Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz
5.2. Projektionen und Täter-Opferumkehrungen:
Schuld- und Erinnerungsabwehr
Die Abwehr von Schuld und Erinnerung zeitigen ein aggressives Verhalten
demjenigen gegenüber, "der auch nur davon spricht, (...) als wäre er, wofern
er es ungemildert tut, der Schuldige, nicht die Täter."
Diejenigen, die von der Vergangenheit sprechen oder sie repräsentieren sind
im Post-Holocaust Deutschland in erster Linie zwei Gruppen: Die Alliierten,
also die Sieger über Nazi-Deutschland und die verschiedenen Gruppen der
Überlebenden von deutschem Terror und Vernichtung, also der Displaced
Persons, vor allem aber die Juden. Ohne eine affirmative Haltung zum
Nationalsozialismus einzunehmen, werden zur eigenen Entlastung, Schuld und
Verantwortung auf andere Kollektive, zum Beispiel die ehemaligen Alliierten,
projiziert. Diese Projektionen sind der kritischen Theorie zufolge derartig
eng mit Rationalisierungen verknüpft dass es schwierig ist, "eine Grenze zu
ziehen zwischen dem zweckmäßigen Versuch, durch Aufmachung eines
Schuldkontos für den Partner sich selbst zu entlasten, und der unbewussten
und zwanghaften Übertragung eigener Neigungen und Triebtendenzen auf
andere."
So geraten, wie es auch meiner eigenen Wahrnehmung entspricht, Diskussionen
über Auschwitz und deutsche Verbrechen häufig zu einem wahren Zehnkampf der
berührten Topoi. Es ist als gelte es möglichst jeden Punkt, in dem ein Teil
des familiären oder nationalen Kollektivs Leid erfahren hat, anzuführen, um
die Leiden, welche durch die Vorfahren verursacht wurden, zu relativieren
oder die Ursachen bei den Opfern zu suchen. Der Thematisierung von derlei
Struktur wird dann in der Regel ausgewichen.
Max Horkheimer erfasst den Mechanismus der Täter-Opfer Umkehrung, in den das
individuelle wie das kollektive Moment gehört, folgendermaßen:
"Verletzter Stolz bedeutet eine Wunde im Kollektiv nicht weniger als im
Individuum. Die Juden, die die Opfer waren, sie sind mit dem Gedanken an die
Katastrophe verknüpft, mit der von Deutschen wie mit der an Deutschen
geübten Gewalt. Im Unbewussten werden die Rollen vertauscht. »Nicht der
Mörder, der Ermordete ist schuldig.« Narzißtische Kränkung zu überwinden,
ist überaus schwer, und noch die Generation, die gar nicht beteiligt war,
leidet an der Wunde, die sie selbst nicht kennt."
Beliebt ist die irrationale Aufrechnung von deutscher Schuld am Beispiel
Dresden, dessen Bombardierung gar diskursiv in den Status von
Kriegsverbrechen erhoben wird. Doch schon in der "Aufstellung solcher
Kalküle, der Eile durch Gegenvorwürfe sich zu dispensieren" wird das Bemühen
sichtbar die eigene kollektiv-narzisstische Kränkung auf Kosten anderer zu
heilen. Ein starkes Moment von Unmenschlichkeit liegt in solchem Bemühen um
Schuldaufrechnung, die völlig "Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell
überdies Coventry und Rotterdam hieß" aufwiegen will gegen die
"administrative Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen."
Das regressive Moment der sadistischen Ich-Schwachen hinter solchen
Projektionen ist unübersehbar. In den gleichen Komplex von Relativierung
deutscher Vergangenheit fällt die Rede über die Appeasement-Politik der
späteren Alliierten gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, mit
welcher der wesentliche Unterschied einer unterlassenen Hilfeleistung und
dem verübten Mord verwischt werden soll. Jegliche Kritik, die den
irrationalen Charakter solcher Projektionen offen legt, wird von den
Betreffenden in Reaktion darauf aggressiv abgewehrt werden, um den Preis
erneuter Umkehrung der Realität. Ein Beispiel davon hat Alfred Dregger am
17. Juni 1983, zu dieser Zeit Vorsitzender der regierenden CDU/CSU-Fraktion,
in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit geliefert.
"Dregger führte aus, die preußisch-deutschen Tugenden Opferbereitschaft,
Pflichtbewußtsein und Vaterlandsliebe seien durch das »Dritte Reich«
hindurch relativ unversehrt erhalten geblieben; »ein Trauma unserer
Selbsteinschätzung« sei erst entstanden, nachdem Kritische Theorie und
Studentenbewegung die »deutsche Identität ins Zwielicht gerückt« und die
»deutsche Geschichte abgewertet hätten."
So nahe Dregger der Wirklichkeit eines Fortexistierens von
"preußisch-deutschen Tugenden" im Post-Holocaust Deutschland kommt, so wenig
kann er die kollektiv-narzisstische Kränkung der militärischen Niederlage
des NS erkennen und projiziert die daraus
entstandenen Aggressionen auf die Kritiker der "deutschen Zustände"
oder wie Adorno es ausgedrückt hat:
"Immer noch gilt das Wort des alten Helvetius, daß die Wahrheit noch
niemandem geschadet hat, außer dem, der sie ausspricht."
Das stereotype Denken und das Reden in Klischees, diese Ausdrücke der
antisemitischen Struktur, finden noch ihren Wiederhall in der Verwendung des
kollektiven Singulars für andere Kollektive. Während mit größter
Unbefangenheit über andere die Rede von dem Amerikaner, dem Engländer etc.
geführt wird, verbiete man über sich selbst dergleichen als falsche
Verallgemeinerungen.
Insgesamt bekommen die Erinnerungen an eigenes Leiden, als welches auch das
derjenigen betrachtet wird, die aus dem gleichen Täterkollektiv stammen, die
Funktion einer kollektiven ‚Deckerinnerung’, wie es Birgit Rommelspacher
benennt. Kommt die Rede auf den Nationalsozialismus wird viel erzählt: über
Krieg, Gefangenschaft und Vertreibung. Derart gerät der Krieg zur Chiffre
des Nationalsozialismus und erhält Verdrängungsfunktion.
In dieser Beliebigkeit wird Schuld eine "gänzlich innerlich-subjektive
Kategorie."
Diese "subjektivistische Relativierung"
verschleiert, was in den Bereich der objektiven Verantwortlichkeit fällt und
verhindert geradezu eine Artikulation des Gewissens.
So lässt sich mit dem Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke
zusammenfassend festhalten:
"Der Nachkriegsantisemitismus speist sich aus der unaufgearbeiteten
Identifizierung mit der NS-Ideologie wie aus der Abwehr, sich mit dem Kern
des Nationalsozialismus zureichend auseinanderzusetzen."
Auch wenn der Volksstaat, der zur Identität von individuellem und
herrschaftlichem Interesse mit Integration und Terror beigetragen hat,
zerschlagen ist, herrscht das Prinzip des abstrakten Tausches nach 1945
weiter und auch die NS-Ideologie, deren zentrales Ideologem der
Antisemitismus darstellt ist nicht aus den Köpfen verbannt.
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