Einmarsch in den Gaza-Streifen:
Bis in die letzten GassenKarten,
Adressen, Telefonnummern: Israels Armee operiert bei ihrer Bodenoffensive
auf sehr vertrautem Terrain. Welche Ziele die Regierung verfolgt, bleibt
weiterhin unklar. Von Thorsten Schmitz
Die meisten Raketen, die in den vergangenen acht Jahren in Israel
detonierten, wurden vom nördlichen Teil des Gaza-Streifens aus abgefeuert.
Aus diesem Grund startete Israels Armee dort am frühen Samstagabend die
Bodenoffensive der Elite-Kampfeinheiten "Golani" und "Givati". Bei
Luftangriffen in der Woche zuvor hatten israelische Kampfpiloten den Weg
dafür geebnet. Sie bombardierten offene Flächen im Norden des
Gaza-Streifens, um Landminen zur Explosion zu bringen, die Hamas-Mitglieder
in Erwartung eines israelischen Einmarsches gelegt hatten.
Bei diesen Bombardements wurden nach Angaben von israelischen
Militärexperten aber auch von Hamas errichtete Bunker zerstört, die der
Führungsriege und Kommandozentrale der radikalislamischen Gruppe seit Beginn
der "Operation gegossenes Blei" als Unterschlupf gedient hatten.
Anders als beim Libanonkrieg vor zweieinhalb Jahren ist die israelische
Armee mit dem Gebiet im Gaza-Streifen sehr vertraut. Hatten die Soldaten im
Libanon nur über veraltete Landkarten und überholte
Geheimdienstinformationen verfügt, so bewegen sie sich nun mit ihren
Nachtsicht- und GPS-Geräten auf bekanntem Terrain.
Durch die jahrzehntelange Besatzung kennt die Armee praktisch jeden
Quadratzentimeter des Gaza-Streifens. Am Sonntag teilte sie den Landstrich
in zwei Hälften und besetzte die Hauptstraße entlang der Küste, um die
Kommunikation zwischen den Hamas-Kämpfern zu stoppen und sie vom Nachschub
mit Raketen abzuschneiden.
Anruf vor dem nächsten Luftangriff
Der Gaza-Streifen ist durch Überwachungskameras unbemannter Fluggeräte vom
israelischen Geheimdienst bis in die letzte Gasse kartografiert. Das
ermöglicht Israels Soldaten Hausdurchsuchungen, mit denen sie ebenfalls am
Sonntag begannen. Auch liegt dem israelischen Innenministerium ein
umfassendes Verzeichnis der Namen der Bewohner des Gaza-Streifens (und des
Westjordanlandes) vor, inklusive der Telefonnummern.
Die israelische Armee ruft vor Luftangriffen in Häusern und Wohnungen an,
die durch den Einsatz gefährdet sind, und warnt die Bewohner. In den
vergangenen Tagen hat die Luftwaffe außerdem Hunderttausende Flugblätter
abgeworfen, die in arabischer Sprache dazu aufrufen, der Hamas nicht länger
Folge zu leisten.
Ursprünglich hatten Israel und die Palästinenser-Führung im Westjordanland
bis zum Ende der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush vereinbart, ein
Friedensabkommen zu unterzeichnen. Stattdessen führt Israels Armee nun zwei
Wochen vor Bushs Auszug aus dem Weißen Haus einen Krieg in dem mit mehr als
4000 Menschen pro Quadratkilometer am dichtesten besiedelten Flecken der
Erde.
Das Ziel, heißt es offiziell aus dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv,
sei die "Eroberung" nördlicher Gebiete des Gaza-Streifens, um den
Raketenbeschuss Israels von dort aus zu stoppen. Dennoch wurde der Süden
Israels am Sonntag erneut mit Dutzenden Kurzstreckenraketen beschossen.
Dass über Israels Ziele nicht viel mehr zu erfahren ist, hat zwei Gründe:
Zum einen ist die politische Führung selbst uneinig. Verteidigungsminister
Ehud Barak hatte Ende vergangener Woche noch Frankreichs Initiative nach
einer 48-stündigen Waffenruhe unterstützt, wurde dann aber von
Regierungschef Ehud Olmert und Außenministerin Tzipi Livni überstimmt.
Zum anderen will Israel Fehler aus dem Libanonkrieg vermeiden, in dem die
Zerstörung der Hisbollah-Miliz versprochen wurde, was aber letztlich nicht
gelang. In der israelischen Tageszeitung Haaretz hieß es am Wochenende,
Israel wolle womöglich den Kampfeswillen der Hamas brechen und dann aus der
Position des Stärkeren heraus eine Waffenruhe vereinbaren, in der Israel die
Bedingungen diktiert und nicht Hamas.
Israels Regierung schweigt sich nicht nur über die Ziele der Bodenoffensive
aus und darüber, wie lange sie andauern soll. Unklar ist im Moment auch, ob
die Armee anschließend im Gaza-Streifen stationiert bleiben soll.
Langfristig möchte Israel eigentlich gerne die Verantwortung für den
Gaza-Streifen und die 1,5 Millionen Palästinenser loswerden und sie an
Ägypten übertragen. Ob Israel deshalb bereit ist, den Gaza-Streifen für eine
Übergangszeit wiederzubesetzen, ist fraglich. Neben enormen
Sicherheitsproblemen würde das auch die israelische Wirtschaft nachhaltig
belasten.
Sollte die Bodenoffensive allerdings zum Ziel haben, Hamas zu stürzen und
durch die moderatere Fatah-Gruppe zu ersetzen, könnte eine Beobachtergruppe
aus arabischen und türkischen Truppen den Übergang kontrollieren, wie es der
frühere US-Botschafter in Israel, Martin Indyk, vorschlägt. Vorstellbar wäre
auch, dass Israels Armee so lange im Gaza-Streifen bleibt, bis dort wieder
die Fatah von Palästinenserpräsident Machmud Abbas regiert. Für diesen Plan
spricht die Angst der Hamas.
In den vergangenen acht Tagen haben nach Informationen der israelischen
Tageszeitung Jerusalem Post Hamas-Mitglieder mehr als 70 Fatah-Anhängern in
die Beine geschossen oder ihnen die Hände gebrochen, um zu verhindern, dass
diese den israelischen Einsatz zur Machtübernahme ausnutzen. Hochrangige
Fatah-Mitglieder hatten in Ramallah im Westjordanland bereits erklärt, dass
Fatah bereit sei, nach einem Sturz der Hamas wieder die Macht im
Gaza-Streifen zu übernehmen. |