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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht:
2.1. Grundlagen der Entstehung des Subjekts

Die Verbindung, welche kritische Theorie zwischen der Psychoanalyse Sigmund Freuds und einer materialistischen Gesellschaftskritik geschaffen hat, ist ein Meilenstein in der Fortentwicklung der Sozialwissenschaften[16]. Gerade Freuds in der Aufklärung wurzelnde Haltung, seine Entwicklung der Psychoanalyse zur materialistischen Wissenschaft und das spekulative Element, welches sich in der Triebtheorie äußert, bietet den Kritischen Theoretikern die Anknüpfungspunkte.

Aus Freuds Theorie heraus entwickelte die Kritische Theorie das politisch-psychologische Konzept der autoritären Persönlichkeit, oder anders des autoritär-masochistischen Charakters, dessen Ich-Struktur durch gesellschaftliche Faktoren geschwächt und gestört ist. Diese Form beschädigter Subjektivität, die sich offen zeigt für antidemokratische und antisemitische Einstellungen, ist nicht zu denken ohne Bezug auf die selbst schon irrationale Form moderner Gesellschaft. Trotz der Integration analytischer Psychologie verweist Adorno darauf, dass der Antisemitismus nicht psychologisiert werden sollte. Eine Deutung als bloß subjektives Problem weist er bereits in der Studie über die Authoritarian Personality zurück: "We do not pretend that psychology is the cause and ideology the effect. But we try to interrelate both as intimately as possible (…)"[17].

Dementsprechend sind auch die Entstehungsgründe der autoritären Persönlichkeit nicht nur in falscher Erziehung zu suchen.

Die autoritäre Persönlichkeit, beschrieben als Idealtypus, zeichnet sich aus durch eine unreflektierte Bindung an soziale Normen und Werte, die sich in starker und steifer Konventionalität und einem Hang zum Konformismus ausdrückt. Autoritätsgebundene Individuen ordnen sich in der Regel Autoritäten blind unter, wobei sie ihre eigene, real erfahrene, Ohnmacht kompensieren, in dem sie alles was ihnen machtvoll erscheint überhöhen. Zugleich zeigen sie sich aggressiv und hängen oft roher physischer Gewalt an oder delegieren diese. In bezug auf Emotionen zeigen sich autoritäre Persönlichkeiten insensibel und kalt. Engagement und Interesse an sozialen Fragen ist ihnen äußerlich und fremd. Dafür äußern sie sich oft sexualisierend und sind insgesamt fixiert auf Dinge die dem Trieblichen zugehören. Das Denken Autoritätsgebundener ist festgelegt auf Stereotype und Personalisierungen von Sachverhalten, wobei eigene nicht zugelassene Wünsche oder Regungen auf andere Personen oder Gruppen projiziert werden. Statt solidarische Gefühle gegenüber anderen zu entwickeln, zeigen sie sich anfällig für Vorurteile, agitatorische Manipulation und suchen in Gemeinschaften narzisstische Aufwertungen ihrer Person oder Eigengruppe[18].

Das stereotype Denken der Autoritätsgebundenen, welches weiter unten eingehender erläutert wird, bildet das psychische Pendant zu einer Produktionsweise, die im Zuge der Massenproduktion auf standardisierten Abläufe und nur scheinbar einmaligen Varianten sich wiederholender Schemata basiert. Einher mit dem Autoritarismus geht auch immer eine Ablehnung dessen, was gesellschaftlich als weiblich gilt. Daraus wird die Folie zur Ablehnung dessen, was als ‚anders’ gilt gebildet. Nicht zufällig werden auch den Juden oft sogenannte feminine Züge, wie Schwäche, Gefühlsbetontheit, Sinnlichkeit oder auch Homosexualität angedichtet[19].

Der autoritäre Charakter ist das völlige Gegenteil einer autonomen, kritisch-reflektierten und mündigen Persönlichkeit, wie sie vom Denken der Aufklärung intendiert ist. Er liegt aber zugleich in der gescheiterten Aufklärung und ihrer ursprünglichen Begrenzung auf das männliche Subjekt begründet. Da durch diese Charakterform die Mehrheit der Mitglieder in den entwickelten Ländern ausgezeichnet sind, wird sie nicht als abweichende Problematik erkannt, sondern stellt tendenziell eine Norm dar. Aufgrund dessen erfolgt ihre Unter­suchung und Problematisierung in den Sozialwissenschaften eher marginal. Die Form des Charakters bildet sich in den ersten Kindheitsjahren, wobei die Kritische Theorie von einem dynamischeren Begriff des Charakters ausgeht als es Freud getan hat. Der Charakter leistet nach Freud die Vermittlung zwischen menschlichen Trieben und dem was gesellschaftlich erforderliches Verhalten darstellt. Da Freud die bürgerliche Gesellschaft als Endzustand begreift, geht er von der Notwendigkeit einer solchen Vermittlung aus. Die Integration des Menschen in die bestehende Kultur ist ihm ein notwendiger Vorgang, mag dieser daran noch so viel leiden. Die Genese des autoritär-masochistischen Charakters wird im Weiteren dargestellt.

Im wesentlichen gründet die Kritik des Autoritarismus seitens Kritischer Theoretiker auf Freuds Modell der psychischen Instanzen. Diese drei Instanzen, das Es, das Ich und das Über-Ich, bilden laut Freuds Theorie den psychischen Apparat. Dessen ältester Teil, als grundlegende und zuerst existierende seelische Instanz, ist das Es. Aus ihm entstammen auch die Triebe[20]. Wesentlich bestehen zwei Gruppen von Trieben als treibende Kräfte der menschlichen Psyche: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe. Die den letzteren inne­wohnende Energie benannte Freud als Libido[21]. Das Es ist bestrebt diese ur­sprüng­lichen Triebe zu befriedigen und nimmt dabei keine Rücksichten auf die physische Aufrechter­­haltung des Menschen. Die Orientierung des Es ist allein das Lustprinzip.

Das Ich entwickelt sich im Laufe der menschlichen Persönlichkeitsbildung aus einem Teil des Es heraus und vermittelt zwischen diesem und der Außenwelt. Das Ich wird aufgebaut auf der Grundlage individueller Erfahrungen mit diesem Äußeren, insofern orientiert sich das Ich am Realitätsprinzip[22]. Die konstruktive Leistung der Ich-Instanz besteht darin, "daß es zwischen Triebanspruch und Befriedigungshandlung die Denktätigkeit einschaltet, die nach Orientierung in der Gegenwart und Verwertung früherer Erfahrungen durch Probehandlungen den Erfolg der beabsichtigten Unternehmung zu erraten sucht."[23]

Unter dem Einfluss des Ich werden also die Befriedigungen der Triebe reguliert. Das Ich kann anhand seiner Erfahrungen entscheiden, ob solche Befriedigung opportun erscheint oder nicht. Diese Entscheidungen können ergo zur Triebunterdrückung oder –verschiebung, zur Sublimierung des Wunsches führen. Dennoch bleibt das Ich auf Lustgewinn ausgerichtet und strebt nach Allmacht, seine primäre Struktur ist narzisstisch. Das Ich steht in einem permanenten Druckverhältnis zwischen den aggressiven Forderungen des Es und der Außenwelt. Da seine Herkunft im Es liegt, ist es gegen dieses nicht scharf abgegrenzt. Die Abwehr gegen die Forderungen des Es bleiben unzulänglich und können nur temporär unterdrückt werden, so führt der Verzicht auf die Trieberfüllung zu äußeren Aggressionen.

Adorno fasst das Ich, in Erweiterung des Freudschen Begriffs, dialektisch auf als etwas Psychisches und Außerpsychisches zugleich. Seine Funktion als "Organisationsform aller seelischen Regungen, als Identitätsprinzip, welches Individualität erst konstituiert"[24] beschreibt noch die klassische Psychoanalyse. Wie oben erwähnt orientiert sich diese Funktion des Ichs an der Innenwelt, der Libido, und der Außenwelt. Prägnant skizziert  Weyand die Dialektik des Ichs: "Das psychologische Moment ist bezogen auf die Vermittlung der im Charakter verfestigten psychischen Innenwelt und der Außenwelt. Das nicht-psychologische Moment ist (...) auf die sachlich angemessene Reflexion darauf, also auf die Reflexion der eigenen Lebensbedingungen, bezogen. Reflektiert das Ich auf sein Verhältnis zur Außenwelt, so bezieht es sich in seiner Reflexion auf sich, d.h. die Beziehung ist reflexiv. Das ist nur möglich, wenn das Ich das Moment der Selbständigkeit gegen seine Innenwelt und seine Außenwelt hat."[25]

Zwar benötigt auch die psychologische Komponente des Ichs ein Moment der Selbständigkeit, da sie ansonsten unfähig wäre ihre Vermittlungstätigkeit zwischen Es, Über-Ich und der Außenwelt zu gewährleisten. Aber das psychologische Ich ist nicht die Instanz der Reflexion, es unterscheidet nicht zwischen richtig und falsch. Seine ständige Überforderung ist dem Gesellschaftlichen geschuldet. Es wird quasi aufgerieben, bleibt unidentisch, zwischen libidinösen Bedürfnissen und der realen Selbsterhaltung: "In der antagonistischen Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich, Sozialcharakter und psychologischer in einem, und Kraft solcher Spaltung a priori beschädigt."[26]

Entscheidend sind an Adornos Begriff von einem dialektischen Ich die Möglichkeit der Reflexion und die Einbeziehung der gesellschaftlichen Struktur. Das schwache Ich ist zwar unfähig zur aktuellen Selbstreflexion der eigenen Lebensbedingungen, als Möglichkeit bleibt sie ihm jedoch vorhanden. Die entscheidende Konsequenz daraus ist, dass die Autoritären nicht freizusprechen sind von der Verantwortung für die Folgen ihrer Handlungen. Wie weit es gelingt das Ich und damit die Reflexionsfähigkeit zu stärken, ist auch eine wesentliche Frage der Erziehung in der Kindheit. Das betrifft nicht nur die Position der Eltern, sondern auch die von Schule und politischer Bildung, die, das möchte ich vorweg­nehmen, bereits in der Grundschulzeit einsetzen sollte. Was in der Beschränkung, auf welche ich in Kapitel 6. eingehen werde, durch Pädagogik zu erreichen ist, wäre eine früh­kind­liche Überforderung durch übermäßigen autoritären, wie gesellschaftlichen, Druck abzubauen.

Die dritte psychische Instanz, das Über-Ich, entwickelt sich in Freuds Sichtweise aus dem Ich heraus. Das geschieht unter dem Einfluss der Eltern[27], als äußeren Autoritäten, in den ersten Lebensjahren. Das Über-Ich repräsentiert die gesellschaftlichen Normen, Werte, Gesetze und Sitten im psychischen Apparat. Es bildet somit den verinnerlichten kulturellen Überbau in der Persönlichkeit. Qua Integration eines Teils der Außenwelt, also über Identi­fizie­rung, setzt die neu geschaffene psychische Instanz die Tätigkeit der Eltern (und später der LehrerInnen und ErzieherInnen) im Inneren fort. Ein Teil des Realitätsprinzips findet sich damit im Über-Ich. Das Über-Ich wirkt dabei häufig rigider als die äußeren Instanzen auf das Ich ein[28]. Erich Fromm hat die Funktion der Eltern in diesem Prozess präzisiert. Seine Bezeichnung der Familie als "psychologische Agentur der Gesellschaft"[29] weist darauf hin, dass die Inhalte des Identifizierungsprozesses, die Normen, Werte und Er­ziehungs­ideale, nicht unabhängig von der sozialen Lage der Familie sind. Vielmehr transportiert die Familie, die in der jeweiligen Klasse und im sozialen Milieu relevanten Normen zusätzlich oder auch abweichend zu den allgemein gesellschaftlich relevanten Einstellungen. Festzuhalten ist daran, dass der Familie die Rolle der Anpassung der Kinder an die gegebene Gesellschaftsformation zukommt. Diese Funktion hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt. In immer früheren Stadien der individuellen Ent­wick­lung, als sie noch die Kritische Theorie sieht, übernehmen außerfamiliäre "gesellschaftliche Gruppen, etwa das Fernsehen oder die Jugendgruppe"[30] die ursprüngliche Rolle der Familie als Sozialisationsinstanz. Freud sieht die Eindämmung der aggressiven Neigungen und der Sexualität als kulturelle Leistung an. Aus diesem triebökonomischen Gewinn speist sich das menschliche Unbehagen in der Kultur: "Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücks­möglich­keit ein Stück Sicherheit eingetauscht."[31]

Erst mit der Ausprägung des Über-Ichs lässt sich von der Existenz eines Gewissens sprechen und der Möglichkeit von Schuldbewusstsein. Das Gewissen entsteht durch Introjektion der, eigentlich aus dem Ich stammenden, Aggressionen, welche durch deren Unterdrückung gegen das Ich selbst gerichtet werden:

"Dort wird sie (die Aggression, I.S.) von einem Anteil des Ich übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als >>Gewissen<< gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis."[32]

Dieses Strafbedürfnis drückt bereits aus, wie das Ich unter dem Einfluss des sadistischen Über-Ichs masochistisch geworden ist. Fromm hat herausgestellt, dass dieser Prozess der Bildung des Über-Ichs ein dialektischer ist. Infolge der Verinnerlichung der gesell­schaftlichen Autorität verklärt das Individuum diese Autorität, indem es die Eigenschaften des eigenen Über-Ichs wiederum auf die äußere Gewalt überträgt. Nur über diesen Prozess der Projektion, in welchem der äußeren Gewalt "Über-Ich-Qualitäten" zugesprochen werden, wird erklärlich, warum die Existenz von Autorität als anthropologische Konstante, als etwas Natürliches, betrachtet wird. Durch den Mechanismus der Projektion ist jeglicher Begriff von Autorität rationaler Kritik entzogen. Die Funktion dieser psychischen Instanz ist also gekoppelt an Form und Inhalt der maßgeblichen gesellschaftlichen Autoritäten und würde mit diesen verschwinden, bzw. ihren Charakter verändern[33].

Die Ausbildung von Individualität, die Bildung des Ichs der Einzelnen, verortet die Freudsche Psychoanalyse im wesentlichen in der ödipalen Phase, also im Alter von vier Jahren. In dieser Phase soll sich das Kind aus dem Abhängigkeitsverhältnis von der Mutter lösen, die väterliche Autorität verinnerlichen und sich mit deren Träger identifizieren. In dieser Abfolge führt die Identifizierung, die ihre Ursache in den primären Identifizierungen des Kindes mit der Mutter hat, zur Bildung des Über-Ichs. Freud postuliert die Lösung des Ödipuskomplexes durch das männliche Kind als notwendige Bedingung der Ausbildung der dritten psychischen Instanz. Demnach empfindet der Junge für die Mutter, als "erstes und stärkstes Liebesobjekt"[34], in der Zeit seiner Libidoentwicklung, in der phallischen Phase während des Alters von zwei bis drei Jahren ein starkes genital-sexuelles Verlangen. Der Vater, bisher Repräsentant von Stärke und Autorität, wird dem Kind nun zum Rivalen, den es beseitigen möchte. Folgt man Freud, so greift die Mutter in Reaktion auf dieses Verlangen, das sie nicht billigen kann, zur Drohung der Kastration. Diese Kastrations­drohung ist die erste massive narzisstische Verletzung[35]. Die sich entwickelnden Aggressionen des Kindes richten sich gegen den Vater, welcher ihm die Wunsch­befriedigung unmöglich macht. Da die väterliche Autorität dem kleinen Jungen jedoch übermächtig erscheint, wird diese schwierige Situation in Freuds Analyse gelöst, indem das Kind die Autorität "durch Identifizierung in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird und in den Besitz all der Aggressionen gerät, die man gern (...) gegen sie ausgeübt hätte."[36]

Das Ich des Kindes ist somit gezwungen seine Rolle als Erniedrigtes anzuerkennen. Im Subjekt entstehen sowohl die innere Angst vor der Autorität, als auch deren Anerkennung.

Dieser Triebverzicht bildet in der Freudianischen Psychoanalyse das Modell der Entstehung von Kultur. Während aber durch den Prozess der Verinnerlichung die Liebe, seitens und zu, der äußeren Autorität gewahrt bleibt, bleiben im Innern die aus der Aggression des Ich entstehenden Schuldgefühle und Ängste bestehen. Das Ich kann sie vor dem Über-Ich nicht geheim halten und wird permanent von diesem Repräsentanten kultureller Anforderungen unterdrückt.

Bereits Fromm problematisierte die Auffassung des Ödipuskomplexes durch Freud. Die Rollen von Vater und Mutter sind bei Fromm nur die von Repräsentanten patriarchaler gesellschaftlicher Verhältnisse. Im zeitlichen Ablauf frühkindlicher Entwicklung ist der Vater "zwar dem Kind gegenüber (...) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, aber (inhaltlich gesehen) ist er nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild."[37]

Es ist die autoritäre Struktur des Gesellschaftlichen, vertreten durch die verschiedensten Repräsentanten von ErzieherInnen, über die Mitschüler oder auch LehrerInnen, welche die Individuen verinnerlichen. Trotz einiger Revisionen des Freudschen Verständnisses vom Ödipuskomplex rückt die Kritische Theorie allerdings nicht von diesem problematischen Modell ab.

Für das weibliche Kind behauptet Freud die Existenz des Penisneides als wesentlich. Es wäre von vergeblichem Bemühen gekennzeichnet, die männliche Masturbation in der phallischen Phase zu imitieren. Da das Mädchen hieraus, mangels eines Penis, nicht ausreichende Befriedigung erlangen würde, ließe es von seinem Tun ab und würde die gefühlte ‚Minderwertigkeit’ auf seine ganze Person ausdehnen. Die normale weibliche Ent­wicklung sieht Freud darin, dass sich das Mädchen von der Mutter lösen würde, da es ihr den angeblichen Mangel des fehlenden Penis verüble. In einem Prozess der Identifizierung wendet es sich dem Vater zu und will die Rolle der Mutter bei ihm einnehmen. An die Stelle der Mutterbindung tritt die Mutteridentifizierung.[38] Den scheinbar natürlichen Kinderwunsch der Frau sieht Freud als Resultat aus der Abspaltung des Wunsches nach einem Penis. Die Mutter bleibt, da sie nicht nur als Schuldige für den nichtvorhandenen Penis betrachtet wird, sondern auch zwischen dem Mädchen und dem Vater steht, ein Objekt des Hasses. Frauen treten bei Freud dem Kulturellen als hemmend gegenüber, da sie "die Interessen der Familie und des Sexuallebens"[39] vertreten und der Triebsublimierung nicht gewachsen seien.

Mit Recht kritisiert die feministische Psychoanalyse das, zumindest an diesen Stellen, biologistische Modell von Freuds Theorie. Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin geht davon aus, im Penis eher ein Machtsymbol und nicht den gesellschaftlichen Träger von Macht zu sehen. Im Prozess der Individuation besteht der "Wunsch von Kindern beiderlei Geschlechts, sich mit dem Vater zu identifizieren, der als Repräsentant der Außenwelt erlebt wird."[40]

Die Konsequenz dieser Theorie ist auch die Erkenntnis, dass das kleine Mädchen durchaus zur Identifikation mit der Macht strebt. Nur wird sein Verlangen vor dem Hintergrund der patriarchalen Matrix unterdrückt; erst aufgrund dessen erlebt sich das Mädchen als minderwertig. Der intersubjektive Ansatz feministischer Psychoanalyse entwickelt Fromms Einwände gegen Freud, in Bezug auf die Rolle des Vaters, weiter. In dieser Arbeit können nicht die verschiedenen Implikationen einer feministisch-psychoanalytischen Kritik an Freud diskutiert werden. Bei aller Kritik ist aber auch "für Benjamin jede Herrschaftsinternalisierung gefangen in der sadomasochistischen Dialektik von Bemächtigung und Unterwerfung."[41]

So werden denn auch Frauen wie Männer zu Trägern und Trägerinnen autoritärer Charakterstrukturen.

  • [16] Es ist in erster Linie Erich Fromm, der vor seiner Trennung vom Institut für Sozialforschung, wesentliche Grundlagen für diese Integration geleistet hat.

  • [17] Theodor W. Adorno: Studies in the Authoritarian Personality, in: Ders.: Soziologische Schriften Bd. II.1. Gesammelte Schriften Bd. 9.1, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 (1950), S. 332.

  • [18] Vgl. Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S. 39.

  • [19] Vgl. George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. (Fischer) 1997, S. 79ff.

  • [20] Vgl. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse, in: Ders.: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. / Hamburg (Fischer) 1954 (1930), S. 7.

  • [21] Freud: Abriß der Psychoanalyse, a.a.O., S. 12.

  • [22] Vgl. Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: Ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt a. M. (Fischer) 2003 (1923), S. 264.

  • [23] Freud: Abriß der Psychoanalyse, a.a.O., S. 76f.

  • [24] Theodor W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in Ders.: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 (1955), S. 70.

  • [25] Jan Weyand: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters, in: jour fixe-initiative berlin (Hg.): Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft, Münster (unrast) 2000, S.65.

  • [26] Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, a.a.O., S. 69.

  • [27] Die Zentrierung auf die Form der Familie als frühe Repräsentanz der gesellschaftlichen Autorität hat sich zwar seit Anfang des 20. Jahrhunderts gewandelt, allerdings gilt es auch für andere Erziehungsmodelle, dass ihre Repräsentanten, auch an Stellen wo ihre Intention eine andere sein mag, als Vermittler der gesellschaftlich anerkannten Normen und Werte fungieren. Nur die Bandbreite und Akzeptanz von Differenzen mag gestiegen sein. Aus der Totalität des Gesamtzusammenhangs entfliehen können allerdings auch alternierende Modelle, wie etwa Elternschaft von Schwulen und Lesben, Heimerziehung, kollektive Erziehung in Wohngemeinschaften oder alleinstehende Eltern, kaum.

  • [28] Vgl. ebda., S. 85.

  • [29] Erich Fromm: Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsycholgie, in: Ders.: Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1993 (1932), S. 27.

  • [30] Weyand, a.a.O., S. 61.

  • [31] Freud: Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 153.

  • [32] Ebda., S. 163.

  • [33] Vgl. Erich Fromm: Der autoritäre Charakter, in: Ders.: Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1993 (1936), S. 76f.

  • [34] Freud: Abriß der Psychoanalyse, a.a.O., S. 63.

  • [35] Vgl. ebda., S. 64f.

  • [36] Freud: Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 170.

  • [37] Fromm: Der autoritäre Charakter, a.a.O., S. 81.

  • [38] Vgl. Freud: Abriß der Psychoanalyse, a.a.O., S. 69.

  • [39] Freud: Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 139.

  • [40] Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt a. M. (Stroemfeld/Roter Stern) 1990 (1988), S. 99.

  • [41] Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O. S. 182.

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hagalil.com 18-03-2004


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