Stephan Grigat
Antisemitismus und
Antizionismus in der Linken
Wer wissen wollte, ob an der
Behauptung vom linken Antisemitismus etwas dran ist, konnte seit Jahren auf
eine immer umfangreicher werdende Literatur zurückgreifen. Hannah Arendt
wusste schon in den fünfziger Jahren, dass es sich bei der Annahme,
Antisemitismus sei ausschließlich ein Phänomen der politischen Rechten, um
ein hartnäckiges Vorurteil handelt. Zum Antisemitismus bei den
Frühsozialisten, zum Antisemitismus in der europäischen Arbeiterbewegung des
19. und 20. Jahrhunderts und zum Verhältnis der marxistischen Klassiker zum
Judentum liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor. Zum Antisemitismus in
den Staaten des Realsozialismus ist ebenso geforscht worden wie zum
antisemitisch aufgeladenen Antizionismus der Neuen Linken in den meisten
westeuropäischen Ländern oder den USA. Diese wissenschaftliche Beschäftigung
mit dem Thema korrespondierte dabei mit einer weitgehenden Abwehrhaltung der
Linken selbst. Das hat sich seit einigen Jahren deutlich geändert. Die
Beschäftigung mit Antisemitismus in der Linken ist chic geworden. In fast
allen Städten der BRD haben in letzter Zeit ähnliche Veranstaltungen wie
diese hier stattgefunden und mit „Wir sind die Guten. Antisemitismus in der
radikalen Linken“ ist eine Art Szenebestseller erschienen, der es, ich werde
darauf zurückkommen, den Linken ermöglicht, sich zwar mit Antisemitismus
irgendwie auseinanderzusetzen, sich aber ja keinen ernsthaften Gedanken dazu
zu machen.
Die Aktualität
des Themas liegt ziemlich klar zu Tage. Gerade die neuerliche Eskalation des
Konfliktes in Israel und die Reaktionen der Linken darauf hat gezeigt, daß
die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Linken zwar einige der
schlimmsten Auswüchse beispielsweise linker Volkstümelei oder Blut- und
Boden-Romantik weitgehend zum Verschwinden hat bringen können, dass man aber
dennoch keineswegs gewillt ist, Konsequenzen aus dem zumindest halb
Erkannten zu ziehen. Ich würde im Folgenden gerne versuchen, eine Art
Überblick geben. Von was spricht man eigentlich, wenn man von linkem
Antisemitismus redet. Da gibt es
1.
Die
Klassiker, ihren Umgang mit Antisemitismus, ihr Verhältnis zum Judentum
2.
Die sich
auf diese Klassiker berufende traditionelle Arbeiter- und
Arbeiterinnenbewegung sowie die inzwischen selbst historische sogenannte
Neue Linke
3.
Ist
natürlich das Verhältnis Antisemitismus – Antizionismus von zentraler
Bedeutung und damit das Verhältnis der Linken zum israelischen Staat
Und 4. muß man
über strukturellen Antisemitismus reden, über die Affinitäten verkürzter
oder auch falscher linker Kapitalismuskritik zu antisemitischen
Ressentiments.
Klassisches und Historisches
Auch wenn die überwiegende
Mehrheit der Linken schon immer zu den entschiedensten Gegnern des
Antisemitismus gehörten, läßt sich eine Tradition des linken Antisemitismus
bis zum Frühsozialismus zurückverfolgen. Von Blanqui bis Fourrier, von
Saint-Simon über Proudhon bis Bakunin lässt sich von der Verharmlosung
antisemitischer Ressentiments bis zu offen rassistisch-antisemitischen
Argumentationen alles nachweisen.
Marx und Engels waren zwar keineswegs wüste Antisemiten, wie in den
einflussreichen Arbeiten Edmund Silberners mehrfach behauptet wird,
aber sowohl in den Marxschen Frühschriften als auch in zahlreichen Briefen
von Marx und Engels finden sich Formulierungen und Argumentationen, die ein
verzerrtes Bild vom Judentum zeichnen und auf antisemitische Klischees
zurückgreifen. Die Interpretation des von Marx 1844 veröffentlichten Textes
„Zur Judenfrage“ als ein Aufruf, Juden und Jüdinnen zu ermorden, beruht zwar
auf einem ziemlichen Mißverständnis der Marxschen Argumentation. Der Text
läd zu solchen Missverständnissen aber geradezu ein. Die frühe
Kapitalismuskritik von Marx hat noch nicht jene Begriffsschärfe entwickelt,
wie wir sie aus der Marxschen Werttheorie der Kritik der politischen
Ökonomie kennen, und die nötig ist, das Umschlagen einer Ökonomiekritik in
ein verfolgendes Ressentiment zu verunmöglichen oder entscheidend zu
erschweren.
In der europäischen
Arbeiterbewegung - insbesondere in der deutschen - ist Antisemitismus immer
wieder geleugnet, verharmlost oder entschuldigt worden. In den schlimmsten
Fällen wurde er - legitimiert als konsequenter Antikapitalismus - offen
propagiert. Ruth Fischer beispielsweise, ZK-Mitglied der deutschen KP
forderte 1923 in einer Rede: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie
an die Laterne, zertrampelt sie!“
Als radikalste Form eines linken
Antisemitismus können die stalinistischen Kampagnen gegen Zionismus und
Kosmopolitismus gelten. Die von Lenin geführte Oktoberrevolution hat den
russischen Juden - trotz struktureller Ähnlichkeiten der Leninschen
Imperialismuskritik zum Antisemitismus - zunächst zahlreiche
Vorteile im Vergleich zur Zarenzeit gebracht. Mit Stalin kam jedoch ein Mann
an die Macht, der bereits im Kampf um die Nachfolge Lenins Antisemitismus
als Mittel einsetzte. Für die spätere Entwicklung ist anzunehmen, dass
Stalin sich von einem taktischen zu einem überzeugten Antisemiten gewandelt
hat, der am Ende seines Lebens eine gewaltsame Umsiedlung der sowjetischen
Juden in Erwägung zog.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
unterstützte die Sowjetunion für kurze Zeit das Projekt der israelischen
Staatsgründung. Spätestens Ende der vierziger Jahre wurde der Antizionismus
jedoch zur offiziellen Staatsdoktrin - und zu einem Element staatlicher
Ideologie und Praxis, bei dem die Regierungen der SU, Polens oder auch der
DDR auf die Gefolgschaft ihres Staatsvolks rechnen konnten, wie sonst bei
kaum einem anderen Thema.
Während es bei Lenins
Antizionismus, vor Auschwitz, hauptsächlich um organisationspolitische
Fragen ging und der Zionismus als ein Nationalismus neben vielen anderen
abgelehnt wurde, bekämpft der Antizionismus nach dem Zweiten Weltkrieg den
Zionismus als eine besonders perfide Form des Nationalismus, die prinzipiell
illegitim sei und alle anderen Nationen bedrohe. In Osteuropa wurde diese
Transformation durch die stalinistischen Führungen vollzogen und auch nach
der Entstalinisierung beibehalten. In Westeuropa war der Antizionismus nach
1945 lange eine Domäne der äußeren Rechten. Mit Ausnahme der dogmatischen,
an der SU orientierten kommunistischen Parteien war die Linke Westeuropas -
insbesondere in der BRD - bis 1967 ausgesprochen positiv gegenüber Israel
eingestellt. Nach dem Sechs-Tage-Krieg änderte sich das schlagartig. Zum
einen setzte eine linke Kritik an der israelischen Regierungspolitik ein,
die sich zu recht gegen den von konservativer Seite sofort erhobenen
pauschalisierenden Antisemitismus-Vorwurf zur Wehr setzte. Zum anderen
beginnt in dieser Zeit eine antizionistische Agitation, die eindeutige
Affinitäten zum Antisemitismus aufweist, und die bald fast in der gesamten
Linken hegemonial werden sollte. Am deutlichsten zeigte und zeigt sich das
in der BRD. In der westdeutschen Linken lassen sich von der linken
Sozialdemokratie, den Grünen und Alternativen, feministischen Gruppierungen,
K-Gruppen, Autonomen und Antiimperialisten bis zu den bewaffneten Gruppen
Äußerungen und Aktionen finden, die jede Differenzierung zwischen
Antizionismus und Antisemitismus überflüssig erscheinen lassen. Klassische
Beispiele dafür sind der Anschlag der „Tupamaros Westberlin“, einer
Vorläufergruppe der „Bewegung 2. Juni“, auf das jüdische Gemeindehaus in
Westberlin 1969, die Lobeshymnen der RAF und anderer linker Gruppen
anlässlich der Ermordung israelischer Sportler 1972 in München, die, nicht
etwa vor israelischen Botschaften, sondern vor Synagogen durchgeführten
Demonstrationen gegen den Krieg Israels im Libanon in den achtziger Jahren,
oder – ein Klassiker - die Wandparole aus der Hamburger Hafenstraße, die da
lautete „Boykottiert ‚Israel‘! Waren, Kibbuzim und Strände/ Palästina - das
Volk wird dich befreien/ Revolution bis zum Sieg“. In dieser Parole kann man
bereits zentrale Elemente des linken Antizionismus festmachen. Und zwar von
der Delegitimierung Israels, das, was sonst nur die Springerpresse mit der
DDR tat, in Anführungszeichen gesetzt wurde, über die Ignoranz gegenüber der
nationalsozialistischen Judenverfolgung (sowas klingt halt tatsächlich nicht
viel anders als „Kauft nicht bei Juden!“ bis zur Begeisterung für Volk und
Lebensraum. Wem das noch nicht als Vorabbeleg für die Existenz eines linken
Antisemitismus reicht, sei auf jenen legenderen „Grüne Kalender“ verwiesen,
in dem gleich Klartext gesprochen wurde, und die Herausgeber des Kalenders
die Leser aufforderten, nicht bei Juden zu kaufen.
Dieser Antisemitismus hat wie
gesagt eine Tradition. Der Vorwurf, eine Partei fungiere als
„Judenschutztruppe“, war in der Zwischenkriegszeit beispielsweise in
Österreich Allgemeingut und wurde von allen politischen Lagern gegen die
jeweiligen Konkurrenten erhoben. Als spezifische Form eines
sozialdemokratischen oder linken Antisemitismus kann hingegen die Agitation
gegen den „reichen Juden“, gegen die „jüdische Großbourgeoisie“ und den
„jüdischen Kapitalismus“ gelten. In der Arbeiterbewegung der Weimarer bzw.
der Ersten Republik war man stets bemüht, den Antisemitismus der Massen zu
bedienen, was sich unter anderem darin äußerte, dass die Personifikationen
des Kapitals auf den Plakaten von Sozialdemokratie und Kommunisten nicht
selten eine Physiognomie aufwiesen, die Antisemiten für Juden reserviert
haben. Dass beispielsweise die Rothschilds im Zentrum der Kritik der
Sozialdemokraten standen hatte nicht nur mit dem realen Einfluss der
Bankiersfamilie zu tun, sondern passte auch hervorragend zu den strukturell
antisemitischen Prämissen der grundsätzlichen Kapitalismuskritik in der
Arbeiterbewegung. Nicht ganz zufällig konnte sich der radikale Antisemit
Georg von Schönerer, einer der wichtigsten Stichwortgeber Hitlers, der sich
über Jahre mit demagogischen Angriffen gegen die Rotschilds hervortat,
gewisser Sympathien bei Teilen der Sozialdemokratie erfreuen.
Auf Grund ihres engen
Verhältnisses zur KPdSU begriffen es die westeuropäischen Kommunistischen
Parteien in den fünfziger Jahren offenbar als ihre Pflicht, der
antizionistischen Propaganda in der Sowjetunion und in den anderen
Ostblockstaaten zu bescheinigen, dass sie absolut nichts mit Antisemitismus
zu tun habe. Das ging soweit, dass selbst noch die antisemitischen
Schauprozesse in den fünfziger Jahren legitimiert wurden. Beispielsweise der
Slansky-Prozeß in der Tschechoslowakei, bei dem elf der vierzehn
Angeklagten, denen vom deklarierten Antisemiten Major Smola eine
„trotzkstisch-zionistisch-titoistische Verschwörung“ vorgeworfen wurde,
Juden waren. Auch der sogenannte Ärztekomplott-Prozeß in der
Sowjetunion, in dem sechs Juden und drei weitere Angeklagte als „Agenten des
Zionismus“ wegen angeblicher Morde an hohen Staats- und Parteifunktionären
und wegen unterstellter Mordpläne gegen Stalin vor Gericht standen, wurde
gerechtfertigt. Parteikommunistische Zeitungen konnte damals in den
Angeklagten keine Opfer einer antisemitischen Kampagne erkennen, sondern
erblickte in den Ärzten die Inkarnation des Bösen: „Bestien in
Menschengestalt“, wie z. B. die Volksstimme schrieb.
Seit 1968 forcierten die
Traditionslinken ihre Kritik an Israel. Zunehmend wichtig wurde seit dieser
Zeit der Antizionismus der Neuen Linken. Seit Beginn der siebziger Jahre
wird von linken und arabischen Gruppen vor allem an den Universitäten
Propaganda gegen Israel betrieben, die sich in einigen Punkten nur mehr
marginal von den zeitgleich verbreiteten Schriften rechter Gruppierungen
unterscheidet. Es wurde beispielsweise davon gesprochen, dass durch die
israelische Repression „die gleichen Praktiken von den zionistischen
Machthabern gegen das palästinensische Volk“
angewendet würden, wie sie die Nazis gegen die Juden angewendet haben. Den
Beweis für die Existenz von israelischen Lagern, in denen eine bürokratisch
organisierte und industriell betriebene Massenvernichtung von Menschen
stattfindet, blieben sie verständlicherweise schuldig.
Vor allem während des
Libanon-Krieges sind Vergleiche Israels mit Nazi-Deutschland an der
Tagesordnung. Menachem Begin wird beispielsweise als Nazi-Faschist
tituliert.
Seit den neunziger Jahren wird
ein antisemitisch aufgeladener Antizionismus in einigen trotzkistischen
Gruppen und vor allem in den Resten des autonomen und antiimperialistischen
Milieus gepflegt. Immer noch wird der völkisch-stalinistische Antizionist
Karam Khella, der sitzt in Hamburg irgendwie an der Uni, von einigen
hofiert. Ein Typ also, der in seinen Schriften die klassische antisemitische
Ansicht vertritt, die Juden seien, solange sie am Zionismus festhielten,
selbst Schuld an ihrer Verfolgung.
Antiimperialisten verkünden in
Flugblättern die atemberaubende Neuheit, dass Israel „seit Beginn seines
Bestehens seine Existenz auf Gewalt gegründet“ hat. Dabei wird natürlich so
getan, als wäre das eine Besonderheit des israelischen Staates. Dieser
massiven Kritik an Israel entspricht die völlige Abwesenheit einer
grundsätzlichen Staatskritik in antizionistischen Kreisen. Was man an
Israel kritisiert - seine Staatsgewalt und seine Nationswerdung inklusive
der nationalen Mythen - wünscht man sich für die palästinensischen Brüder
und Schwestern. Staat und Nation sind im Bewusstsein der meisten
Antizionisten nämlich Erfüllungsgehilfen auf dem Weg zur Emanzipation - es
sei denn, sie werden von Juden in Anspruch genommen.
Antiimps wissen in der Regel zwar
von „Deportationen jüdischer Menschen aus Osteuropa und Nazi-Deutschland
nach Palästina“ zu berichten, aber über die tatsächlichen Deportationen nach
Auschwitz und Treblinka schweigen sie sich aus. Mit ihrem Hinweis auf die
angeblichen Deportationen von Juden nach Palästina spielen solcherart
Antiimperialisten auf einen Dauerbrenner antizionistischer Agitation an: die
angebliche Zusammenarbeit von Zionisten und Nazis, die nach Meinung einiger
Antizionisten bis in die Vernichtungslager hinein funktioniert habe. Zum
ständigen Hinweis auf eine angebliche Zusammenarbeit von Zionisten und Nazis
passt die völlige Ignoranz der Antizionisten gegenüber den Sympathien, die
zahlreiche Palästinenser für den Nationalsozialismus empfunden haben. Ein
deutliches Zeichen dieser Sympathie setzte der Großmufti von Jerusalem
el-Husseini, als er 1941 Hitler eine Visite abstattete und später mit
Eichmann die nationalsozialistischen Vernichtungslager begutachtete.
Die vermeintliche Kollaboration
zwischen Nazis und Zionisten ist schon so ziemlich alles, was radikale
Antizionisten über die NS-Zeit mitzuteilen haben. Vom Antisemitismus, der
sich laut einer Broschüre aus dem Antiimp-Millieu gegen „Menschen jüdischen
Glaubens“
richtet, als hätte es sich bei der Judenverfolgung und -vernichtung im 20.
Jahrhundert um eine religiöse Auseinandersetzung gehandelt, verstehen sie
nichts. Über den Zionismus hingegen wissen sie scheinbar alles. Kein
Antizionist, der nicht sämtliche Zionisten-Kongresse seit Ende des 19.
Jahrhunderts aufzählen und auswendig aus der Balfour-Deklaration und Herzls
„Judenstaat“ zitieren kann. Eine Diskussion über derartiges erübrigt sich.
Der eigentliche Grund für die israelische Staatsgründung ist eben
nicht in Basel, sondern in Auschwitz zu finden. Auch wenn die zionistischen
Gruppen in Palästina mit ihren Aktivitäten bereits gezeigt hatten, daß das
Projekt einer jüdischen Staatsgründung vielleicht möglich ist, hat
doch nichts so sehr wie der nationalsozialistische
Vernichtungsantisemitismus gezeigt, dass es auch nötig ist. Die ganze
Perfidie antizionistischer Argumentation kommt zum Vorschein, wenn die
zentrale Rolle von Auschwitz zwar anerkannt, aber die Massenvernichtung dann
gerade deshalb als eine Art Koproduktion von Nazis und Zionisten
dargestellt wird.
Während es für die meisten
Antizionisten feststeht, dass Juden weder ein Volk noch eine Nation sind,
können sie von Palästinensern kaum mehr anders reden als in der
kollektivierenden Form des „palästinensischen Volkes“. Derartiges ist
typisch für eine Linke, die ihre Solidarität mit Menschen nur dann in Gang
setzen kann, wenn sie die Objekte ihrer Solidarität zuvor zu Völkern
kollektiviert oder deren Selbstkollektivierung übernommen hat. Dass die
Palästinenser ein Volk sind, steht für den Antizionismus außer Zweifel.
Schließlich haben sie, angeblich anders als die Juden, einen Boden, der
ihnen rechtmäßig zustehe. Nimmt man die antizionistische Propaganda beim
Wort, so sind es nicht die Menschen, sondern der Boden, der befreit werden
muss. Versprach man in der eingangs erwähnten Parole aus der Hamburger
Hafenstraße diesem auf den Namen „Palästina“ getauften Stück Erde „Das Volk
wird dich befreien“, so versichert man ihm andernorts „Dein Volk wird
siegen!“
Nun ist es aber so, daß Menschen sich von Ausbeutung und Herrschaft befreien
können. Ein Stück Erde hingegen kann nicht von Unterdrückung, sondern nur
von auf ihm lebenden Menschen „befreit“, also gesäubert werden. Diese
Menschen sind in diesem Fall die in Israel lebenden Juden.
Kein Wunder, dass Antizionisten
dann auch nicht mehr bloß, wie das normalerweise im marxistischen
Sprachgebrauch bezüglich bürgerlicher Staatsgewalt heißt – die „Zerstörung“
Israels fordern, was unerträglich genug wäre, sondern lieber gleich seine
„Vernichtung“.
Auch wenn angesichts der
zahlreichen nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen im Trikont bereits
die Fixierung gerade deutscher und österreichischer Antiimperialisten auf
den Konflikt in Israel und Palästina verdächtig ist, kann natürlich dennoch
nicht jede Kritik an Politik, die in Israel gemacht wird, als antisemitisch
diskreditiert werden. Es geht nicht darum, ob man Israel kritisieren
darf, sondern darum, wie man es kritisiert. Nicht jeder
antizionistischen Äußerung liegt Antisemitismus zugrunde. Ob Antizionisten
für eine Kritik, die auf den latenten oder auch manifesten Antisemitismus
ihrer Argumentation hinweist, offen sind, oder ob sie solche Kritik nur als
Beweis für den weltweiten Meinungsterror der „zionistischen Lobby“ ansehen,
ist ein relativ eindeutiges Entscheidungskriterium dafür, ob dem
Antizionismus sowas wie ein gefestigtes antisemitisches Weltbild zugrunde
liegt oder nicht.
Unabhängig davon ist aber
prinzipiell darauf zu beharren, dass ein sich als linksradikal verstehender
Antizionismus strenggenommen schon vom Begriff her unsinnig ist. Wäre die
Linke so antinational, wie es sich gehören würde, hätte sie
selbstverständlich Schwierigkeiten mit der nationalen Ideologie des
Zionismus. Das wäre dann aber nichts Besonderes und bräuchte daher auch
nicht als Antizionismus proklamiert zu werden. Schließlich sind auch Linke,
die sich für Kurden engagieren, vielleicht antikemalistisch eingestellt,
treten in der Regel aber nicht als „Antikemalisten“ in Erscheinung, und
Menschen, die sich mit der Polisario solidarisieren, interessieren sich
vermutlich herzlich wenig für den spezifischen Namen der marokkanischen
Nationalideologie.
Die Existenz von Antisemitismus
in der Linken ist evident. Im Antizionismus tritt er als eine spezifische
Form des Antisemitismus nach Auschwitz auf, der sich aus Mangel an konkreten
Hassobjekten gegen den kollektiven Juden, den Staat Israel, richtet. Daß die
im Antizionismus durchaus angelegten Vernichtungsphantasien nicht Realität
geworden sind, verdankt sich - und das scheint mir gerade in der
aktuellen Situation nicht deutlich genug gesagt werden zu können- der
israelischen Staatsgewalt.
Antisemitismus in der Linken
manifestiert sich aber nicht nur im Antizionismus. Heute, da es auch
innerhalb der Linken massive Kritik an antizionistischen Gruppen gibt, wäre
vor allem eine Diskussion über strukturellen Antisemitismus wünschenswert.
Ein zentrales Moment des modernen Antisemitismus ist der Hass auf die
abstrakte Seite der kapitalistischen Warenproduktion, die in den Juden
biologisiert wird. Am deutlichsten wurde das bei der im Nationalsozialismus
vorgenommenen Trennung in deutsches „schaffendes Kapital“ und jüdisches
„raffendes Kapital“. Die Grundlage dieser Trennung ist aber keineswegs eine
Erfindung der nationalsozialistischen Ideologie, sondern vielmehr die
tendenziell allen Subjekten der bürgerlichen Gesellschaft geläufige
Unterscheidung in Arbeitsplätze schaffende Industriekapitalisten einerseits
und das scheinbar unproduktive Kapital der Zirkulationssphäre andererseits.
Gerade in den heutigen Debatten über die Globalisierung finden sich in der
Linken zahlreiche Argumentationen, die zwar nicht unbedingt inhaltliche
Affinitäten, aber eben strukturelle Ähnlichkeiten zum Antisemitismus
aufweisen.
Es ist auffallend, dass der linke
Antisemitismus fast nie im Zusammenhang mit einer Kritik an linker Ideologie
behandelt wurde. Der Antizionismus in den ehemaligen Ländern des
Realsozialismus wird in der Regel ausschließlich als taktisches Manöver der
Staatsführung verstanden, anstatt ihn in Beziehung zum Marxismus-Leninismus
zu setzen. Man kann also feststellen, dass die Kritiker des linken
Antisemitismus häufig ein ähnlich verkürztes, funktionalistisches
Antisemitismusverständnis wie die von ihnen Kritisierten haben.
Antisemitismus in der Linken hat
natürlich etwas mit den vorherrschenden linken Vorstellungen von
Kapitalismus und Imperialismus, von Staat und Nation, von Faschismus und
Nationalsozialismus zu tun. In weiten Teilen der Linken ist der
Nationalsozialismus darauf reduziert worden, eine besonders abscheuliche,
von den aggressivsten Fraktionen der Bourgeoisie dominierte Form von
Klassenherrschaft zu sein. Der Vernichtungsantisemitismus der Nazis ist
lange weitgehend ignoriert, oder aber lediglich als ein Mittel zur
Durchsetzung etwas außerhalb seiner selbst, als Herrschaftsmittel und
Ablenkungsmanöver, begriffen worden.
Kapitalismus wird in der traditionellen Linken nicht als fetischisierte
gesellschaftliche Totalität begriffen, sondern als eine Addition aller
Kapitalisten, denen die Arbeiterklasse als prinzipieller Antagonismus
scheinbar unversöhnlich gegenüber steht. „So entsteht“, schreibt Thomas
Haury ganz richtig, „zwangsläufig ein binäres und verdinglichendes, ein
personalisierendes und moralisierendes Denken, das eine Clique von bösen
Herrschenden annehmen muss, die mittels direkter Repression, Korruption
durch Sozialpolitik und gemeiner Propaganda in den Medien die Guten, die
Beherrschten, niederhalten.“
Das zu Kritisierende, das zu Bekämpfende, das Abzuschaffende ist dadurch -
und darin besteht die fatale strukturelle Ähnlichkeit zum Antisemitismus -
nicht mehr ein gesellschaftliches Verhältnis, sondern sind Menschen, die
einen Teil, eine Seite dieses gesellschaftlichen Verhältnisses vermeintlich
oder tatsächlich repräsentieren.
Mit ihrem verkürzten
Imperialismusverständnis haben große Teile der Linken Herrschaft auf
Fremdherrschaft und Kapitalismus auf Ausbeutung durch fremdes Kapital
reduziert. Die unkritische Bezugnahme auf den Befreiungsnationalismus im
Trikont führte zur Affirmation von Herrschaftskategorien wie Staat, Nation
und Volk. Ein solcher Antiimperialismus, der zwischen der Kritik dessen, was
man früher mal imperialistische Politik nannte einerseits und der
vorbehaltlosen Parteinahme für die Opfer solcher Politik andererseits nicht
unterscheiden kann, führt nahezu zwangsläufig zur Kollaboration mit diversen
Diktatoren, völkischen Nationalisten und Antisemiten.
Diese aus der
Legitimationsideologie des Stalinismus – also dem Marxismus-Leninismus -
sich speisende Weltanschauung, die als antiimperialistisches Weltbild“
bezeichnet werden kann, weist zahlreiche strukturelle Affinitäten zum
Antisemitismus auf. Der Antizionismus der Linken – nochmals Thomas Haury -
„ist die Anwendung des antiimperialistischen Schemas auf den Konflikt
zwischen Israel und der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung.
Darin führt die strukturelle Affinität zur teilweisen inhaltlichen
Affinität: Das antiimperialistische Weltbild ist den antisemitischen
Stereotypen gegenüber nicht nur nicht immun, sondern es tendiert, wird es
zum Antizionismus konkretisiert, dazu, diese selbst hervorzubringen.“
Zusammenfassend lässt sich sagen:
eine Linke, die den Nationalsozialismus nur als besonders extreme Form der
Unterdrückung der Arbeiterklasse begreift, vom nationalen Konsens und von
Auschwitz aber nichts wissen will, die staatsapologetisch argumentiert,
anstatt in der staatsbürgerlichen Vorstellung vom „Allgemeinwohl“ die
Ideologie der Volksgemeinschaft zu erkennen, die nicht die fetischisierte
Herrschaftsform der Nation, sondern nur „übertriebenen“ Nationalismus
ablehnt, die den Wert im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie
affimiert, aber die angeblichen „Auswüchse“ des freien und wurzellosen
Kapitalismus anprangert, die permanent eine personalisierende Kapitalismus-
und Staatskritik betreibt und daher nicht Politik als Formprinzip, sondern
Politiker, nicht das Kapitalverhältnis, sondern die Kapitalisten kritisiert,
wird sich immer in einer gefährlichen Nähe zum Antisemitismus bewegen.
Daran ändert
auch nichts, dass Kritiker und Kritikerinnen aus dem Spektrum der
antideutschen Linken sich noch Anfang der neunziger Jahre mit ihren
Polemiken gegen den linken Antisemitismus einer wild um sich schlagenden
Abwehrfront gegenüber sahen und, wie ich eingangs festgestellt habe,
inzwischen die Beschäftigung mit Antisemitismus in der Linken in weiteren
Kreisen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Diese Beschäftigung
ist nämlich offenbar sogar dermaßen selbstverständlich, dass sie ohne großes
Nachdenken auskommt. Das erwähnte Buch „Wir sind die Guten“ dokumentiert,
wie die Kritik des Antisemitismus, die sich zunächst einen Begriff von ihrem
Gegenstand zu machen hätte (was nicht mit der inzwischen in Teilen der
Linken chic gewordenen pseudokritischen Attitüde zu verwechseln ist, anstatt
von Antisemitismus von „Antisemitismen“ zu sprechen), durch einen
gefühlvollen Sumpf aus Befindlichkeit, Selbstmitleid und Verdruckstheit
ersetzt werden kann.
Der Verlag freut
sich inzwischen übrigens über zahlreiche positive Rezensionen seines Buches.
Offenbar bedient es ein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit linkem
Antisemitismus, die eher auf eine Art alternativer Vergangenheitsbewältigung
inklusive Generationengespräch hinausläuft, anstatt dem Antisemitismus in
der Linken mittels Ideologiekritik jegliche Grundlage zu entziehen.
Wie notwendig
das wäre, zeigen die gespreizten Äußerungen der Linken zur momentanen Lage
in Israel. Das man das Existenzrecht des Staates der Shoa-Überlebenden nicht
in Frage stellen kann, haben die meisten Linken mittlerweile gelernt. In der
Regel ist das Bekenntnis dazu aber ein reines Lippenbekenntnis, da nämlich
gleichzeitig aberwitzige Forderungen an die israelische Regierung gestellt
werden, die, würden sie erfüllt werden, eben gerade die Existenz Israels
gefährden würden. Dazu kommt eine zur Schau getragene
Pseudodifferenziertheit, die sich beispielsweise in einem unsäglichen
Transparent in Berlin manifestierte, auf dem sinngemäß stand „Gegen
deutschen Antisemitismus und israelischen Imperialismus“. Der Versuch, es
einmal besser zu machen, macht hier alles nur noch schlimmer und vergleicht
das, was man als israelische Expansion begreift mit dem deutschen
Vernichtungswahn. Dieses Beispiel ist nun aber auch schon wieder über ein
Jahr alt. Ich spare mir allerdings jetzt im Einzelnen den Wahnsinn
aufzulisten, der sich seit Beginn der weltweiten Terrorintifada von
Palästina über New York bis Frankreich und Berlin in der Linken abgespielt
hat – einer Linken, und das sage ich als Kommunist, mit der man eigentlich
nicht mehr wirklich etwas zu tun haben möchte.
Vgl. Brumlik, Micha:
Antisemitismus im Frühsozialismus und Anarchismus. In: Brumlik, Micha/
Kiesel, Doron/ Reisch, Linda (Hg.): Der Antisemitismus und die Linke.
Frankfurt/M. 1991, S. 7 ff.
Vgl. Silberner, Edmund:
Sozialisten zur Judenfrage. Berlin 1962. Vgl. auch Silberner, Edmund:
Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis der
Kommunisten. Opladen 1983. Ähnlich undifferenzierte Vorwürfe finden sich
auch bei Broder, Henryk M.: Der ewige Antisemit. Über Sinn und
Funktion eines beständigen Gefühls. Frankfurt/M. 1986. S. 30, 107, 211 ff.
Zur Kritik an Silberners Thesen siehe Claussen, Detlev: Grenzen der
Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus.
Frankfurt/M. 1994, S. 85 ff. Siehe auch Haug, Wolfgang Fritz: Antisemitismus
aus marxistischer Sicht. In: Strauss, Herbert A./ Kampe, Norbert (Hg.):
Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust.
Frankfurt/M. - New York 1985, S. 234 ff.
Zitiert nach Groepler, Eva:
"Zertrampelt die Judenkapitalisten!" In: Konkret, Heft 1, 1991, S. 45.
Ausführlicher dazu siehe Knütter, Hans-Hellmuth: Die Juden und die deutsche
Linke in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1984.
Vgl. Arendt, Hannah: Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986, S. 91.
Vgl. Wistrich, Robert S.: Der
antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel.
Ismaning 1987, S. 351.
Ebd.
Vgl. Heinsohn, Gunnar: Was
ist Antisemitismus? Der Ursprung von Monotheismus und Judenhaß. Warum
Antizionismus? Frankfurt/M. 1988, S. 101 ff.
Info zu Twfik Ben Ahmed
Chaovali. Nr. 1, 1995, S. 7 f.
Ebd., S. 19.
Vgl. dazu Grigat, Stephan:
"Ökonomie der Endlösung"? Antisemitismustheorie zwischen Funktionalismus und
Wertkritik. In: Weg und Ziel, Nr. 1, 1997, S. 44 ff.
Haury, Thomas: Zur Logik des
bundesdeutschen Antizionismus. In: Poliakov, a. a. O., S. 139. Vgl. auch
Haury, Thomas: "Finanzkapital oder Nation". Zur ideologischen Genese des
Antizionismus der SED. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Jahrbuch für
Antisemitismusforschung 5.
Frankfurt/M. - New York 1996, S: 148 ff.
Ebd., S. 141, kursiv i.
Orig.
hagalil.com
18-04-2002
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