Mit dem Jahrtausendwechsel geht auch
ein Wechsel in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands einher. Es ist ein
mehrfacher Wechsel. Die Aufbaugeneration der jüdischen Gemeinden, meist
Überlebende der Shoa, verlassen immer mehr ihre über Jahrzehnte besetzten
verantwortlichen Funktionen. Die nachgeborenen Generationen können sich in die
gut vorbereiteten Nester setzen. Kindergarten, Schulen, Begegnungsstätten und
Altersheime sind aufgebaut worden. Das Gemeindeleben spielt sich in den
Gemeindezentren und in den Synagogen ab.
Ohne die materielle Hilfe des deutschen
Staates, der sich der Verantwortung für die Nazizeit bewusst ist, wäre ein
solcher Aufbau nie möglich geworden. Ohne diese noch immer währende materielle
Unterstützung wäre jüdisches Leben, so wie es in Deutschland alltäglich gelebt
wird, nicht möglich.
Die Bedeutung der Juden in Deutschland
ist weit größer, als es ihrer Population entspricht. Heute leben über 75.000
Juden in der Bundesrepublik. Deren Mehrheit nimmt diese bevorzugte Position mit
ambivalenten Gefühlen wahr. Einerseits ist dies eine Anerkennung für das
Überleben in einem Land, das sich einmal aufgemacht hatte, alle Juden in der
Welt zu vernichten. Andererseits ist ihnen diese Aufmerksamkeit unangenehm und
zum Teil auch bedrohlich. Einige wenige, sehr auf öffentliche Aufmerksamkeit
bedachte jüdische Repräsentanten werden deshalb auch mit gemischten Gefühlen
betrachtet. Insbesondere dann, wenn sich deren Einsatz nicht ausschließlich auf
jüdische Belange bezieht. Es gibt in Deutschland noch immer Juden, die große
Angst haben. Sie möchten hier leben, aber dieses Leben soll in Anonymität
verlaufen.
Seit über 25 Jahren, aber besonders in
den letzten zehn Jahren, sind über 50 000 neue Mitglieder in den Jüdischen
Gemeinden zu finden. Diese Menschen kommen fast ausschließlich aus den Ländern
der ehemaligen Sowjetunion. Sie tragen insbesondere dazu bei, dass das
stagnierende deutsche Judentum wieder in ein lebendiges Leben zurückfindet.
Schon platzen viele Gemeinden aus allen Nähten. Manche "neuen" Gemeinden
bestehen nur aus Zuwanderern. In der Sowjetunion und in den Nachfolgestaaten
waren sie als Juden sofort über ihren Pass identifizierbar, so wie früher die
Juden in der Nazizeit, und wurden mehr oder weniger verfolgt. Ihr
Auswanderungsbegehren ist also verständlich.
Traditionelles Judentum wurde jedoch in
den wenigsten Familien gelebt. Der Wunsch nach Integration in die deutsche
Gesellschaft ist sehr groß, und die Ansprüche an die zum Teil überalterte
jüdische Gemeinschaft sind immens.
Dieser kulturelle und ethnische Wandel
ist nur langsam vollziehbar. Gesellschaftliche Funktionen wie auch ehrenamtliche
Tätigkeiten müssen oft erst erlernt werden. Doch wir wissen, dass viele der
neuen Mitglieder in den Gemeinden besondere Verantwortung für die Umgestaltung
dieser Gemeinden übernehmen werden.
Das Bemühen jüdischer
Verantwortungsträger um Anerkennung und Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft
soll oft von den eigentlichen Aufgaben für ihre Gemeinde ablenken. Es wird zum
Beispiel vermieden, religiöse Inhalte für eine überwiegend säkulare jüdische
Gemeinschaft zu definieren. Auch das erhebliche Mischehenproblem und die damit
verbundenen Übertrittsmöglichkeiten für die nichtjüdischen Partner bedarf
dringender Bearbeitung. Überhaupt ist die EntwickIung jüdischer Inhalte und
Werte dieses neuen Jahrtausends voranzubringen. Weder die Rabbinerkonferenz noch
die exponierten jüdischen Organisationen engagieren sich für diese dringlichen
Aufgaben.
Sollte hierbei die jüdische Gemeinschaft
versagen, hätte dies Konsequenzen gerade für die neuen Mitglieder. Diese
erhielten so kaum Orientierungshilfe bei ihrer Suche nach jüdischer Identität.
Was wäre die jüdische Gemeinschaft dann anderes als bloßes soziales Auffang- und
Integrationsnetz? Man würde sich immer mehr jüdischer "Symbolträger" bedienen
müssen, um den sich darin bildenden Kulturvereinen beziehungsweise sozialen
Gemeinschaften den entsprechenden jüdischen Anstrich zu geben. Diese
Gemeinschaften drohen als öffentliche Zuwendungsgemeinden schnell zu
geschichtlichen Alibiträgern jüdischer Prägung zu werden.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland
hat große Aufgaben vor sich, will sie nicht innerlich in Bedeutungslosigkeit
versinken. Ihre Spitzenrepräsentanten sollten sich besser diesen Aufgaben
widmen, als sich um Profilierung in der deutschen Öffentlichkeit zu bemühen.
Längst haben die Juden in diesem Land wieder Fuß gefasst. Die wohl bekannten
gepackten Koffer stehen in Second-Hand-Läden. Der moralische Zeigefinger, der in
dieser Metapher verborgen steckt, ist krumm geworden. Dass es immer mehr
jüdische Menschen in diesem Lande gibt, ist Beweis genug dafür und zeugt davon,
dass die Bundesrepublik ein bevorzugtes Einwanderungsland auch für Juden
geworden ist.
Längst hat auch die weltweite jüdische
Gemeinschaft ein Auge auf die Bundesrepublik Deutschland geworfen. Zunehmend
mehr jüdische Organisationen lassen sich insbesondere in der Hauptstadt Berlin
nieder. Man kann sicherlich von Normalität reden, betrachtet man jüdisches Leben
in Deutschland. Eine Normalität, die allerdings immer aus besonderer
geschichtlicher Verantwortung gespeist bleiben wird.
Quelle:
DIE WELT (01-2000)
Fredy Gross lebt und arbeitet als Psychoanalytiker für Kinder und Jugendliche in
Berlin
haGalil onLine
12-04-2000
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