Krieg in Nahost:
Der Kampf um den verlorenen Sohn
Seit 933 Tagen hält die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Schalit
gefangen. Die Offensive in Gaza weckt bei seinen Eltern neue Ängste - und
neue Hoffnungen... Von Thorsten Schmitz
Man kann Noam Schalit zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, sein Handy
schaltet er nie aus. Er schläft neben dem Telefon, wenn er nachts für ein
paar Stunden die Augen schließt, und sein erster Blick noch vor dem
Morgengrauen gilt dem Display, ob er nicht vielleicht eine SMS verpasst hat.
Noam und seine Frau Aviva Schalit können seit zweieinhalb Jahren nur mit
Hilfe von Tabletten einschlafen.
Noam Schalit versucht zu arbeiten, auch wenn er ständig in Gedanken woanders
ist. Er ist als Ingenieur bei Iscar angestellt, jener Werkzeug-Firma im
Norden Israels, die Warren Buffett kurz vor dem Libanon-Krieg vor
zweieinhalb Jahren Stef Wertheimer abgekauft hat. Aber oft fährt Noam
Schalit nur für halbe Tage aufs Firmengelände oder nimmt gleich ganz Urlaub.
Nicht, weil er an einem Strand Erholung sucht, sondern weil er für die
Rückkehr seines Sohnes in das idyllische Dorf Mizpe Hila im Norden Galiläas
kämpft.
Der zurückhaltende Schalit hat sich inzwischen daran gewöhnt, sagt er, dass
man ihn auf den Straßen in Israel anspricht und Medienvertreter aus aller
Welt Interviews mit ihm führen wollen. Mit der Leere in seinem Leben und dem
seiner Frau Aviva, die ehrenamtlich in einer Naturschutzorganisation
arbeitet, hat er sich dagegen bis heute nicht abgefunden.
Seit 933 Tagen befindet sich ihr inzwischen 22 Jahre alter Sohn Gilad in den
Händen der radikal-islamischen Hamas, aller Wahrscheinlichkeit nach im
Gaza-Streifen. Drei Geburtstage hat Gilad Schalit bereits in Gefangenschaft
verbracht. Auch wenn es nicht das erklärte Ziel des Gaza-Kriegs ist, Israels
verlorenen Sohn zu befreien: Genau das erhofft sich die Familie.
Sie sind zu höflich, um die eigene Außenministerin zu kritisieren. Aber dass
Tzipi Livni wenige Tage vor Beginn der Offensive gesagt hat, es sei nicht
immer möglich, entführte Soldaten nach Hause zurückzuholen, haben die
Schalits für nicht hilfreich gehalten. "Wenn sie so denkt...", sagt Aviva
Schalit und vervollständigt den Satz absichtsvoll nicht.
Das erste Interview
Seit 933 Tagen denken die Schalits an nichts anderes als an ihren Sohn. Sie
glauben, dass er in einem dunklen, fensterlosen Verlies sitzt, ohne Kontakt
zur Außenwelt. In ihrem ersten Interview, das Aviva Schalit jetzt dem
zweiten israelischen Fernsehsender gegeben hat, sagt die Mutter: "Ich hoffe,
dass jemand mit ihm spricht, dass jemand ihm ein Glas Wasser gibt."
Gilad besitze viel Geduld, seine Leidensfähigkeit sei groß, und stur sei er
auch: "Das könnte ihm helfen, die Zeit in der Gefangenschaft einigermaßen zu
überstehen." Sie wisse, welches Kind sie in die Armee geschickt habe, sagt
Aviva Schalit, "aber ich weiß nicht, wen ich zurückbekommen werde, wenn
Gilad wieder bei uns ist." Sie und ihr Ehemann Noam seien sich klar, dass
Gilad auf professionelle Hilfe angewiesen sein werde, um die Erlebnisse der
Gefangenschaft zu verarbeiten.
In Gedanken führe sie Gespräche mit ihrem Sohn, von dem sie mehrfach betont,
dass er sehr dünn und sehr still sei. Und in den Gedankengesprächen bitte
sie ihn darum, "dass er uns verzeihen möge". Verzeihen, dass sie es bis
heute nicht geschafft haben, ihren Sohn aus der Gefangenschaft zu befreien.
Bislang hat Familie Schalit drei Briefe und eine Tonbandaufnahme von Gilad
erhalten. Im letzten Brief, geschrieben im Juni, stand ein Satz, von dem
Armee-Psychologen sagen, dass er nicht von den Geiselnehmern diktiert worden
sei. Gilad bittet darin seine Eltern, sie sollten sich nicht zu viele Sorgen
machen und ihren Alltag weiterleben.
Noam Schalit, der seit Gilads Verschleppung in den Gaza-Streifen im Juni
2006 unermüdlich Politiker und Menschenrechtsgruppen, Minister und
Journalisten trifft, hat sich seit dem Beginn des Gaza-Kriegs aus der
Öffentlichkeit zurückgezogen. Das Interview seiner Frau sei eine Ausnahme
gewesen, sagt er: "Wir wollten damit auch einmal die menschliche Seite
unserer Bemühungen um die Freilassung unseres Sohnes zeigen."
Man wolle jetzt die israelische Armee-Offensive im Gaza-Streifen abwarten,
erst dann werde er sich wieder mit vollem Engagement äußern. Ohnehin
belastet die Familie das plötzliche Rampenlicht, das ihr Leben seit mehr als
zwei Jahren grell ausleuchtet. Es gehe doch nicht um sie, sagt Noam Schalit
am Telefon, "es geht doch nur um Gilad und dass er wieder nach Hause kommt".
Schalit verrät, dass er zur Zeit "Tag und Nacht" vor dem Fernseher die
Nachrichten im israelischen Fernsehen verfolge, aber auch auf al-Dschasira,
der als einziger internationaler TV-Sender mit mehr als 70 Leuten im
Gaza-Streifen vertreten ist. "Selbst wenn ich wollte, ich könnte gar nicht
anders als Nachrichten sehen und hören", sagt der 53 Jahre alte Noam Schalit.
Vom Beginn des Kriegs gegen die Hamas im Gaza-Streifen am 27. Dezember seien
er und seine Frau und die zwei Geschwister Gilads überrascht worden: "Man
hat uns nicht zuvor darüber informiert", sagt er. Die massiven Luftangriffe
der israelischen Armee auf bislang weit mehr als 1400 Ziele lassen die
Sorgen der Eltern ins Unermessliche ansteigen.
Obwohl nicht bekannt ist, wo genau die Hamas Gilad Schalit versteckt hält,
heißt es in den israelischen Medien immer wieder, er sei im Süden des
Gaza-Streifens, also in jener Gegend, die in den vergangenen Tagen unter
besonders heftigen Beschuss geraten ist, weil in Süd-Gaza die
Tunnelwirtschaft blüht.
Besonders perfide ist das Spiel der Hamas mit der Wahrheit auch im Hinblick
auf Gilad Schalits Gesundheitszustand. Vor wenigen Tagen verbreiteten
Sprecher der Gruppe, der entführte Soldat sei bei den israelischen
Luftangriffen verletzt worden. Die israelische Armee ordnete die Meldung
sogleich als "psychologische Kriegführung" ein und hält sie für unwahr.
Am Sonntag dann verstärkte ein Mitglied aus dem Politbüro der Hamas noch
einmal die Ungewissheit über das Schicksal des entführten Soldaten.
Hamas-Führer Mussa Abu Marsuk erklärte: "Gilad Schalit mag verletzt sein
oder gesund. Diese Frage interessiert uns nicht mehr." Die Hamas kümmere
sich seit Beginn der israelischen Offensive nicht mehr um sein Wohlbefinden,
denn er sei jetzt "genauso viel wert wie eine Katze oder weniger".
Das Zimmer bleibt tabu
Hunderte Nachbarn, Minister und Reporter haben das Haus der Schalits in
Mizpe Hila bereits betreten, saßen auf dem beigefarbenen Stoffsofa oder im
Garten, haben Tee getrunken und Gedanken gewälzt. Immer wieder wurden die
Schalits gebeten, ob man nicht einen Blick in das Zimmer von Gilad werfen
dürfe. Doch die Eltern haben sich bis heute strikt dagegen ausgesprochen.
"Es ist Gilads Zimmer, und er soll entscheiden, wer es betreten darf", sagt
Aviva Schalit in dem zehnminütigen Fernsehfilm.
Die Anstrengung, das Unwohlsein, vor der Kamera zu reden, kann man an ihrem
Gesicht ablesen. Das Zimmer sei ein ganz normales Jugendzimmer, Computer,
Bücher, Bett und Basketball. Gilad Schalit ist großer Basketballfan. In den
vergangenen zwei Jahren wusste sich die Familie aber nicht mehr zu helfen
wegen der Flut an Briefen.
Tausende Kuverts und Faxe, verteilt auf Dutzende Pappkisten, stehen nun in
Gilads Zimmer im ersten Stock des Hauses. Doch jetzt hat Aviva Schalit
beschlossen, die Briefflut in den Keller zu verfrachten, weil sie will, dass
"Gilad sein Zimmer so vorfindet, wie er es vor zweieinhalb Jahren verlassen
hat".
Die Familie hofft, "dass die Armee jetzt keinen Fehler macht", und dass
Gilad von den israelischen Truppen befreit werden möge. Aber manchmal, gibt
Aviva Schalit zu, beschleiche sie auch das Gefühl, dass ihr Sohn zu "einem
zweiten Ron Arad" werden könne - jenem israelischen Co-Piloten, dessen
Flugzeug 1986 über dem Libanon abgeschossen wurde und über dessen Schicksal
bis heute keine konkreten Erkenntnisse vorliegen.
Zu den heftig geführten Diskussionen in Israel darüber, wie viele
palästinensische Gefangene Israel im Austausch für Gilad freilassen müsse,
sagt die Mutter: "Der Preis ist mir egal. Die Regierung hat ihn an die
Grenze zum Gaza-Streifen geschickt, wo er entführt wurde, also muss sie ihn
auch wieder zurückbringen." |