Wer nach Israel einwandert, unternimmt der offiziellen
Sprachregelung zufolge eine Auffahrt. "Aliya", wie die Immigration
auf Hebräisch umschrieben wird, ist ein Kernbegriff in der
religiösen Metaphorik des modernen Staates Israel, der auf einer
Mischung aus säkulären und religiösen Prinzipen beruht. Die
gewaltigste und folgenreichste Immigrationswelle seit Staatsgründung
1948 erlebte das Land nach dem Ende der Sowjetunion. Nimmt man jene
Immigranten hinzu, die zu Beginn der siebziger Jahre eingetroffen
waren, ergibt sich eine Zahl von einer runden Million Neubürger -
jeder fünfte Israeli stammt aus dem Osten.
"Israel kann sich in gewisser Weise als Nachfolgestaat der
ehemaligen Sowjetunion betrachten", bemerkte dazu Shlomo Avineri,
Direktor des Instituts für Europäische Studien an der Hebräischen
Universität (Jerusalem) auf einer Tagung über den Wandel der
Einwanderungspoltik in Europa und Israel. Diese Konferenz fand
zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung im Kibbutz Kiriat Anavim bei
Jerusalem statt.
Auch Deutschland hat bis heute mehrere Einwanderungswellen so
genannter Spätaussiedler erlebt - die meisten von ihnen aus
Russland. Gegenwärtig schätzt die Bundesregierung die Zahl der noch
auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Sowjetunion lebenden
Deutschstämmigen auf rund drei Millionen. Im 1993 erlassenen
"Kriegsfolgenbereinigungsgesetz" ist die Zahl der jährlich
einzugliedernden Russlanddeutschen auf 220 000 festgesetzt worden.
Wie gehen beide Staaten mit den Einwanderern aus religiöser oder
ethnischer Zugehörigkeit um? In Israel haben die Folgen der
Masseneinwanderung eine anhaltende Kontroverse ausgelöst. Auf der
Suche nach einer Identität bilden die Immigranten der neunziger
Jahre eine Gemeinschaft, die sich von der israelischen Gesellschaft
abgrenzt. Populistische Politiker kritisieren, dass die Neubürger
ursprünglich in die wesentlich attraktiveren Länder USA oder
Deutschland einwandern wollten. Israel sei für sie zweite Wahl, wo
viele von ihnen eine Bürde für das soziale Sicherungssystem
darstellten.
Liberalstes Einwanderungsgesetz
Mittlerweile beschwören Soziologen die Gefahr eines russischen
Gettos. Obgleich im israelischen Umfeld fest verwurzelt, halten die
Einwanderer an ihrer russischen Kultur fest und erziehen ihre Kinder
zweisprachig. "Dass es Menschen gibt, die in mehr als einer Kultur
leben können und wollen, stößt bei den Eingesessenen allerdings nach
wie vor auf Unverständnis", glaubt Tamar Horowitz,
Integrationsforscherin an der Universität Beer-Sheeva. Als
Einwanderungsland wollte Israel den Überlebenden der Shoa keine
Steine in den Weg legen. Daher erhalten die Ankommenden bei der
Einreise das Bürgerrecht und dürfen sofort am gesellschaftlichen
Leben teilnehmen. Als Grundlage dient das 1950 von der Knesset
(Parlament) verabschiedete Rückkehrgesetz, das weltweit als
freizügigstes Einwanderungsgesetz betrachtet werden kann.
Als die erste Welle der meist kinderreichen Familien aus der
Sowjetunion zu Beginn der siebziger Jahre nach Israel gelangte,
stand ihnen der Sinn nach einer raschen Integration. Israels
Arbeitsmarkt bot damals genügend Stellen, so dass die ökonomische
Integration schnell verlaufen konnte. Oft als Ärzte, Ingenieure oder
Musiker ausgebildet, konnten die Neuen in den gleichen Berufssparten
weiter arbeiten.
Ihre beruflich gut qualifizierten Nachfolger zu Beginn der neunziger
Jahre lernten ein anderes Land kennen. Die überproportional
vertretenen Wissenschaftler, Musiker und Lehrer fanden kaum Stellen.
Allerdings verdankt ihnen Israel eine spektakuläre
Existenzgründungswelle. Olim eröffneten Geschäfte und bauten mit
staatlichen Finanzhilfen und hoher Eigenmotivation kleine und
mittelständische Unternehmen auf.
Es waren primär wirtschaftliche und nicht mehr ideologische Gründe,
die sie zur Übersiedelung veranlasst hatten. Während Wissenschaftler
die Forschung bereicherten, machten sich russische Berufsschullehrer
um eine Verbesserung des defizitären Berufsschulsystems verdient.
Vor allem die Bereicherung des kulturellen und geistigen Lebens
versteht die Integrationsforscherin Tamar Horowitz als "Russlands
Geschenk an Israel". Diesen Beitrag hat Israel mit größter
Selbstverständlichkeit akzeptiert.
Und darin liege der große Unterschied zum Verhältnis zwischen der
deutschen Gesellschaft und den russischen Einwanderern deutscher
Abstammung, verdeutlicht der deutsche Integrationsforscher Jürgen
Turek vom Centrum für Angewandte Politikforschung an der Münchner
Ludwig-Maximilians-Universität. "In Deutschland herrscht ein
Konsens, dass sämtliche Systeme bereits optimal entwickelt sind. Von
den Immigranten erwartet man folglich keine Hilfe; werden sie in
Israel gleich nach der Ankunft eingegliedert, müssen die
Russlanddeutschen hier zunächst eine längere Übergangsphase
durchstehen."
Langer Weg der Integration
Wer auswandern will, muss sich zunächst an die diplomatische
Vertretung Deutschlands wenden. Bis die verlangten Stammbäume und
Geburtsurkunden im Kölner Bundesverwaltungsamt eingehend geprüft
sind, können im Extremfall bis zu drei Jahre verstreichen. Im
Gegensatz zu Israel erfolgt die Integration der Russlanddeutschen in
Einzelschritten; erst wenn sie die deutsche Sprache beherrschen,
eine Arbeitsstelle und eine Wohnung außerhalb der Aufnahmestelle
gefunden haben, betrachten die deutschen Behörden die Eingliederung
als abgeschlossen, eine Nachbetreuung wie in Israel ist dabei nicht
vorgesehen.
Dieses Integrationsmuster verurteilt unternehmerisch veranlagte
Russlanddeutsche, so Jürgen Turek, oft genug zur Tatenlosigkeit;
dennoch ließe sich der israelische Ansatz der Direktintegration nur
schwerlich auf Deutschland übertragen. Denn hierzulande erwarte die
Einwanderer eine weitgehend homogene 81-Millionen-Bevölkerung,
wogegen Israel eine geradezu verwirrende Vielfalt an fragmentierten
Bevölkerungsgruppen besitze. Lebensgewohnheiten, Sichtweisen und
sprachlich-kulturelle Eigenarten der Russlanddeutschen würden
spätestens in der zweiten Generation unwiderruflich aufgegeben, "da
diese Kennzeichen russischer Identität nicht mehr als attraktiv
empfunden werden".
haGalil onLine
30-05-2000
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