Die Juden sind auf
den Hund gekommen. Ein Berliner Pitbull-Besitzer rief per Internet seine
Hundehalter-Genossen dazu auf, gegen Pläne zum Verbot der Beißerhaltung
mit einer Demonstration der besonderen Art zu reagieren. Die Vierbeiner
sollten mit einem Davidstern drapiert werden. Statt des Wortes Jude,
stünde nun Hund darin. Die Veranstaltung hätte unter dem Motto: "1.
Antirassismus-Demonstration in Berlin" laufen sollen.
Man darf sich
darüber empören. Etwa, indem man die ermordeten Juden mit bissigen
Kötern verglichen sieht. Doch wer in unserem bierernsten Land noch einen
Funken Selbstironie besitzt, muss auch schmunzeln. Denn dem verstörten
Hundebesitzer ist es nicht darum zu tun, ermordete Juden zu verhöhnen.
Er und seine Kollegen fürchten vielmehr um die Existenz ihrer geliebten
Bestien. Sie sind tieftraurig und ratlos obendrein. Warum aber benutzen
sie die verfolgten Juden für ihre Zwecke?
Wir alle kennen die
Antwort. Das Andenken an die Schoah hat ein Eigenleben entwickelt. Es
geht weit über die notwendige Trauer um die Ermordeten hinaus. Der
Holocaust wurde quasi zur Ersatzreligion der Trauerbesessenen, schlimmer
noch, zum Synonym für das Judentum schlechthin umfunktioniert. Das geht
so weit, dass viele deutsche Jugendliche heutzutage Judentum mit Schoah
gleich setzen.
Steven Spielberg
und viele Diasporajuden benutzen, ja missbrauchen die Schoah, um ihr
Judesein zu definieren. Sie tun dies, weil sie den Glauben an den
Judengott verloren haben und kaum etwas von jüdischer Geschichte und
Kultur wissen. Die starken Emotionen der Schoah sollen ihre Ignoranz
überstrahlen. Es gelingt nicht immer. Die Schoah-Fixierten begreifen
nicht, dass sie die Antisemiten an Stelle Gottes zum Schöpfer ihres
Judentums küren.
Wie die Juden, so
die Gojim. Auch sie identifizieren die Juden mit der Schoah. Auf diese
Weise wird der psychologische Ausnahmezustand der deutsch-jüdischen
Beziehungen verewigt. Die große Mehrheit der Deutschen erfährt nichts
mehr von der mehr als tausendjährigen deutsch-jüdischen Geschichte. Der
Holocaust markiert im Bewusstsein vieler Deutscher das Ende des hiesigen
Judentums und damit des deutsch-jüdischen Verhältnisses.
Wer weiß, dass das
deutsche Nach-Auschwitz-Judentum mehr zu bieten hat als
Holocaustmahnmäler, Gedenkreden, Klemperer-Tagebücher und
Kitschi-Klezmer? Beispielsweise die am schnellsten wachsende hebräische
Gemeinde weltweit. Oder eine aufblühende jüdische Gegenwartsliteratur,
die in Amerika mehr beachtet wird als hier zu Lande. Oder eine neue
kulturelle, soziale und religiöse Vielfalt in den deutsch-jüdischen
Gemeinden.
Fast alles, was im
letzten halben Jahrhundert nach Hitler und den Seinen langsam und mühsam
im deutschen Judentum aufgebaut wurde, verschwindet im Schlagschatten
der Schoah und ihrer eifrigen Gralshüter. Das bleibt nicht ohne Wirkung.
Viele wenden sich verschreckt oder überdrüssig ab.
Als Martin Walser
in seiner Friedenspreis-Rede bekannte, er könne nicht mehr hinsehen,
wurde ihm dies als Antisemitismus denunziert. Walser hat lediglich
ausgedrückt, was die meisten empfinden - einerlei ob deutsch, christlich
oder jüdisch. Aber dies zuzugeben, widerspricht der politischen
Korrektheit professioneller Mahner und Wichtigtuer.
Auf diese Weise
konnte der Schoah-Schrecken ungezügelt weiterwuchern. Jeder, der sich in
Deutschland benachteiligt glaubte, verglich sich mit den ermordeten
Juden. Aufmerksamkeit war man sich allemal sicher. Ob von
Subventionskürzungen bedrohte Landwirte einen "Bauern-Holocaust"
beklagten, Tierversuchsgegner eine "Schoah" der Kreaturen anprangerten
oder Legehennenbatterien als "Hühner-KZs" denunzierten, während
Abtreibungsgegner - übrigens auch in Israel - der "Schoah am ungeborenen
Leben" den Krieg ansagten, der Völkermord wurde je nach Interessenlage
instrumentalisiert.
Einige Berliner
Tiernarren wollten sich an diese Kampagne hängen. Das Echo hat sie
erschreckt. Sie wollen die David-Sterne vom Hund nehmen. Das ist nicht
genug! Es wird Zeit zu begreifen, dass die Schoah nicht das Ende der
Geschichte war. Die Toten bleiben unvergessen. Doch wir haben das Leben
heute zu bewältigen und dürfen und sollen wieder Gedichte schreiben.
Der Autor lebt als
Schriftsteller und Publizist in Berlin.
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07-05-2000
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