltene "vermehrte wirtschaftliche und gesetzliche Ungewissheit und
Verzögerung" kritisierte und seinen Unmut über die österreichischen Ausreden
manifestierte: "Es ist mir klar, dass kein Korrektivgesetz jedermann
zufrieden stellen kann, aber ich kann nicht einsehen, dass das
Zustandekommen des versprochenen Gesetzes über die Wiederherstellung der
Bestandrechte eine Beunruhigung unter der Bevölkerung hervorrufen würde".
Vizekanzler Adolf Schärf,
1957 bis zu seinem Tod 1965 Bundespräsident, zeigte sich in der
Sitzung vom 15. Januar 1952 "überzeugt, dass in Österreich die Zahl
der Juden, die umgekommen sind, verhältnismäßig gering ist". "Die
meisten", so der tapfere Vaterlandsverteidiger, "sind nämlich aus
Österreich doch über die Grenze gekommen". Nachdem Innenminister
Oskar Helmer dem Vizekanzler widersprach, wurde Helmer vom
Bundeskanzler gebeten, eine entsprechende Erhebung über die
jüdischen Opfer durchzuführen – 1952, sieben Jahre nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reiches!
Diese und zahlreiche weitere
Dokumente aus den Wortprotokollen der österreichischen
Bundesregierung(en) von 1945 bis 1952 zum Thema Entschädigung der
von den Nationalsozialisten verfolgten österreichischen Juden, hat
der britische Historiker Robert Knight, selbst Kind von Vertriebenen
aus Österreich und Mitglied der vor zwei Jahren eingesetzten
österreichischen Historikerkommission, gesammelt und bereits 1988 –
zum 50. Jahrestag des "Anschlusses" Österreichs an das deutsche
Reich – veröffentlicht. Der längst vergriffene Band wurde kürzlich
neu aufgelegt. An seiner Aktualität hat er nichts verloren. Ganz im
Gegenteil, das Zeitdokument ist aktueller denn je, seit sich die
US-Administration unter Bill Clinton der – endgültigen –
Aufarbeitung der Verbrechen unter dem Nationalsozialismus
verschrieben hat. Geschichte scheint sich im Fall der
österreichischen NS-Bewältigung zu wiederholen: erneut sind
amerikanische Bevollmächtigte in Sachen Entschädigung und
Rückstellung unterwegs – vor allem in Person des stellvertretenden
Finanzministers Stuart Eizenstat.
Gerade deshalb, weil sich der
Historiker Knight im wesentlichen auf die Wiedergabe der Briefe und
Protokolle sowie Gesetzesentwürfe und –texte beschränkt, hat er ein
allgemein zugängliches Zeitdokument (der sonst unter Verschluss
gehaltenen Ministerratsprotokolle) geschaffen, das ein
eindrückliches wie verheerendes Sittenbild der österreichischen
"amtlichen" Befindlichkeit gegenüber Nationalsozialismus,
Antisemitismus und gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung bietet. Es
handelt sich dabei nicht bloß um ein zeithistorisches sondern, dank
der Konsistenz der österreichischen Nachkriegsregierungen bis in die
Gegenwart, um ein tagesaktuelles Dokument.
anton legerer
haGalil onLine
27-06-2000
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