Alles, was Sie schon immer
über Antisemitismus wissen wollten...Aus dem 1.
Kapitel des Romans "Trümmerkind"
l. MATUSOWICZ, DER JUD'
I. Teil
Bernd Späth liest: 1-1.rm
Über den Jud' an sich, net wahr, also da hatten sie
mich ja frühzeitig informiert. Schon als Kleinkind hatte ich gelernt, dass
der Jud' (A) schon wieder überall drinsitzt und (B) schon wieder frech wird.
Außerdem sagten manche, es graust ihnen schon, wenn sie einen Jud' nur
sehen, aber heute dürfe man da leider nichts mehr machen. Andere sagten, der
Jud' würde schon wieder genauso gegen Deutschland arbeiten wie vor dem
Adolf, nur dass es heute leider den Adolf nicht mehr gäbe. Und der
Amerikaner habe uns sowieso den ganzen Spaß dran verdorben, sonst wären wir
mit ihnen schon fertig geworden. Und was am ärgerlichsten sei, das sei, dass
sie jetzt auch wieder schächten dürfen — auch bloß wegen dem Amerikaner.
Vorschulische Bildung ist von Wert, wenn einer ein
anständiger Mensch werden will. Ich war zwar schon im Kindergarten, aber
noch nicht in der Schule, doch ich hatte schon kapiert, um »was für
welcherne« es sich bei dem Jud' handelte. Mit so einem wollte ich nichts zu
tun haben, und schon als Kind ärgerte es mich, dass sie überall drinsaßen
und herumwühlten und versuchten, uns anständige Leute um unser ehrlich
erarbeitetes Hab und Gut zu bringen. Und außerdem sei »seinerzeit damals
vorm Adolf« auch noch einiges gelaufen mit deutschen Dienstmädchen, worunter
ich Knirps mir zwar noch nichts vorstellen konnte, was aber trotzdem eine
besondere Sauerei gewesen sei. Mit dem Jud' also war nicht zu spaßen. Auch
als Kind - das hatte ich sofort begriffen - musste man sich von ihm fern
halten wie von einer Infektionskrankheit. Allerdings irritierte mich
bisweilen, dass es nirgends einen Jud' zu sehen gab.
Bernd Späth liest:
1-2.rm
Es waren die frühen fünfziger Jahre, der Krieg war gerade
dabei, zur Erinnerung zu werden. Um den Starnberger Bahnhof in München
standen noch die Bombenruinen. In der Arnulfstraße klaffte ein großer,
zusammengebombter Kuppelbau in den Himmel wie eine verschorfte Wunde. Ganz
oben, wo der Rest einer Lichtkuppel sich ins Firmament hinaufreckte wie der
letzte, zerschundene Kriegsheimkehrer, wuchs eine Birke aus dem roten
Ziegelgemäuer. Ihre Blätter wedelten im Wind und ihre Unterseiten blinkten
zu mir herab. Und ich stand aufgeregt und glücklich und war verzaubert von
diesem kleinen Wunder der Natur, das mich mehr beseelte, als all die
Zerstörung rings umher mich erschrecken konnte.
Jedes Mal wenn wir von Fürstenfeldbruck »in d' Stadt«
führen, um einzukaufen, kamen wir an der Ruine vorbei. Und jedes Mal
erzählte meine Stiefmutter Traudi mir, wie sie nach einem schweren
Bombardement Münchens zur Arbeit geeilt sei. Auf einem großen Schutthaufen -
tags zuvor noch ein Bürohaus - hätten Leute herumgewühlt, und plötzlich sei
ein menschlicher Kopf das Geröll herabgepurzelt wie ein Lederball mit zu
wenig Luft drin. Das beeindruckte mich sehr, und ich fand es aufregend, so
ein Erlebnis in der Familie zu haben. Doch zu meiner Überraschung wurde mir
erklärt, an diesen Zerstörungen sei nicht der Jud' schuld gewesen - was
eigentlich nahe gelegen hätte -, sondern der Amerikaner. Aber hinter dem
Amerikaner stecke schon seit jeher der Jud', deshalb sei es letztlich egal.
Und wenn der Jud' nicht ständig in den Amerikaner hineingehetzt hätte, er
solle Deutschland ja bloß kaputtmachen, dann hätte man dem Jud' ja nichts
tun müssen. Der Adolf habe ja bloß keinen Ausweg mehr gesehen, weil der Jud'
ums Verrecken nicht zu hetzen aufgehört habe.
Die Schlüssigkeit einer bestimmten Art von Logik hat mich
immer fasziniert, weil ihr einfach nicht beizukommen ist. Dieser
Argumentation ist man wehrlos ausgesetzt, denn Verstand und Analyse greifen
nicht. Darum hat Henryk M. Broder in seinem Buch »Der ewige Antisemit« auch
Recht, wenn er den Antisemitismus in erster Linie als Gefühlszustand
beschreibt. Es ist ja offensichtlich, dass man auf die Leistungen seines
Intellekts willig verzichten muss, um zu Beweisrührungen wie der obigen zu
gelangen. Die hermetische Abschottung des Hirns gegen die Wirklichkeit,
verbunden mit all ihren Verschwörungstheorien, ihrem Misstrauen und ihrer
Unbelehrbarkeit, trägt durchaus Merkmale der so genannten »wahnhaften
Störung«, einer international definierten psychiatrischen Diagnose.
Aber das wusste ich damals noch nicht. Deshalb hatte ich
die Juden ziemlich dick, wie man bei uns im Bayrischen sagt. Trotzdem:
gesehen hätte ich schon mal gerne einen. Was meine Neugier noch
steigerte, war die Mitteilung meiner Tante Karli bei einer der sonntäglichen
Kaffeerunden im Kreise unserer Familie, jetzt der Goldbrom, der alte Jud',
der sei jetzt auch wieder in der Stadt und wolle in der Pucher Straße ein
Kino aufmachen - das »Metropol«.
»Werden schon wieder mehrer und mehrer!«, seufzte mein
Vater. Und meine Stiefmutter ergänzte giftig, da könne man ja genau sehen,
dass sie während dem Krieg alle stiften gegangen seien, und jetzt kämerten
sie alle wieder einer nach dem anderen daher und würden wieder frech. Und
keiner mehr da, der was sagt.
Ein Jud' war also schon
wieder da. Richtig frech wurde er noch nicht, das ließ sich vorerst noch
nicht sagen. Außerdem trank er gelegentlich ein Glas Wein mit meiner Tante
Karli, die ihn irgendwie zu mögen schien. Aber von der wusste ja jeder in
der Familie, dass sie aus Koblenz war und damit eine, die sowieso jeden dran
ließ. Weil, sie war, wie man mir sagte, im Gegensatz zu uns Bayern eine
Temperamentvolle, und das sehe man schon an ihren stahlschwarzen Haaren.
Irgendwie wurde die ganze Geschichte immer verwirrender
für mich: Einerseits hetzt der Jud' so lange in den Amerikaner hinein, bis
dieser ganz München bombardiert und bis ein ganzer Kopf den Bombenschutt
herunterrollt. Andererseits kommt er dann wieder daher und baut ein Kino auf
und greift der Tante Karli freundlich ans geschichtsbeladene Koblenzer
Dreieck. Obwohl er eigentlich - genau genommen - gegen sie hätte sein
müssen, weil sonst braucht er vorher ja gar nicht erst bombardieren.
Ob er uns bombardiert hat, damit er leichter an sein Kino
kommt, ging mir noch durch meinen kleinen Kopf. Aber die Frage musste ich
offen lassen, weil ich zu wenig davon verstand. Jedenfalls, neugierig war
ich geworden und wollte ihn endlich sehen, den Jud'.
Fortsetzung Kap. I / II. Teil...
hagalil.com
17-06-2002
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