Antisemitismus ist ein Virus, der mutiert:
Wiederaufleben eines alten Hasses
Zu behaupten Juden
verursachten ihr Leiden selbst, indem sie es unterlassen die israelische
Politik zu kritisieren, ist das Wiederaufleben eines alten Hasses
Stephen Byers,
The Guardian, 15. März 2004
Übersetzt von Herbert Eiteneier
Als agnostisches Kind praktizierender
methodistischer Eltern habe ich mit Besorgnis das Ansteigen der
antisemitischen Angriffe beobachtet und mich gefragt, ob es wirklich so ist,
dass Juden das Verhalten der israelischen Regierung verurteilen müssen, um
sich die europäische Verpflichtung zur Bekämpfung des Antisemitismus zu
verdienen.
Im Europa des 21. Jahrhunderts steht der
Anstieg antisemitischer Vorfälle in direkter Verbindung zu der erneuerten
Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Wenn im Nahen Osten Spannungen
auftreten, werden Synagogen angezündet, jüdische Friedhöfe geschändet und
Juden angegriffen. Ethnisch und religiös motivierter Hass, Gewalt und
Vorurteile, wo immer sie auftreten, sollten bedingungslose Verurteilung nach
sich ziehen; Sympathie und Unterstützung für die Opfer sollten nicht von
ihrem Verhalten oder ihren politischen Überzeugungen abhängig sein. Zwar
kann Wut über Israels Politik diese Angriffe verursachen, aber deren
Verurteilung findet oft zu langsam und zunehmend unter Vorbedingungen statt.
Das ist inakzeptabel. Natürlich ist Kritik
der Politik Israels an sich nicht antisemitisch. Aber sie kann antisemitisch
werden, wenn dazu gehört, dass mit zweierlei Maß gemessen wird und alle
Juden für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht
werden oder eine Dämonisierung der Juden offen legt. Es ist eindeutig
Antisemitismus, wenn diese Kritik einen Vorwand für antijüdischen Hass
liefert.
Sollten chinesische Restaurants in London
durch einen verärgerten Mob angesteckt werden – wäre es dann richtig, die
Sympathie für die Opfer zurückzuhalten, bis sie China wegen seiner Politik
in Tibet verurteilen? Sollten russische Studenten an britischen
Universitäten belästigt werden, so lange sich nicht öffentlich die
Handhabung der Tschetschenien-Krise ihrer Regierung verurteilen? Diese Art
zu denken wird zu einer Rechtfertigung für Massenmord.
Von niemandem sollte verlangt werden einen
Loyalitäts- oder moralischen Eid abzulegen, bevor er gegen Rassismus
geschützt wird. Kein Bürger sollte das Gefühl haben, seine Gleichheit vor
dem Gesetz hänge von seiner Begrüßung politischer Ansichten ab, denen wir
zustimmen. Das ist eine totalitäre Logik, die die Grundlagen der Freiheit
untergraben, auf denen unsere Gesellschaft steht. Trotzdem verlangen die
heutigen Antisemiten von den Juden genau das.
Antisemitische Taten werden von einer
zunehmenden Zahl "respektabler" Kommentatoren gerechtfertigt, die Juden
beschuldigen, sie selbst seien die Ursache ihres Leides. Diese Logik grenzt
an Rechtfertigung von Hass; schlimmer noch, sie ist eine verschleierte
Drohung, dass die Juden, wenn sie nicht parieren, in der Stunde der Not von
niemandem unterstützt werden. Statt mit den Opfern mitzufühlen, nutzen die
Antisemiten die palästinensische Sache aus, um sich auf die Seite der Täter
zu stellen. In der gesamten Welt werden nur Israel und die Juden mit
derartiger Verachtung behandelt.
Wenn es um Israel geht, werden die Juden
kollektiv verantwortlich gemacht. Ihre Sünde ist nicht mehr der Gottesmord,
sie werden auch nicht beschuldigt, dunkle Rasse-Eigenschaften zu haben. In
einer modernen Welt sind die Methoden der Antisemiten weit subtiler. Es ist
nicht länger der Nazi im Knobelbecher; statt dessen ist es Antisemitismus
mit sozialem Bewusstsein, der sich oft auf Menschenrechte stützt und auf die
Forderung eines Heimatlandes für das palästinensische Volk. Heute ist Israel
das "kollektive Verbrechen" der Juden.
Nichts ist unehrenhafter und vorurteilsvoller
als achselzuckend die Verantwortung für den Hass dadurch abzutun, dass man
sagt, die Opfer verdienten ihn. Muslime verdienen wegen Osama bin Laden
keine Islamophobie; aber Juden werden irgendwie für den Antisemitismus
verantwortlich gemacht, weil sie angeblich Israel unkritisch unterstützen.
Das ist ein Versuch, den Antisemitismus rational zu erklären. Er stellt eine
Warnung an die Juden dar, nicht von Leuten, die sich um sie sorgen, sondern
durch Fanatiker, die ihre Vorurteile rechtfertigen wollen.
Antisemitismus ist nicht rational. Er ist,
wie Oberrabbiner Jonathan Sacks sagte, ein Virus, der mutiert. Er wird nicht
besiegt, so lange er nicht als Akt sinnlosen Hasses ohne Logik, ohne
Begründung und ohne Rechtfertigung behandelt wird. Er schlummert, gebettet
auf Mythen und mutwilligen, falschen Vorstellungen, die zu Stereotypisierung
führen.
Die Verleumdung, dass Juden die Erinnerung an
den Holocaust manipulieren, um Israel zu verteidigen, ist die bösartigste
Ausformung davon. Kein Jude hat je gesagt, dass ich wegen der Leiden der
Juden im Holocaust nicht das Recht hätte israelische Politik zu kritisieren.
Es sind nicht die Juden, die die Erinnerung des Holocaust missbrauchen, um
Israel vor Kritik abzuschirmen. Es sind die Antisemiten, die sein Gedächtnis
beschmutzen, indem Israel durch bedrohliche Vergleiche dämonisiert wird, die
groteske Verdrehungen der Wahrheit darstellen und deren Ziel die Leugnung
des Holocaust ist.
Genauso wenig ist der von Max Hastings auf
diesen Seiten vor Kurzem erhobene Vorwurf stimmig, dass "die Juden in
Übersee weniger mutig sind als Israels einheimische Kritiker". Die jüdische
Welt drückt lautstark die Unterschiedlichkeiten ihrer Ansichten zur
israelischen Politik aus. Die britische jüdische Gemeinde ist an vorderster
Front der Kampagne gewesen, die eine Zweistaaten-Lösung verlangte. "Peace
Now" ist in der britischen jüdischen Gemeinde aktiv. Viele jüdische
Wohlfahrts-Organisationen werben unermüdlich für den Dialog und die
Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern.
Der Grund für das Wiederauftauchen eines
alten Hasses ist einfach. Die Antisemiten fühlen sich wieder ermutigt. Ihre
Vorurteile, in den letzten 50 Jahren von Schuldgefühlen unterdrückt, aber
unterschwellig weiter vorhanden, finden ihren Weg zurück in die Alltag. Das
kann nicht ignoriert werden. Antirassisten überall haben eine Verantwortung
sich dem zu stellen und Antisemitismus offen zu legen, wo immer er
auftaucht.
Stephen Byers ist der Vorsitzend des Parlamentarischen Komitees
gegen Antisemitismus
hagalil.com
21-03-2004
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