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Die Jüdische
Gemeinde hat am vergangenen Freitag (04-03-2000) ihren liberalen Rabbiner
Walter Rothschild fristlos entlassen. Mit diesem Schritt erreichen die
Streitigkeiten in der Gemeinde, die sich an dem erst vor zwei Jahren in die
Stadt berufenen Rothschild entzündet haben, ihren vorläufigen Höhepunkt.
Als
Ursache gilt der unkonventionelle Stil des in London
geborenen, charismatischen Rabbiners, mit dem er in der eher
konservativ geprägten Berliner Gemeinde seit seinem
Amtsantritt vielfach angeeckt ist. So hat er in
Gottesdiensten freimütig auch sexuelle Themen angesprochen.
Im vergangenen Jahr soll er während einer Predigt gar ein
Kondom aus einem Hut hervorgeholt haben.
Obwohl
sich Rothschild mit seiner Art auch viele Sympathien
errungen hat, beschloss die Repräsentantenversammlung der
Gemeinde auf dem nicht-öffentlichen Teil ihrer Sitzung am
16. Februar, den Vertrag mit ihm aufzukündigen. "Es war das
Ergebnis eines eineinhalb Jahre dauernden tragischen
Verhältnisses", sagte Andreas Nachama, der Vorsitzende der
Jüdischen Gemeinde, gestern dem Tagesspiegel. Doch schon
bevor Rothschild dann am Freitag nachmittag die lange
beschlossene Kündigung per Boten überbracht wurde, hatte es
Proteste wegen entsprechender Gerüchte gegeben. Auf einem
Flugblatt wurde von "Mobbing" gesprochen und Nachama,
gleichzeitig auch Kultusdezernent, als Urheber benannt.
Nachama wollte sich dazu nicht weiter äußern, hob jedoch
hervor, dass er es gewesen sei, der Rothschild nach Berlin
holte. "Ich hätte das nicht getan, wenn ich ihn nicht für
anregend und interessant gehalten hätte", sagte Nachama
gestern.
Die
Eltern des 45 Jahre alten Rothschild waren aus Deutschland
nach England geflohen. Am Londoner Leo-Baeck-College wurde
Rothschild zum Rabbiner ausgebildet und war dann lange als
Rabbiner in Leeds tätig, bevor er eine Stelle auf der
Karibik-Insel Aruba annahm. Die dortige Position gab er
vorzeitig auf, um mit seiner Frau und drei Kindern nach
Berlin zu kommen, wo die Stelle des liberalen Rabbiners, der
neben einem orthodoxen Rabbiner amtiert, zuvor drei Jahre
lang vakant gewesen war.
Walter
Rothschild selbst betont, dass er in der Tradition des
deutschen liberalen Judentums groß geworden ist und auch in
diesem Sinne ausgebildet wurde: "Ich bin nicht mit der
Absicht gekommen, hier etwa amerikanisches Reformjudentum zu
etablieren. Ich sehe mich in erster Linie als einen
pluralistischen Rabbiner." So habe er in der Berliner
Einheitsgemeinde - in der verschiedene theologische
Strömungen zusammengefasst sind - auch streng traditionelle
Gottesdienste abgehalten. Aber die deutschen Traditionen
hätten sich im Ausland anders entwickelt als in Deutschland
selbst, sagt Rothschild.
Unterschiedliche Auffassungen führten schon im vergangenen
Jahr dazu, dass Rothschild in der Synagoge Pestalozzistraße
mit Kanzelverbot belegt wurde. Dort war der unlängst
verstorbene Oberkantor und Vater des heutigen
Gemeindevorsitzenden, Estrongo Nachama, über Jahrzehnte
tätig gewesen. Ihm sollen die liberalen Ansichten des
Rabbiners dem Vernehmen nach viel zu weit gegangen sein. In
Teilen der Gemeinde wird zudem seit einiger Zeit
kolportiert, dass Andreas Nachama selbst Ambitionen auf das
Amt des Rabbiners hegt. Nachama weist dies jedoch weit von
sich: "Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es vor zwei
Jahren gemacht."
Walter
Rothschild hatte sich zu seinem Amtsantritt 1998 sehr
erfreut über seine neue Aufgabe geäußert. In Berlin gebe es
"die einzige Einheitsgemeinde, die - trotz Eifersüchteleien
- funktioniert", sagte er dem Tagesspiegel. Noch in der
diesjährigen Märzausgabe einer in England erscheinenden
Zeitschrift des liberalen Judentums bezeichnete er in einem
Artikel über die Rückkehr jüdischen Lebens in Berlin die
Stadt als aufregenden Ort, als "exciting place to be".
Andreas
Nachama habe in der Vergangenheit alle Gesprächsangebote, um
die Situation zu klären, ausgeschlagen, sagte Rothschild
gestern. "Ich bin aber bereit, es immer wieder zu versuchen,
um eine Lösung zu finden. Dazu bin ich als Rabbiner
ausgebildet und verpflichtet." Bislang sieht er sich
weiterhin im Amt und hat wegen der Kündigung einen Anwalt
beauftragt. Er habe eigentlich gehofft, in der Stadt bis zur
Pensionierung bleiben zu können, sagte Rothschild.
Sollte
seine Kündigung jedoch rechtswirksam werden, könnte es für
die Gemeinde schwierig sein, einen deutschsprachigen,
liberalen Nachfolger zu finden, da es bislang in Deutschland
selbst kaum Rabbinerausbildung gibt. Zum einem gibt es immer
noch große Vorbehalte im Judentum, in das ehemalige Land des
Holocaust zu gehen, zum anderen verschaffen die vielfältigen
Streitigkeiten der Gemeinde keinen guten Ruf. Ein in Berlin
ansässiger jüdischer Amerikaner sagte nach Bekanntwerden der
Kündigung dem Tagesspiegel gestern: "Für mich sind die
Verhältnisse hier schwer zu ertragen."
haGalil onLine
10-03-2000 |