Audio Nov 2004
Was tun gegen Antisemitismus?
Strategien für ein friedliches Miteinander
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in
Deutschland, Paul Spiegel
Zuallererst möchte ich mich bei Ihnen für die Gelegenheit bedanken,
meine Gedanken über Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus
hier vorstellen zu können. Doch gleichzeitig bin ich besorgt und
traurig, dass wir uns heute, im Jahr 2003, also bald 58 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges, treffen müssen, um über Antisemitismus
zu sprechen und nicht über andere Themen, die Juden und Nichtjuden
in diesem 21. Jahrhundert gemeinsam haben. Die Wahl meines heutigen
Themas ist also nicht unproblematisch – bevor ich daher meine
Gedanken dazu erläutern möchte, halte ich es für notwendig, einige
Prämissen voraus zu schicken.
Es scheint im deutschsprachigen Raum inzwischen eine merkwürdige
Selbstverständlichkeit geworden zu sein, ausgerechnet Juden zum
Thema Antisemitismus zu befragen. Immer wieder werden wir Juden von
den Medien, von Institutionen und auch von Privatpersonen zu dieser
Problematik interviewt oder zu Rate gezogen. Und jeder erwartet,
dass wir Juden Fachleute sind in Sachen Antisemitismus, dass wir die
psychologischen und psychosozialen Hintergründe dieser Pest
begreifen und erklären können - und dass natürlich auch wir Juden
wissen, wie die Gesellschaft sich von dieser Seuche befreien kann.
Dieser Reflex der deutschen Gesellschaft wird von der Mehrheit nicht
mehr hinterfragt. Im Gegenteil: Dieser Reflex wird sogar als ein
Teil der so genannten Political Correctness angesehen. Eine Abwehr
von jüdischer Seite gegenüber dieser Haltung würde mit Sicherheit
Befremden und Irritation auslösen.
Die in Israel lebende Schriftstellerin Cordelia Edvardson, deren
Biographie "Gebranntes Kind scheut das Feuer" ihre Erfahrungen in
Auschwitz reflektiert und in Deutschland ein großer Erfolg wurde,
wurde bei einer Lesereise durch Deutschland immer wieder von ihrem
Publikum zum Antisemitismus befragt. Lakonisch, trocken und sehr
distanziert antwortete Edvardson stets dasselbe: "Was geht mich der
Antisemitismus an? Das ist kein jüdisches Problem, das ist euer
Problem!" Wie Recht sie hat! Denn was geht uns Juden der
Antisemitismus an? Wir sind ganz gewiss keine Antisemiten, wenn wir
den jüdischen Selbsthass eines Otto Weiniger oder eines Theodor
Lessing mal beiseite lassen. Der Antisemitismus betrifft uns, aber
unser Problem ist er nicht. Er ist vielmehr das Problem der
nichtjüdischen Gesellschaft, für deren demokratische und ethische
Verfassung er eine Katastrophe ist. Und doch ist er exemplarisch,
wenn man aufzeigen will, wie aus Vorurteilen blinde und brutale
Gewalt wird.
Über viele Jahrhunderte versuchten Juden auf den Antisemitismus mit
der typischen Ghetto-Mentalität zu reagieren: Man benahm sich
"anständig", versuchte nicht aufzufallen, verhielt sich auf alle
Fälle so, wie man glaubte, dass die nicht-jüdische Umwelt dies von
den Juden erwartete, in der Hoffnung, auf diese Weise möglichst
wenig Angriffsflächen zu bieten, den Zorn der Christen nicht zu
erregen und somit einem Pogrom, der Verfolgung und der Vernichtung
zu entgehen. Spätestens seit Auschwitz wissen wir, dass dieses
Verhalten unsinnig ist. Nirgends auf der Welt hatten sich Juden so
sehr ihrer Umwelt angepasst wie in Deutschland, nirgends waren sie
so loyale Staatsbürger. Genutzt hat es ihnen nichts. Und längst
wissen wir natürlich auch, dass eingefleischte Antisemiten völlig
unabhängig sind von unserem Verhalten. Je nach Bedarf sind wir für
sie Bolschewiken oder Kapitalisten, Imperialisten oder Blutsauger,
die Mörder Gottes oder das "eingebildete" auserwählte Volk. Und
natürlich kennen wir auch die Typologie des "Alibi-Juden": Man hasst
die Juden, doch den jüdischen Nachbarn, den man mit Namen und
Gesicht kennt, den Herrn Cohn von nebenan, den meint man natürlich
nicht, denn der ist ja selbstverständlich "ganz anders". Und wir
kennen inzwischen auch den Antisemitismus ohne Juden – ein Phänomen,
das es bereits vor der Shoah gegeben hat, und jetzt, nachdem 6
Millionen Juden auf diesem Kontinent ermordet wurden, in vielen
Ländern noch aktueller geworden ist. Eine weitere Variante des
heutigen Antisemitismus ist der so genannte Anti-Zionismus, der Hass
auf Israel, und - noch grotesker – der Hass auf uns Diaspora-Juden
wegen der politischen Vorgänge im Nahen Osten.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, was geht uns Juden dieses
Krebsgeschwür, genannt "Antisemitismus" an? Warum müssen
ausgerechnet wir Juden uns jedes Mal zu diesem Thema äußern, wenn es
auf der Agenda des öffentlichen Interesses steht? Warum, und ich
spreche da aus einschlägiger Erfahrung, stürzen sich bei
entsprechenden Attentaten in Deutschland die Medien in Massen auf
mich und nicht auf Kardinal Lehmann oder den Vorsitzenden der EKD,
Präses Kock? Und doch habe ich mich entschieden, mich dieses Themas
in meinem heutigen Vortrag anzunehmen. Bin ich inkonsequent?
Natürlich nicht. Alles, was ich hier vorausgeschickt habe, gilt auch
weiterhin. Aber es gibt einen Aspekt, der es mir unerlässlich
erscheinen lässt, dennoch über dieses Thema öffentlich zu sprechen:
Es ist die Verantwortung des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft,
gegenüber dem Wohl der Gesellschaft, in der er lebt.
Ich spreche also hier zu Ihnen als ein Bürger der Bundesrepublik
Deutschland, als ein Bürger der EU, der sich seiner individuellen
politischen Verantwortung bewusst ist, alles für den Erhalt und das
Wohl der Demokratie auf diesem Kontinent zu tun. Dass ich nebenbei
Jude bin, mag für diejenigen, die mich bitten, zu diesem Thema zu
sprechen, eine Rolle spielen, für mich steht aber meine Pflicht als
Bürger im Vordergrund. Natürlich bin ich mir auch bewusst, dass für
den Angehörigen einer Minderheit, sei es die jüdische oder
irgendeine andere, die Position des Bürgers nie und nimmer eine
garantierte ist. Dass sie gefährdet ist, eben weil es die Feinde der
Demokratie sind, in diesem Fall die Antisemiten, die uns genau den
Status, den ich hier für mich beanspruche, absprechen wollen. Doch
wenn dies je geschehen sollte – dann ist auch das heute nicht mehr
das Problem der Juden, sondern immer nur der Gesellschaft, die die
Konsequenzen zu tragen haben wird.
Gerade hier und heute – in dieser Runde – kann ich gar nicht genug
betonen, wie wichtig aus diesem Grunde für uns Juden in aller Welt
das Wohlergehen des Staates Israel ist. Auch wenn wir nicht immer
mit den politischen Entscheidungen der jeweiligen Regierung
einverstanden sind, auch wenn wir manchmal Bedenken, Kritik oder
Zweifel haben, die Sicherheit des jüdischen Staates ist ein Muss und
steht nicht zur Diskussion. Und nicht nur, weil Israel nach wie vor
ein Hafen für verfolgte Juden in aller Welt sein muss, sondern auch
weil der Staat Israel in dem neuen Selbstverständnis, das die
jüdische Welt nach Auschwitz mühselig finden musste, eine wichtige
und herausragende Rolle spielt.
Doch kehren wir nach Deutschland zurück. Nicht erst seit der
Wiedervereinigung, aber insbesondere seitdem, erleben wir im Land
des Holocaust einen Antisemitismus von ungeahntem Ausmaß, den meine
Generation, als sie sich nach 1945 zum Bleiben entschieden hatte,
wahrhaftig nicht mehr vorstellen konnte. Denn keiner von uns
Überlebenden hätte es sich vor 50 Jahren träumen lassen, dass in
Deutschland jemals wieder Nazi-Parolen öffentlich gegrölt werden
können, dass Synagogen angezündet, Juden auf offener Straße
geschlagen werden, dass Politiker auch von demokratischen Parteien
antisemitische Äußerungen ohne weitere Konsequenzen machen dürfen.
In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir, auf das Ergebnis der
Bundestagswahl vom September vorigen Jahres einzugehen: Es ist
natürlich auch für uns Juden eine große Genugtuung, dass die
Wählerinnen und Wähler hierzulande den rechtsextremistischen
Parteien eine klare Absage erteilt hat. Und es ist uns eine noch
größere Genugtuung – völlig unabhängig davon, ob man mit den
politischen Anschauungen der FDP grundsätzlich einverstanden ist
oder nicht -, dass der Wähler eine demokratische Partei angesichts
der unsäglichen antisemitischen Äußerungen ihres damaligen
stellvertretenden Vorsitzenden mit einem miserablen Wahlergebnis
abgestraft hat. Ein Beweis dafür, dass in breiten Schichten der
Bevölkerung Deutschlands Grundkonsens darüber besteht, dass
Antisemitismus in der Politik nichts zu suchen haben sollte.
Allerdings: Es wäre interessant zu untersuchen, ob die Absage an die
FDP nicht auch dadurch motiviert war, dass der Vorsitzende dieser
Partei Führungsschwäche gezeigt hat, dass die Partei aufgrund der
Auseinandersetzung mit Jürgen W. Möllemann nicht geschlossen sondern
zerstritten und somit regierungsunfähig erschien.
Als Möllemann im Frühjahr 2002 zum ersten Mal Michel Friedman und
Israel mit antisemitischen Äußerungen attackierte, war es
schockierend zu sehen, dass dies, zum ersten Mal in der Geschichte
der Bundesrepublik, völlig ohne Konsequenzen blieb. Als dann nach
der Wahl endlich Konsequenzen gezogen wurden, geschah dies nicht
etwa, weil Möllemann sich als Antisemit geoutet hatte, sondern weil
er, wie viele prominente 5 FDP-Politiker dies formulierten, "der
Partei geschadet habe". Mit anderen Worten: Wäre nichts geschehen,
wenn er die FDP dem Wunschziel von 18 % tatsächlich näher gebracht
hätte? Wie abstrus sich mittlerweile das Weltbild des Herrn
Möllemann von der Realität entfernt hat, ist seine Aussage, die er
unlängst in zahlreichen Talkshows von sich gab. Er behauptete, der
Mossad habe Guido Westerwelle bei seinem Besuch in Israel massiv
unter Druck gesetzt, um gegen ihn – Möllemann – vorzugehen. Mit
anderen Worten: Der israelische Geheimdienst ist also verantwortlich
für das Wahldebakel der FDP, für das persönliche Debakel des Jürgen
Möllemann und damit auch, irgendwie, für das Wahlergebnis in
Deutschland. Das macht natürlich Sinn ... Denn der Mossad hat nichts
Wichtigeres zu tun, als sich um einen Provinzpolitiker aus NRW zu
kümmern ...
Doch wenden wir uns nun dem Kern unseres heutigen Themas zu: Welche
Möglichkeiten gibt es tatsächlich, mit dem Antisemitismus umzugehen?
Hier möchte ich ganz bewusst darauf hinweisen, dass meine
Überlegungen sich natürlich nie nur allein auf den Antisemitismus
beziehen sondern auch auf die Fremdenfeindlichkeit ganz allgemein.
Denn die Fremdenfeindlichkeit ist die große Schwester des
Antisemitismus und ein vielleicht fast noch größeres Problem in
unserem Land. Immer eingedenk der Worte Elie Wiesels, der einmal
ganz richtig sagte: "Nicht jeder Antisemit ist fremdenfeindlich,
aber jeder Fremdenfeind ist ganz sicher auch ein Antisemit!"
Das wohl entscheidende und primäre Problem beim Umgang mit dem
Antisemitismus in Deutschland ist seine Wahrnehmung. Es gehört schon
beinahe zum guten Ton politischer Rhetorik, bei entsprechenden
Anlässen und Vorkommnissen immer wieder darauf hinzuweisen,
Deutschland sei nicht antisemitisch. Der unmittelbar darauf folgende
Hinweis auf die funktionierende Demokratie ist so wahr wie banal und
dient, meiner Meinung nach, zur Selbstberuhigung einer irritierten
deutschen Nachkriegsgesellschaft, die genau weiß, dass Angriffe auf
Ausländer im Ausland bis heute – leider – anders wahrgenommen werden
als Angriffe auf Juden. Die Belastung der Geschichte wirkt eben bis
heute nach. Die deutsche Öffentlichkeit müsste endlich zur Kenntnis
nehmen, dass große Teile der Gesellschaft tatsächlich antisemitisch
sind. An dieser Erkenntnis ändert dann letztendlich auch das
Bundestagswahlergebnis nichts, da es eine Sache ist, Antisemitismus
nicht als politisches Mittel haben zu wollen, da man genau weiß, was
dies international für Deutschland bedeutet. Dass es jedoch eine
andere Sache ist, im Alltag, im eigenen Leben, Denken und so weiter,
durchaus antisemitisch sein zu können, zu dürfen. Die permanente
Abwiegelung von Ereignissen, Äußerungen, Slogans und Taten wird
nicht zum Verschwinden des Antisemitismus führen. Im Gegenteil: Es
macht ihn salonfähig und diejenigen, die stereotyp mit
entsprechenden Entschuldigungen reagieren, machen sich mit schuldig.
Wenigstens das sollte man aus der eigenen Geschichte gelernt haben.
Es sind insbesondere einige Politiker des durchaus demokratischen
Spektrums, die – vor allem in Wahlkampfzeiten – mit populistischen
Slogans Punkte im äußersten rechten Lager zu machen versuchen, und
somit wesentlich mit dazu beitragen, dass reaktionäres,
fremdenfeindliches und antisemitisches Gedankengut seinen Weg in die
gesellschaftliche Mitte findet. Ich beziehe mich jetzt nicht nur auf
die Ereignisse um Herrn Möllemann, sondern verweise darauf, dass
diese Strategie leider eine lange Geschichte in der Bundesrepublik
hat. Wenn also demokratische Politiker sich so äußern dürfen, dann
ist das geradezu ein Freibrief für Rechtsextremisten. Hier wäre es
dringend angezeigt, dass sich demokratische Politiker ihrer
besonderen Verantwortung für das Gemeinwohl bewusst zeigen, dass es
hier keineswegs um Sympathie oder Antipathie gegenüber Juden oder
Ausländer geht, sondern um eine demokratische Kultur des
öffentlichen Diskurses, der die Forderung des bundesdeutschen
Grundgesetzes immer von neuem respektiert und bewahrt: Die Würde des
Menschen ist unantastbar.
Der Umgang der Öffentlichkeit mit dem Antisemitismus ist nach wie
vor geprägt von einer unbewussten, ja subkutanen Empfindung, dass
"der Jude" immer noch ein Außenseiter und nicht Teil der
Gesellschaft ist. Was heißt das? Ein ganz konkretes Beispiel: Als
die antisemitischen und fremdenfeindlichen Übergriffe Anfang der
90-er Jahre einen ersten Höhepunkt erlebten - ich erinnere hier nur
an die Brandanschläge und Morde in Rostock, Mölln, Solingen und
Lübeck - hat sich ein maßgeblicher deutscher Politiker –
wahrscheinlich in aller Unschuld - bei den Juden in Deutschland
entschuldigt. Eine noble Geste, meinen Sie? Ich sehe das nicht so.
Meiner Meinung nach war dies ein eklatanter Beweis für eine
unbewusste Ausgrenzung. Denn – und ich kann es gar nicht deutlich
genug immer und immer wieder sagen – die Folgen des Antisemitismus
sind wesentlich fataler für die gesamte deutsche Gesellschaft als
für die Juden. Mit anderen Worten: Der Politiker hätte sich nicht
nur bei den Juden, sondern bei allen Demokraten des Landes
entschuldigen sollen – bei allen Bürgern, deren friedliche
Koexistenz durch die Abwiegelungspolitik, durch eine
Vogel-Strauß-Politik der demokratischen Parteien in den vergangenen
12 Jahren massiv gefährdet ist. Anders gesagt: Es ist an der Zeit,
dass eine an sich so stabile und offene Gesellschaft wie die
Bundesrepublik Deutschland Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit
als direkten Angriff auf die demokratische Solidargemeinschaft
begreift und weniger als Angriff auf irgendwelche Minderheiten. Ich
denke, diese drei Grundüberlegungen sind die Basis für alles, was
folgt, sie sind die Grundvoraussetzung für die Strategien, die man
gegen den Antisemitismus ergreifen sollte. Denn nur wenn das
notwendige gesellschaftliche Bewusstsein hergestellt ist, haben
Maßnahmen und Aktionen gegen den Antisemitismus überhaupt
langfristig eine Chance. An dieser Stelle müsste eine Analyse
folgen, wieso sich der Antisemitismus ausgerechnet nach der
Wiedervereinigung so stark ausbreiten konnte. Ich will das heute
jedoch nicht weiter ausführen, darüber wurde schon so oft diskutiert
und gesprochen, dass ich nur längst Bekanntes wiederholen würde.
Vielleicht nur soviel: Letztendlich folgt die neue Entwicklung in
Deutschland einem uralten Muster: In Zeiten gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Umwälzungen und Verunsicherung suchte man schon
immer gerne nach Sündenböcken für die eigene Bedrohung und
Gefährdung. Wir Juden kennen dieses Verhalten unserer christlichen
Umwelt seit 2 000 Jahren.
Was aber ist nun zu tun? Die Bundesregierung hatte in der
vergangenen Legislaturperiode bereits erste Initiativen gestartet,
die wichtige Signale in die richtige Richtung waren. Das
Aussteigerprogramm von Innenminister Otto Schily, das
Aktionsprogramm von Ministerin Bergmann waren erste Schritte der
Bundesregierung hin zu einer Solidargemeinschaft, die zumindest
versucht, denjenigen unserer politischen Feinde zu helfen, die eine
Zukunft, die eine demokratische Zukunft haben möchten. Wir sind es
uns selbst schuldig, zumindest alles zu versuchen, dass jeder Mensch
in unserer Gesellschaft die Chance auf ein besseres Leben hat –
unter der Voraussetzung natürlich, dass er die Grundregeln des
friedlichen Miteinanders akzeptiert.
Neben dieser Akut-Behandlung eines Problems müssen jedoch
langfristige Initiativen und Therapieformen entwickelt werden. Sehr
viel mehr als bisher muss im Bereich der Bildungspolitik geschehen,
jenseits der Ergebnisse der Pisa-Studie! Das politische Vakuum, das
sich durch den Untergang des SED-Regimes insbesondere in
Ostdeutschland gebildet hat, ist eine willkommene Möglichkeit für
den Rechtsextremismus, sich "häuslich" niederzulassen. Man stelle
sich das vor: Eine Gesellschaft, die sozialistisch-totalitaristisch
erzogen wurde, der also der Zugang zur freien Information, zu einer
pluralistischen Weltsicht, zum demokratischen Diskurs und Dialog
über Jahrzehnte vorenthalten wurde, musste von einem Tag auf den
anderen, mit einer neuen Gesellschaftsform, mit neuen politischen
Strukturen klar kommen. Hand aufs Herz: Wer von uns westlichen
Bürgern begreift denn wirklich, wie Demokratie in ihren
Feinverästelungen funktioniert? Wie politische Gremien und
Ausschüsse zur politischen Willensbildung beitragen, wie
Gesetzesvorlagen entwickelt werden usw.? Selbst wir, die wir im
demokratischen Westen erzogen wurden, haben unsere liebe Mühe, unser
politisches System zu begreifen. Und angesichts der
Schlammschlachten, die sich gegnerische Politiker in
Bundestagsdebatten öffentlich liefern, haben auch wir manchmal Mühe,
die Demokratie ernst zu nehmen und mit ihr verantwortlich umzugehen.
Um wie viel schwieriger haben es daher die Menschen in der
ehemaligen DDR. Sie wurden allein gelassen. Von fast allen Parteien.
Wer hat sich wirklich die Mühe gemacht, diesen Menschen
demokratische Strukturen zu vermitteln, ihnen das Primat des
Konsens‘ zu vermitteln, die Vorzüge demokratischer Streitkultur und
Willensbildung? Und wer hat versucht, diesen Menschen beizubringen,
dass das "deutsche Wesen" ganz bestimmt nicht das einzige ist, an
dem man genesen kann? Dass es in der komplexen Realität von heute
ein Plus ist, mit unterschiedlichen Gedanken und Konzepten,
unterschiedlichen Weltbildern und Kulturen in Berührung zu kommen,
um optimale Lösungen für komplizierte gesellschaftliche
Notwendigkeiten zu finden.
Bildungspolitik müsste genau an diesen Punkten ansetzen, um somit
die Angst vor dem Fremden, das Vorurteil gegenüber dem Unbekannten
zumindest zu minimieren. Ähnliches gilt natürlich nach wie vor auch
für den Westen der Republik. Denn wir dürfen uns nicht einbilden,
dass wir die Toleranz und den Respekt vor dem Anderen nur dadurch
bereits für uns gepachtet haben, weil wir in einer Demokratie groß
geworden sind. Das wäre zu schön. Die Realität zeigt, dass wir auch
im Westen massive Defizite in der Bildungspolitik erleben, dass auch
hier Vorurteile, Ressentiments und Hass gegenüber Juden und anderen
existieren. In gleichem Maße müssten Bildungsprogramme auch für eine
Stärkung der Zivilcourage bei jedem Einzelnen eintreten.
Wir kennen das: Bei jedem neuen Attentat kommt der lautstarke Ruf
nach mehr Zivilcourage. Doch anders als in anderen westlichen
Demokratien ist man in Deutschland in einigen mentalen
Grundstrukturen immer noch stark von einer gewissen
Obrigkeitshörigkeit erfüllt, ist das Gefühl des Einzelnen häufig
davon bestimmt, dass "die da oben" machen, was sie wollen, dass man
als Individuum, als "kleine Nummer" keinen Einfluss habe, dass man
somit auch keine Verantwortung tragen müsse, dass der Staat, die res
publica, nicht man selbst ist sondern immer nur die Anderen. Hier
wäre es angebracht, im Rahmen politischer Bildungsarbeit vor allem
jüngeren Menschen persönliches politisches Engagement wieder
schmackhaft zu machen, ihnen zu zeigen, dass sich Enthusiasmus und
Idealismus lohnen, dass Querdenken und Vordenken in der Gesellschaft
gefragt ist und nicht – wie so häufig übrigens auch innerhalb der
etablierten Parteien – als lästig und störend empfunden wird, als
eine Form von Renitenz, die man sofort zerschlagen und vernichten
muss, um den geregelten Gang der Dinge nicht zu gefährden. Wie soll
Eigenverantwortung bei jungen Bürgern – und auch bei älteren –
entstehen, wenn diese abgemahnt und abgestraft wird? Eines der
wesentlichen Merkmale der amerikanischen und auch der französischen
Demokratie ist, dass der Bürger sich als Teil des Staates versteht
und die Politiker nicht als allmächtige Herrscher ansieht, sondern
als eine Art von "seinesgleichen", denen man für eine kurze Zeit ein
Mandat gibt, – oder es ihnen auch wieder entzieht. Dieses Gefühl,
dieses Wissen um die eigene Verantwortung muss in Deutschland, vor
allem im Osten, weiter gefördert werden.
Kommen wir zum nächsten Punkt: Der gesellschaftlichen Überprüfung
und Ächtung antisemitischer und fremdenfeindlicher Aktivitäten von
Seiten der Justiz, der Polizei und des Militärs.
Rechtsextremistische Vorfälle in der Bundeswehr gehören mittlerweile
zum Alltag der Republik, ähnlich schaut es bei der Polizei aus. Ich
spreche hier nicht von einigen schwarzen Schafen, die es überall
gibt und die man nie ganz loswerden kann. Ich meine eine
strukturelle Problematik, die nicht mit dem nötigen Ernst
wahrgenommen und bekämpft wird. Es ist wahr: Polizei und Bundeswehr
repräsentieren einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Warum also
glaubt man, dass ausgerechnet Polizei und Bundeswehr gegen die Pest
des Antisemitismus immun sein können? Doch darum geht es mir nicht.
Ich beklage vielmehr den Hang von Politikern und entsprechenden
Teilen der Bürokratie, Geschehnisse zu verharmlosen. Ja, bei
besonders krassen Fällen werden Untersuchungskommissionen gebildet,
es kommt zu Berufsverboten, Ausschlüssen aus der Armee und so
weiter. Doch mehr noch herrscht ein Geist der Vertuschung und
Vernebelung, immer aus Angst, dass eine antisemitische deutsche
Polizei oder eine antisemitische Bundeswehr eine extrem schlechte
Publicity für den Export-Weltmeister Deutschland bedeuten würde. Wie
kurzsichtig ist doch diese Überlegung.
Ist es nicht gerade ein Zeichen demokratischer Stabilität und
Stärke, antidemokratische Strukturen mit aller Macht zu bekämpfen,
sie öffentlich zu brandmarken und sie so zu verhindern? Auch hier
erwarte ich von Seiten der Politik ein massives Umschwenken und
Umdenken. Eine neue Form demokratischen Selbstbewusstseins muss her,
eine neue Form von Transparenz bei Vorfällen, die wir alle nicht
tolerieren wollen und können. Ebenso entscheidend ist die Kontrolle
der Justiz.
Wir alle wissen, dass die bundesdeutschen Gerichte in den fünfziger
Jahren zahlreiche Nazi-Richter in ihren Reihen hatten, dass diese
Männer schlagartig von Faschisten zu Demokraten mutierten. Wir
wissen, dass die Folgen dieser braunen Verschmutzung der
Nachkriegsjustiz bis heute Nachwirkungen zeigen, dass natürlich auch
eine neue Generation von reaktionären Richtern und Anwälten
nachgewachsen ist, die eine demokratische Gesetzgebung und
Rechtsprechung immer wieder zu unterlaufen versuchen. Auch hier
gilt, wie für alles, was ich schon erwähnt habe: Schonungslose
Ächtung derjenigen, die Neo-Nazis und Skins mit milden Strafen
davonkommen lassen, schonungslose öffentliche Konfrontation mit
denjenigen Richtern und Anwälten, die Mord nicht Mord, Totschlag
nicht Totschlag, versuchten Mord nicht versuchten Mord nennen,
sondern alles immer nur als Dumme-Jungen-Streiche abtun. Die eine
merkwürdige Form von Milde walten lassen, als ob der demokratische
Konsens, dass Gewalt nie und nimmer akzeptiert werden kann, nicht
existiere. Schonungslos sollten die Selbstreinigungskräfte der
Justiz auch bei Kollegen sein, die Auschwitz-Leugner und
Volksverhetzer mit Bewährung oder banalsten Auflagen davonkommen
lassen. Das kann, das darf eine demokratische Gesellschaft nicht
tolerieren. Und anders als die amerikanische Gesellschaft, deren
Meinungsfreiheit Gruppierungen, die bei uns zum Teil vom
Verfassungsschutz beobachtet werden, alle Rechte einräumt, anders
als die USA denke ich, dass Deutschland nach wie vor strengere
Formen von Kontrolle braucht. Zwei totalitäre Regimes
unterschiedlicher Couleur als Vorläufer gehabt zu haben, ist eine
schwere Hypothek für eine Demokratie, die noch jung ist und die ihre
Feuerprobe in den anstehenden Krisenzeiten erst noch bestehen muss,
anders als die amerikanische Demokratie, die sich gegenüber jeder
Form von Diktatur bislang als immun erwiesen hat.
Schließlich möchte ich auf den so genannten deutsch-jüdischen Dialog
zu sprechen kommen. Wenn der Kampf gegen den Antisemitismus Erfolg
haben soll, dann ist das permanente Gespräch zwischen Juden und
Nichtjuden eine Notwendigkeit für beide Seiten. Für Juden in
Deutschland, weil sie sich nach 50 Jahren der selbst gewählten
Isolation durch die emotionalen Folgen der Schoah allmählich zur
deutschen Gesellschaft bekennen wollen und sollen, weil sie jetzt,
58 Jahre nach dem Holocaust, lernen müssen, sich gegenüber ihrem
deutschen Umfeld zu öffnen und ihre Bedürfnisse, ihre emotionalen
Befindlichkeiten und ihre Ängste zu formulieren. Für Nichtjuden, um
ihre immer noch starke Hemmung gegenüber Juden abzubauen, um zu
begreifen, dass wir auch nur Menschen sind und keine Wesen von einem
anderen Stern.
Allerdings – die Mehrheitsgesellschaft sollte lernen, auf die
Minderheiten zu hören. Es kann nicht angehen, dass Nichtjuden uns
Juden immer wieder erklären wollen, was antisemitisch ist und was
nicht. Es kann nicht angehen, dass wir in unserer häufig negativeren
Wahrnehmung von Ereignissen als "übersensibel" oder "übertrieben"
abgekanzelt werden. Das ist arrogante und dumme Bevormundung.
Die nichtjüdische Mehrheit muss zweierlei lernen: Ja, wir Juden sind
übersensibel. Und das nun wahrlich nicht ohne Grund. Wir haben eben
für viele Entwicklungen sensiblere Antennen als andere, weil wir
diese Fähigkeit entwickeln mussten, um zu überleben. Daher sollten
unsere Reaktionen ernst genommen werden, sie sollten zumindest als
Warnsignal dienen, als Chance, eigene Einschätzungen und
Beurteilungen von Ereignissen zumindest in Frage zu stellen. Da
können Nichtjuden von uns Juden sicher mehr lernen als umgekehrt.
Wenn ich mich an die Debatte in den deutschen Feuilletons erinnere,
die tatsächlich "ernsthaft" darüber diskutierten, ob Möllemann nun
tatsächlich ein Antisemit sei oder lediglich etwas "antisemitisches"
gesagt habe, dann kann ich nicht nur fassungslos den Kopf schütteln,
sondern bin beinahe gewillt, zu lachen angesichts solch dümmlicher
Naivität!
Ich möchte zum Schluss kommen und Ihr Augenmerk lenken auf eine ganz
wesentliche Kraft im Kampf gegen den Antisemitismus, eine Kraft,
ohne die alle Strategien null und nichtig sind: Die freie Presse.
Sie ist die vielleicht wichtigste Institution innerhalb einer
Demokratie, denn nur sie allein garantiert, dass die Öffentlichkeit
informiert wird, dass die Organe des Staates, also Legislative,
Judikative und Exekutive permanent überprüft werden. Jeder Angriff
auf die Presse ist daher eine massive Bedrohung demokratischer
Kultur. Und selbst wenn wir in der heutigen Mediengesellschaft die
Aufdringlichkeit der Journalisten manchmal nicht mehr ertragen
können, auch wenn die Exzesse des Boulevardjournalismus in uns
manchmal den Wunsch nach einer strengeren Restriktion gegenüber der
"Journaille" aufkommen lässt - ohne die freie Presse sind wir alle
nichts.
Ohne die freie Presse wüssten Sie und ich nicht, wo Juden bedroht,
Synagogen angezündet, Politiker sich antisemitisch geäußert haben.
Es ist die Presse, die uns die Möglichkeit gibt, zu reagieren. Dass
wir reagieren – das allerdings liegt dann in unserer eigenen
Verantwortung. Und diese Verantwortung zu übernehmen – das ist
schließlich der letzte und endgültige Beweis für die
Funktionsfähigkeit einer Demokratie.
Ich wünsche uns allen die Kraft, diese Verantwortung im Alltag, in
der täglichen Auseinandersetzung mit dem Anderen zu erfüllen. Dieser
Kraftakt, Sie wissen es, meine Damen und Herren, lohnt sich. Für uns
alle.
Aus
der Reihe "Historische Reden":
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, anlässlich des Jahresempfangs des Evangelisch-Lutherischen
Dekanatsbezirks München
Residenz München, Max-Josef-Platz 3, München am 30.04.2003
hagalil.com
22-10-2004
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