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Ein leichteres, würdigeres Leben
- in Deutschland
Michael
Liokumowitsch, Dezernet für Integration bei der Berliner Gemeinde, müht sich
gar nicht erst, die Spannungen zwischen den Neuen und den Alteingesessenen
kleinzureden. Natürlich mache es einen gewaltigen Unterschied, ob man mit
schlechtem Gewissen in Deutschland hängen geblieben ist und sich dann mühsam
eine fragile Selbstverständlichkeit erkämpft hat - oder ob man schon in der
Zuversicht gekommen ist, in Deutschland ließe sich ein leichteres,
würdigeres Leben führen. Für die einen war das Bleiben in Deutschland lange
ein Problem. Für die anderen sollte dieses Land die Lösung ihrer Probleme
bringen.
Warum kommen denn so
viele Menschen aus dem Osten hierher? Stimmt es, wie Schoeps und seine
Mitarbeiter in der Studie behaupten, dass nicht nur die Angst vor dem
Antisemitismus, sondern zunehmend auch wirtschaftliche Motive entscheidend
sind? Liokumowitsch kann dies "im Großen und Ganzen bestätigen". "Aber Sie
müssen sich auch klarmachen", sagt er, "Deutschland - das heißt Europa.
Viele Juden in der Exsowjetunion fühlen sich als Europäer. Für sie sind die
USA und Israel auch darum eher zweite Wahl. Es gibt eine lange Tradition des
Kulturaustauschs zwischen Deutschland und Russland. Und natürlich spielt die
geografische Nähe eine Rolle - auch der Gräber wegen, die man besuchen
möchte."
 
Michael Liokumowitsch
gehört nicht zu jenen Sozialfunktionären, die sich in ihren Forderungen an
die Öffentliche Hand gegenseitig übertreffen. Der erfolgreiche junge Arzt
führt eine Privatklinik und kümmert sich aus Bürgersinn und Mitgefühl um die
Immigranten. Liokumowitsch, selbst Kind von Einwanderern aus der
Sowjetunion, lebt seit 1974 in Deutschland. Er hat hier Abitur gemacht,
studiert und schließlich eine Existenz aufgebaut. Seit zweieinhalb Jahren
gehört er dem verjüngten Berliner Gemeindevorstand an. Seine Aufgabe als
Integrationsbeauftragter sieht er oft genug darin, überspannte Erwartungen
der Neuen freundlich zu frustrieren.
Wenn er allerdings auf
das "moralische Problem" zu sprechen kommt, das sich im Umgang mit den
Zuwanderern stellt, verfliegt die Kühle. Warum ist es so schwer zu
verstehen, fragt er gereizt, wie viel die Staatsbürgerschaft für die
Lebensqualität dieser Leute bedeutet? Immer bekomme er zu hören:
"Integration ist ein Zeitproblem." Man könne das auch sarkastisch lesen: In
ein paar Jahren löst sich das Einbürgerungsproblem bei den Älteren ganz von
allein.
In
Deutschland gibt es nicht länger ein einziges,
sondern viele Judentümer
Das Interesse der
deutschen Medien an den Konflikten, die durch die Zuwanderung in den
jüdischen Gemeinden entstanden sind, ist für Liokumowitsch eine zwiespältige
Angelegenheit. Einerseits wünscht er sich, dass dem dürftigen Wissen über
die eingewanderten Juden aufgeholfen würde.
Man müsse sich zum
Beispiel klarmachen, dass man es bei "den Russen" mit einer sehr heterogenen
Gruppe zu tun habe: "Wer etwa im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Roten
Armee gekämpft hat, nimmt wahrscheinlich eine andere Haltung zu seinem
Judentum und zu Deutschland ein als ein Überlebender, dessen Verwandtschaft
in den Lagern oder von Sonderkommandos ermordet wurde." Andererseits habe
die übergroße Aufmerksamkeit der deutschen Medien manchmal einen seltsamen
Beigeschmack von Schadenfreude und Entlastungssehnsucht: Seht mal an, die
Juden streiten sich! Die wollen die Russen wohl selbst nicht hier haben!
© beim Autor/DIE ZEIT
2000 Nr. 2 All rights reserved.
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