Gut möglich, dass
Schätzungen und Wirklichkeit auch heute wieder weit auseinander liegen, denn
in den vergangenen Jahren war viel von der Immigration großer jüdischer
Kontingente aus der früheren Sowjetunion in die Bundesrepublik zu hören und
zu lesen. Zwar ist durch diese Einwanderungswelle die jüdische Gemeinschaft
in Deutschland auf das Zweieinhalbfache gewachsen - aber in absoluten Zahlen
sind Juden immer noch eine kleine Minderheit: Die letzte offizielle
Statistik vom Dezember 1998 verzeichnete 74 000 Mitglieder jüdischer
Gemeinden, unter ihnen etwas mehr als 53 000 Zuwanderer aus dem Osten.
Dass es überhaupt einen
Wiederbeginn jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Massenmord geben
könnte, schien nach dem Krieg höchst unwahrscheinlich. "Wir können nicht
annehmen, dass es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen",
schrieb ein amerikanischer Journalist 1949. "Hier riecht es nach Leichen,
nach Gaskammern und nach Folterzellen. Deutschland ist kein Boden für
Juden." Etwa 15.000 deutsche Juden hatten im Lande überlebt, die meisten
geschützt durch einen nichtjüdischen Ehepartner, im Versteck oder in der
Illegalität.
Zwischen 1945 und 1952
hielten sich bis zu 200 000 jüdische "Displaced Persons" (DP) - vor allem
aus Osteuropa - in den westlichen Besatzungszonen auf. Sie warteten in
besonderen Lagern darauf, in die USA und nach Palästina beziehungsweise
Israel weiterreisen zu können. Die meisten verließen Deutschland, sobald die
Gelegenheit da war. 1952 waren 12.000 jüdische DPs übrig geblieben, drei
Jahre später noch 999 im letzten Lager Föhrenwald bei München. Eine
Minderheit der Staatenlosen, die Schwächsten unter ihnen, entschlossen sich,
im Land zu bleiben.
Schon 1945 waren einige
jüdische Gemeinden neu gegründet worden, etwa in Berlin, Frankfurt am Main
und München. 1950, im Gründungsjahr des Dachverbands Zentralrat der Juden in
Deutschland, hatten die jüdischen Gemeinden rund 15.000 Mitglieder an nahezu
70 Orten. In Berlin wurde am 11. Mai 1945, neun Tage nach dem Fall der
Stadt, wieder ein jüdischer Gottesdienst abgehalten - in einem Betsaal am
Friedhof Weißensee. Etwa 1.000 Juden kamen aus ihren Verstecken, 1.628
Rückkehrer aus den Konzentrationslagern schlossen sich ihnen an. Zusammen
mit den wegen ihrer nichtjüdischen Ehepartner Verschonten, ergab das im
Herbst 1945 eine Zahl von 7.000 Juden in Berlin.
Die Regierung des neuen
Staates begriff schnell, dass die Fortführung jüdischen Lebens in
Deutschland, wie General Clay sagte, als "der Gradmesser für die Bewährung
der neuen Demokratie in Deutschland" galt. Die Bundesrepublik half jüdischen
Gemeinden beim Wiederaufbau, während gleichzeitig viele alte Nazis in der
Bürokratie, im Militär und im Justizsystem zu neuen Ehren kamen.
Die jüdische
Gemeinschaft bestand vorwiegend aus älteren Menschen, und die in Deutschland
geborenen Mitglieder bildeten eine kleine Minderheit. Die hohe
Sterblichkeitsrate wurde durch einen kleinen, aber stetigen Zustrom von
Einwanderern ausgeglichen: In den fünfziger Jahren kamen sie aus Ungarn und
Polen, in den siebziger und achtziger Jahren aus der Sowjetunion, aus Israel
und dem Iran.
Die Geschichte der Juden
im Ostdeutschland der Nachkriegszeit ist die eines stetigen Schwundes.
Antisemitismus und faschistische Aktivitäten standen im SED-Staat zwar unter
Strafe, aber als 1953 die antijüdischen Aktionen Stalins ihren Höhepunkt
erreichten, sahen sich 500 ostdeutsche Juden veranlasst, nach West-Berlin zu
fliehen, unter ihnen der Ostberliner Gemeindevorsitzende Julius Meyer.
Besonders seit 1967 gab es immer wieder "antizionistisch" begründete
antisemitische Kampagnen in den regierungsamtlichen Medien.
1961 waren in der DDR
1.800 Juden als Gemeindemitglieder registriert, in den achtziger Jahren 650,
und vor dem Ende der DDR im Jahr 1990 stand auch die jüdische Gemeinschaft
in Ostdeutschland kurz vor der Auflösung. Viele heutige ostdeutsche Gemeiden
verdanken ihr Überleben allein der Zuwanderung in den neunziger Jahren.
Für kleine Gemeinden ist
der Zuwachs der vergangenen Jahre mittlerweile kaum zu verkraften. In der
Gemeinde Duisburg-Mühlheim-Oberhausen etwa stieg die Mitgliederzahl
innerhalb weniger Jahre von 150 auf fast 1.400. Die Zusammensetzung hat sich
krass verändert: 1990 stammten gut drei Prozent aus der ehemaligen
Sowjetunuion, 1998 schon über 70 Prozent. Der Zustrom der Emigranten trifft
die so genanten Einheitsgemeinden in einer prekären Phase, in der ihr
Anspruch, alle religiösen Richtungen unter einem Dach zu vereinen und nach
außen zu vertreten, vielerorts durch liberale und konservative Abspaltungen
vom orthodoxen Mainstream in Frage gestellt wird. Für den Zentralrat als
Dachverband sind diese Entwicklungen eine neue Herausforderung.
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