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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel
6.2. Ausblicke auf die Praxis einer Bildungsarbeit über Antisemitismus

[ZUR DISKUSSION IM FORUM]

Politische Bildungsarbeit über Antisemitismus hätte m.E. verschiedene Aufgaben zu bewältigen, die ich hier idealtypisch formulieren werde. Ich möchte mir nicht anmaßen an dieser Stelle ein schlüssiges Konzept für die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus vorzulegen.

Ich denke allein schon die Kritik und das Bewusstmachen der Aporien und Problematiken in welchen die Pädagogik sich befindet, beinhaltet ein Stück der Erkenntnis dessen, was zu verändern wäre. Von daher möchte ich nur einige Prämissen und Grundlagen aufzeigen, die mir für eine politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus angeraten scheinen und vereinzelt inhaltliche Anregungen für die Praxis geben. Aus der eigenen Tätigkeit, liegt dabei der Blickwinkel häufig auf Seminaren, die maximal fünf Tage dauern und außerhalb des Schulbetriebs in Bildungsstätten stattfinden.

Im Grundsatz gehe ich davon aus, dass politische Bildungsarbeit, die sich der Aufklärung über antisemitische Ideologie und Einstellung verschrieben hat, ihre Adressaten vor allem in freiwilligen und interessierten Personen hat. Selbst wenn man auch bei ihnen Ressentiments vorfindet, so bietet die Offenheit einen wesentlichen Ansatzpunkt dafür auch Unliebsames und Unbequemes an sich heranzulassen. Verhärtete, völlig autoritätsgebundene, Individuen reagieren auf Angebote der politischen Bildung in der Regel mit Abwehr. Ihre beschädigte Ich-Struktur klammert sich innersubjektiv an das ohnehin schon irrationale Realitätsprinzip, um weiterhin das eigene Leiden zu verdrängen und nicht der individuellen Pathologie anheimzufallen. Solche Einzelnen sind der Pädagogik kaum mehr zugänglich. Ein wesentliches Ziel der Arbeit, sowohl mit Jugendlichen, als auch mit Erwachsenen, ist auch die Befähigung zur gedanklichen Durchdringung des Bestehenden. Denn nur in dieser liegt m.E. auch das Potential einer Veränderung, die sich auf der einen Seite nicht dem Utopismus hergibt und andererseits nicht affirmativ gegenüber Herrschaft agiert.

Derartiges ist zuerst auch vom Subjekt in der politischen Bildung zu erwarten, den Bildnerinnen und Bildnern selbst. Ohne die Aneignung einer kritischen Theorie der Gesellschaft wird sich politische Bildungsarbeit, die dem Selbstverständnis einer ‚Erziehung nach Auschwitz’ sich verpflichtet und, in all der Beschränktheit ihrer Möglichkeiten, dem barbarischen Element spätkapitalistischer Gesellschaft entgegenarbeiten will, auf der Ebene der Phänomenologie verharren. So greift es beispielsweise zu kurz in einem Seminar über den Nationalsozialismus nicht auch auf die Entwicklungen des deutschen Nationalismus und die Verinnerlichung des Antisemitismus in die Kultur bezug genommen wird, oder wenn Verbindungslinien der Teilnehmenden bzw. deren Eltern, oder (Ur-)Großeltern ausgespart werden. Gerade letzteres, welches auf das Durchbrechen der intergenerationellen Komplizenschaft zielt, wird von Jugendlichen wie auch Erwachsenen als Zumutung empfunden und kann Abwehrreaktionen hervorrufen. In einem Seminar über Antisemitismus erscheint es mir zu verkürzt nur über eine Geschichte des Antisemitismus zu informieren, auch wenn damit bereits mehr erreicht wäre, als es die herkömmliche Schulbildung betreibt. An diesem oder ähnlichen Punkten auf Einflussnahmen oder Überredungen seitens des pädagogischen Teams zu verzichten ist wesentlich. Aufklärende Pädagogik müsste sich, um von denjenigen welche ihre Rezipierenden sind ernstgenommen werden, selbst entpädagogisieren. Das bedeutet ihre traditionelle Rolle der "zivilisatorischen Integration"[291], die Unwahrheit derer sie Teil ist, offen zu legen und insoweit durchbrechen, als sie die Mechanismen, welche die Individuen am real existierenden Gesellschaftlichen leiden lässt zugänglich macht, ohne in Kulturpessimismus zu verfallen.

Elementares liegt auf dem Gebiet der allgemeinen Seminaratmosphäre und der Erwartungen der im Bildungssektor arbeitenden Personen. In der Arbeit mit Jugendlichen kann sie in den Seminaren ein Klima schaffen, das, wenigstens im Ansatz, jenseits des Messens von Leistungen und der Ausrichtung auf den Zwang zu jedweder Form von praktischer Verwertbarkeit steht. Solch ein Ansatz stellt alle Beteiligten vor Herausforderungen. An die teilnehmenden Jugendlichen, die derartiges aus ihrem Schul- oder Ausbildungsalltag kaum gewohnt sind. Vor allem aber auch die JugendbildnerInnen, die selbst in der Erwartung eines greifbaren Resultats an ihre Arbeit herangehen. Gerade an sie ist aber die Forderung nach Selbstreflexion zu stellen, inwiefern sie nicht einem gesellschaftlichen "kollektive(n) Zwang zu einer Positivität, welche unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt"[292] erliegen, wenn sie beispielsweise in der Seminararbeit auf der Erstellung eines Produktes in Form von Filmen, Plakaten oder anderen ‚kreativen’ Umsetzungen von Seminarinhalten insistieren. Eine solche Produktorientierung erscheint mir eher in längerfristigen Projekten sinnig, wo das Positive einer solchen Arbeit, nämlich auch Erfahrungen im Miteinander arbeiten zu schaffen, nicht zu einer verkrampfenden Praxis gerät.

Weiterhin sind offenbar werdende Mechanismen von Ausschluss und Einschluss in die Seminargruppe zu thematisieren. Auch die Konstitution von kleineren Gruppen folgt den Mechanismen wie sie im Nationalismus sich wiederfinden. Da die Beschädigung des Ichs ein allgemeines gesellschaftliches Problem darstellt, neigen selbst noch relativ vorurteilsfreie Personen zur Bildung von kollektiven Identitäten, die sich selbst als ‚Gute’ setzen und andere ausgrenzen. In dieser Suche nach Gruppenidentität unterscheiden sich, so meine Beobachtung in der Seminararbeit, Schulklassen wenig von alternativen Jugendgruppen oder auch Erwachsenen. In diesen Zusammenhang scheint mir auch die Wichtigkeit ‚des Sprechens für sich selbst’ zu gehören. Sich in der Begründung der eigenen Position auf andere in der Seminargruppe im Sinne eines ‚Wir meinen’ zu beziehen will Verbündete schaffen, weil man sich der eigenen Ansicht und Person nicht sicher ist[293]. Adorno bezeichnet dieses für sich selbst sprechen als Ausdruck von Mündigkeit, weil es zeigen würde, dass die Person "für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet." [294] Ein solches Prinzip vertritt auch die Themenzentrierte Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn, die in der pädagogischen Gruppenarbeit an der Grenze zwischen Pädagogik und Therapie angesiedelt ist, wenn sie für die Arbeit das Postulat aufstellt: "Sei dein eigener Chairman, der Chairman deiner selbst."[295] Aus der eigenen Person heraus zu reden ist eine Voraussetzung für die Fähigkeit am Vorhandenen Kritik zu üben. Auch ein anderes Prinzip der TZI scheint mir sinnvoll und beachtenswert. So sollten Störungen, seien sie bei Einzelnen oder in der Gruppenatmosphäre vorhanden, vorrangig bearbeitet werden[296]. Die Thematisierung und das Wichtignehmen solcher Störungen, die Ausdruck von Unwohlsein darstellen können zeigt auf, wie das Individuum gegenüber dem abzuhandelnden Thema im Vordergrund steht. Ich denke derartige Grundprinzipien in der Seminararbeit sollten unabhängig von deren Inhalt gültig sein, da sie nicht nur zur Schaffung eines besseren Klimas und einem geeigneten Setting beitragen, sondern bereits in der Methodik ein anderes als das gesellschaftlich übliche Umgehen aufscheinen lassen.

Die Betrachtungen des sekundären Antisemitismus haben deutlich gemacht in wie verschiedener Weise der Schuldzusammenhang des Holocaust in Deutschland tradiert und verdrängt wird. Eine politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus sollte sich zentral dieses Themenkomplexes annehmen. Gerade die hier zusammen wirksamen Mechanismen der bundesdeutschen Renationalisierung, die Interessen der deutschen Industrie ihren Profit aus dem Holocaust bis heute zu leugnen, die Selbststilisierung von deutscher Bevölkerung zu den eigentlichen Opfern von Krieg und Vertreibung bieten verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, warum die Suche nach dem ‚Sündenbock’ Juden immer wieder auf das Neue aktiviert wird und welchen Gewinn, nicht nur im materiellen Sinne, die bundesdeutsche Gesellschaft hieraus zieht. Ein Ziel für die politische Bildung wäre zum einen der eklatanten Halb- oder Unbildung über den Nationalsozialismus entgegenzuarbeiten. Wenn, wie Silbermann und Stoffers auf der Grundlage ihrer repräsentativen Befragung von 1997 hochrechnen, beinah 14 Millionen Bundesbürger und Bundesbürgerinnen nicht in der Lage sind die Massenvernichtung zeitlich einzuordnen[297], so ist der Begriff Unbildung sicherlich nicht übertrieben. Zu beachten ist bei solchen Zahlen auch, dass sich als "harter Kern der Ahnungslosen (...) Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau – zumal wenn sie in den neuen Bundesländern leben"[298] erweisen. Ich denke es ist evident, wie die allgemeine gesellschaftliche Problematik der Bildung, wie ich sie unter 6.1. dargelegt habe, hier ihre täglichen Auswirkungen zeigt. So käme politischer Bildung auch die grundlegende Vermittlung von Kenntnissen über die deutsche Geschichte und den NS zu, worin zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit läge ideologiekritische Pädagogik zu betreiben.

Am Beispiel des Kampfes, den Überlebende der Konzentrationslager, der Vernichtung durch Arbeit und der Zwangsarbeit bis heute um die Anerkennung ihres Leidens und um die Zahlung einer ‚Entschädigung’, die gewiss nie das erlittene Unrecht wiedergutmacht, führen, kann die Stereotypisierung von Jüdinnen und Juden als passive Opfer durchbrochen werden. Ähnliches wäre, das sei nur parenthetisch angemerkt, für Seminare und Schulunterricht die ausdrücklich den Nationalsozialismus thematisieren zu empfehlen. Mittels Diskursanalysen von Zeitungsartikeln, angepasst an die kognitiven Möglichkeiten unterschiedlicher Zielgruppen, kann die gesellschaftliche Reaktion auf den Kampf um Entschädigung herausgearbeitet werden. So kann eine Sensibilität für offene und krypto-antisemitische Äußerungen in den Massenmedien befördert werden.

Ein weiteres Beispiel würde die Bearbeitung der historischen Berechtigung und Notwendigkeit der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten der heutigen Tschechischen Republik und Polens darstellen. So erschütternd und schmerzhaft Einzelschicksale dieser, als Vertreibung titulierten, Umsiedlung gewesen sein mögen. Auch wenn es richtig ist dieser einen Raum zu geben, umso notwendiger erscheint gerade an diesem Topos eine genaue historische Einordnung zu betreiben. Nicht hinwegzudeuten ist die Tatsache, dass die Umsiedlung eine Folge des deutschen Nationalsozialismus ist und sie zudem "in dem bis heute gültigen Potsdamer Abkommen (Artikel XIII) völkerrechtlich verbindlich festgelegt ist.[299]"

Solche geschichtlichen Zusammenhänge zu vermitteln stellt insofern einen Bezugspunkt aufklärerischer Pädagogik gegen Antisemitismus dar, als gerade der Versuch der Selbststilisierung der deutschen Nation als Opfer über Entkontextualisierungen der Ereignisse wesentlich mit Bezug auf den Vertreibungsdiskurs betrieben wird. Die damit angestrebte Einreihung in denselben Status, wie er, und nur hier stimmt der Begriff, den Opfern des antisemitischen Wahns zukommt ist eine Notwendigkeit für einen bruchlosen Bezug auf die Nation als positiven Wert. Dieser Bezug auf die Nation hat trotz, oder gerade, angesichts eines globalisierten Kapitalverhältnisses Konjunktur. Solcher Renationalisierung könnte politische Bildung etwas entgegensteuern, wenn sie, statt Geschichte zu individualisieren, dabei hilft Zusammenhänge zu verstehen. Die Beschädigungen herrschaftlich Subjektivierter und deren Sehnsüchte nach Kompensation der eigenen Ich-Schwäche können qua Aufklärung allerdings nur bedingt ‚geheilt’ werden. Eine Veränderung der permanenten Ohnmachterfahrung, auf der das schwache Ich eben auch basiert ist und bleibt eine gesamtgesellschaftlich-kulturelle Aufgabe.

Daran schließt sich logisch an, dass jegliche Arbeit gegen Antisemitismus die Problematik des deutschen Nationalismus, auch in seiner Form als sogenannter Verfassungspatriotismus zu bearbeiten hätte. Dies kann sowohl auf der Ebene von Wissensvermittlung geschehen, als auch, bei Jugendlichen, heruntergebrochen werden auf die Ebene von Gruppenkonstitutionen die ihnen aus dem Alltag bekannt sind: Klassenzusammenhänge, Peer-Groups und ähnliches. Deren Mechanismen von Ausgrenzung und der Zwang, der zur Anpassung ausgeübt wird dürfte den meisten Jugendlichen bekannt sein. Jede Gruppenkonstellation verfügt über spezifische Rituale, Initiationsriten ähnlich oder Codes an denen sich das Drinnen und Draußen festmachen lässt. Mir erscheint dieser Bereich gut geeignet komplexere Themen sinnlich erfahrbar zu machen durch den Einsatz von Rollenspielen oder Theaterübungen aus Augusto Boals Theater der Unterdrückten[300]. Diese wären anschließend wieder auf den kollektiven und gesellschaftlichen Zusammenhang rückzubeziehen. Das gilt für jeglichen Einsatz von Übungen, Methoden und auch von Filmen, deren Sinn vor allem darin liegt, Abstrakteres leichter zugänglich zu gestalten und die Möglichkeit zu bieten es sinnlich zu erfahren. Bereits der Einsatz von oben genannten Übungen stellt eine Konzession dar, an die real vorhandenen beschränkten Möglichkeiten vieler Teilnehmer und Teilnehmerinnen in Jugendseminaren Erfahrungen zu machen oder Abstraktionen zu vollziehen.

Es wäre eine weitere Aufgabe der politischen Bildung zu analysieren, inwieweit nicht die aktuell anvisierte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, in der sogenannten Agenda 2010 der Bundesregierung, dazu geeignet ist einen sinnentleerten und repressiven Begriff von Arbeit zu betreiben. Arbeitlose sollen in qua repressiven Maßnahmen dazu verpflichtet werden sollen jedwede Arbeit anzunehmen, losgelöst von deren Inhalt und Sinn, nur um den strukturell krisenhaften Charakter des Verwertungszusammenhangs zu verschleiern. So der Diskurs vom ‚Sozialmissbrauch’ geschürt und damit der Hass auf diejenigen, die nicht verwertbar sind oder sich solcher kapitalistischen Verwertung im Ansatz verweigern. Das Prinzip der vorgeblichen Nicht-Arbeit wird derart weiterhin auf gesellschaftlich Marginalisierte oder die Juden projiziert, wie es gerade der häufigen Rede von der Macht der Finanzmärkte innewohnt. Solches eingehender an den aktuellen Konzepten zu untersuchen, zu kritisieren und in der praktischen Arbeit zum Thema zu machen wäre m.E. eine weitere Zielsetzung der politischen Bildung, die das Problem des Antisemitismus und des Nationalsozialismus zu ihrer Profession macht. Zu insistieren ist hier im Angesicht der enormen Produktivkräfte und des Standes der Technik auf einer Haltung, die der Adornos entspricht:

"Es ist Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern sich geistig lieber zu entfalten."[301]

Am zentralen Thema Arbeit zeigt sich deutlich die Begrenzung politischer Bildung angesichts gesellschaftlicher Kräfte und dem auf sie wirkenden strukturellen Zwang das Verwertungsinteresse zu sichern und damit auch die Subsumtion der Subjekte unter das Kapitalverhältnis aufrechtzuerhalten. Dennoch böte sich politischer Bildung hier die Möglichkeit der Aufklärung darüber, dass reale Probleme und damit einhergehende Ängste, in denen sich Jugendliche befinden, aus dem Kapitalismus immanenten Zwängen resultieren und keinem individuellen Versagen oder den Objekten der Projektionen anzulasten sind. An diesem Punkt ist Norbert Hilbig zuzustimmen, wenn er formuliert:

"Gegen den Arbeitsmythos, dem gerade in dieser Zeit hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut allgemein zugesprochen wird, müssen wir das Naturrecht auf Glück, müssen wir den Wert der Freude, die Inthronisierung des Lustprinzips fordern."[302]

Politische Bildung kann über den ideologischen Charakter des Arbeitsmythos aufklären, die materiellen Verhältnisse so einrichten. Auf eine Veränderung von Produktions- und Distributionsbedingungen hat sie keinen Einfluss. Zu beachten wäre an diesem Punkt m.E. nicht durch vereinfachende Erklärungsmuster die Rolle der Finanzmärkte als pars pro toto zu nehmen und somit selber strukturell antisemitische Ressentiments zu befördern, wie sie sich in weiten Teilen der sogenannten Anti-Globalisierungsbewegung oder auch bei Jugendlichen aus den Gewerkschaften wiederfinden. Ich denke diese Problematik ist aus den Ausführungen in Kapitel 4. deutlich geworden.

Daran anknüpfend wäre m.E. auch die Form des deutschen Diskurses über Israel aufzugreifen. Es ist beileibe nicht Allgemeingut, dass die Form der Gründung des jüdischen Staates speziell eine Folge der Vernichtung des europäischen Judentums ist, und dass im Angesicht von Nachbarstaaten, die Israel von Beginn an militärisch zu vernichten drohten, jeder verlorene Krieg die Existenz dieses Staates in Frage gestellt hätte. Ich denke diese beiden Tatsachen zu vermitteln und dabei auch Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufzuzeigen, dass die Gruppe mit der sie sich solidarisch fühlen, die palästinensische Bevölkerung, in erster Linie gerade von den arabischen Nachbarstaaten funktionalisiert und unterdrückt wird. Die Identifikation jugendlicher MigrantInnen in Deutschland mit einem religiösen oder panarabischen nationalen Kollektiv entspringt wohl den gleichen Quellen wie auch der autoritäre Charakter sonst. Ein Ansatzpunkt könnte hier sein, den Jugendlichen zu vermitteln, dass die Ausgrenzung, gerade auch wo sie rassistischen Charakter besitzt, zum Teil ähnlichen Mechanismen nachgeht, wie auch der Antisemitismus.

Abschließend sei noch ein wichtiges Element genannt, welches in Seminaren gegen Antisemitismus einen wichtigen Platz einnehmen sollte: Die Thematisierung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens im Post-Holocaust Deutschland. Dieses Thema erfährt seine Wichtigkeit daraus, dass die Existenz des Judentums in Deutschland nach wie vor keine Selbstverständlichkeit ist und in der Regel im Zusammenhang mit den regelmäßig aufkommenden physischen oder diskursiven Äußerungen von Antisemitismus oder dem Holocaust im Alltagsbewusstsein verbunden werden. Solcherart besteht eine gesellschaftliche Tendenz der Unsichtbarkeit jüdischen Lebens oder im besten Fall eine Wahrnehmung im Rahmen einer verkommerzialisierten, kulturindustriellen Präsentation eines "Jewish Disneyland", wie sie beispielsweise in Berlin-Mitte wahrnehmbar ist. Worum es in der politischen Bildung allerdings keinesfalls gehen kann, ist die vergangenen Leistungen von Jüdinnen und Juden für die deutsche Kultur hervorzuheben.
Solches gäbe noch dem Antisemitismus in der Form nach, als gälte es zu beweisen, dass die Juden nicht mit jenen Eigenschaften behaftet sind, welche die Antisemiten auf sie stereotyp projizieren. Vielmehr könnte die Thematisierung jüdischer Kultur ihrer Unsichtbarmachung ein Stück entgegenwirken. Vor allem jedoch kann durch die Arbeit mit Biografien von Juden und Jüdinnen ein empathisches Verhältnis zu deren Erleben der nicht-jüdischen Gesellschaft herstellen. So kann beispielsweise erfahrbar gemacht werden, welche Erfordernis die Erinnerung an die Vernichtung des europäischen Judentums noch für Juden und Jüdinnen in der dritten Generation nach Auschwitz darstellt. Hierzu sei noch eine Anmerkung aus der Praxis beigefügt. Die Arbeit mit biografischen Übungen, auch solchen, welche persönliche Aspekte des Lebens von nicht-jüdischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Verhältnis sowohl zum Judentum, als auch zum Antisemitismus aufgreifen, können starke Psychodynamiken in Gang setzen, die sich in aggressiver Abwehr und Blockaden äußern. Hier zeigt sich wie schwerwiegend die Verstrickung in den sekundären Schuldzusammenhang in den Subjekten wirken können. Diese Blockaden aufzugreifen und, wo möglich, zu bearbeiten, darum führt kaum ein Weg herum.

[ZUR DISKUSSION IM FORUM]

  • [291] Theodor W. Adorno: Tabus über den Lehrberuf, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II, a.a.O., (1965), S. 663.

  • [292] Theodor W. Adorno: Kritik, in: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, a.a.O., (1969), S. 19.

  • [293] In leicht abgewandelter Form liegt dieses Prinzip jeder wissenschaftlichen Arbeit zugrunde, so auch der vorliegenden Ausführung. Ich erachte es selbstverständlich für integer, den fremden Gedanken nicht als den eigenen auszugeben, ihn also qua Zitat kenntlich zu machen, dennoch scheint mir die Reflexion darauf notwendig.

  • [294] Adorno: Kritik, a.a.O., S. 10.

  • [295] Ruth Cohn zit. nach: Michael Galuske: Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, Weinheim und München (Juventa) 1998, S. 257.

  • [296] Vgl. ebda., S. 257.

  • [297] Vgl. Alphons Silbermann / Manfred Stoffers: Auschwitz: Nie davon gehört? Erinnern und vergessen in Deutschland, Berlin (Rowohlt) 2000, S. 23.

  • [298] Ebda. S. 24.

  • [299] Samuel Salzborn: Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession, in: Michael Klundt et al: Erinnern, Verdrängen Vergessen, a.a.O., S. 25.

  • [300] Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989.

  • [301] Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, a.a.O., S. 117.

  • [302] Hilbig, a.a.O., S. 80.

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17-08-2004


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