Zum Schluss der gestrigen Sendung des
Magazins Kontraste wurde noch
eine Geschichte aus Berlin erzählt. Diese Geschichte wäre gar nicht in die
Öffentlichkeit gedrungen, hätte nicht Iris in haGalil einen
Bericht darüber geschrieben. Wie viele Geschichten, von denen keiner
je erfährt?
Bespuckt, Beleidigt, Boykottiert:
Ein deutscher Jude gibt auf
AUTORIN: Anja Dehne
RealAudio:
Videoaufzeichnung der Sendung /
Bericht bei "kontraste"
Berlin - die Stadt der Schwulen, der
vielen Nationen und Kulturen, weltoffen und tolerant stellt sie sich zur
Schau. Doch für einen kleinen Lebensmittelhändler, einem gläubigen Juden,
ist in dieser Stadt offenbar kein Platz. Anja Dehne mit einer Geschichte aus
der Bundeshauptstadt, Bezirk Reinickendorf.
Die Geschichte von Dieter T. ist keine laute Geschichte, sie ist keine
Sensationsstory, keine die große Schlagzeilen macht. Die Geschichte von
Dieter T. beginnt und endet hier an seinem koscheren Geschäft, einem
Lebensmittelladen im bürgerlichen Berlin-Tegel.
Der Laden ist geschlossen, seit ein paar Wochen, die zerschmetterte
Fensterscheibe immer noch nicht repariert. Es sind keine Molotowcocktails
gefolgen. Dieter T., der deutsche Jude, ist auch nicht verprügelt worden.
Und trotzdem schmerzt es - daß er am Ende doch aufgeben mußte; aus
finanziellen Gründen und weil Feindseligkeit das Geschäft ruiniert hat.




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Dieter T.:
"Man hängt an so einem Geschäft und wenn man dann rausgeht, ohne daß
man bankrott ist eigentlich, wenn man bankrott gespielt wird, dann ist
das schon traurig."
Berlin. Brunowstraße. Vor sieben Jahren hat sich Dieter T. hier einen
bescheidenen Traum erfüllt, einen kleinen Tante-Emma Laden mitten im
Kietz. Cafe gibt's für 80 Cent. Ein Treffpunkt für die Leute aus dem
Viertel. Dieter T. gehört dazu. Der Umsatz ist passabel.
Im Mai vergangenen Jahres stellt der gläubige Jude seinen Laden auf ein
koscheres Lebensmittelgeschäft um, neben Kaffee und Brötchen gibt es
jetzt auch Delikatessen aus Israel. Sein Rabiner hatte ihm dazu geraten.
Er selbst will nur noch verkaufen, was er selber ißt - koschere
Lebensmittel, kein Schweinefleisch mehr. Draußen weht die israelische
Fahne, die Schaufenster beklebt er mit dem Davidstern. Vier Wochen geht
das gut, dann beginnt der alltägliche Terror.
Dieter T.:
"Jeden zweiten, jeden dritten Tag, war unbestimmt, man konnte nie
sagen heute ist es, morgen ist es nicht, haben hier vorne Wagen
gehalten, haben die Scheiben runter gedreht und haben mich dann bedroht,
mit Schimpfworten. Du Judenschwein, du hättest schon längst in der
Gaskammer sein können, mit deiner dreckigen Fahne putze ich mir die
Schuhe."
Die Männer in den Autos haben kahlgeschorene Köpfe. Dieter T. traut sich
nicht mehr seinen Laden wie sonst üblich um fünf Uhr aufzumachen, weil
er zu Geschäftsbeginn im hinteren Teil vorbereiten muß und den vorderen
Teil des Ladens nicht mehr unbeaufsichtigt lassen will. So verliert er
Kunden. |
Es wird der Hitlergruß gezeigt, Hacken
knallen. Und die Menschen aus dem Viertel kriegen mit, was passiert.
Nachbarn:
"Es gab hier auch vor dem Hause Zusammenrottungen von jungen Leuten, die
eindeutig zu seinem Laden gesprochen haben und gezeigt haben. Das Auto soll
hier gestanden haben, da sollen auch zwei Leute drin gesessen haben. Mein
Mann hat das gesehen. Wir haben ihn darauf angesprochen, sind reingegangen,
haben gesagt, du Dieter, was ist denn da mit den Leuten draußen, A ja die
kenn ich schon, hat er gesagt. Also das war nichts neues."
Statt sich gegen Drohgebärden zur Wehr zu setzen, versuchen einige Anwohner
auf Dieter T. einzuwirken. Er solle doch die jüdischen Symbole wieder
entfernen. Seine Kunden sind verunsichert. Dieter T. war jahrelang einer von
ihnen, man half sich gegenseitig, aber seitdem er sich mit seinem Laden
offen zum Judentum bekennt, sehen einige Probleme.
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Nachbarn:
"Der Mann, der hat auf ein Mal aus welchen Gründen weiß ich nicht,
hat der so einen Judenstern, so eine Flagge darausgehangen und ein Käppi
auf dem Kopf gehabt, hat er vorher nicht, warum, das weiß ich nicht.
Seitdem ist da keiner mehr hingegangen. Na außerdem war er ja vorher ein
Normaler, einer wie wir, wir sind auch keine Ausländerfeinde oder
irgendetwas, aber wenn der auf einmal die Judenfahne raushängt, na da
fassen wir uns an den Kopf und fragen, was ist denn jetzt los." |
Dieter T.:
"Warum ist es eine Provokation? Was hat der Jude an sich? Was ist mit dem
Juden? Warum soll der seine Fahne nicht raushängen? Warum soll der seinen
Davidstern nicht offen tragen? Oder warum darf der seinen Hut nicht
aufhaben, seine Kippa? Warum nicht?"
Dieter T. will nicht aufgeben, sich nicht einschüchtern lassen. Aber der
alltägliche Terror geht weiter. Seitdem er den Laden erst um 9 Uhr aufmacht,
bleiben die Rechten weg.
Dieter T.:
"Dafür hat sich dann eine andere Gruppe eingestellt und zwar arabische
Leute, da ging es folgendermaßen, da hatte ich dann erst mal ne bespuckte
Scheibe, dann hatte ich Urin an der Hauswand, also so einen richtigen
schönen See, oder ab und zu einen Haufen, einen Menschenhaufen, keinen
Tierhaufen."
Dieter T. läuft den Tätern hinterher, fotografiert sie, erstattet Anzeige.
Bei der Berliner Staatsanwaltschaft laufen mehrere Ermittlungsverfahren
gegen Unbekannt. Die Chancen die Täter zu finden, stehen schlecht.
Jugendliche arabischer Herkunft pöbeln, reißen die Fahne ab. Einmal ruft
eine Nachbarin ihnen hinterher, aber die meisten schauen einfach schweigend
zu.
Nachbarn:
"Die Pöbelein, daß ihm die Fahne mal abgenommen wurde von irgendwelchen
Jungs, da sage ich mal, das war mit Sicherheit ein dummer Jungen Streich,
die Pöbelein, hab ich nichts von mit gekriegt. Die Scheibe wurde bespuckt,
das wird meine auch, dann macht man es weg, dann ist das Thema erledigt.
Jeden Tag war gar nichts weiter, außer daß die sich hier zusammengestellt
haben, rumgescherzt, also wir haben sie ja nicht angesprochen, sie werden
sich ja nicht mit sechs, sieben Halbwüchsigen auseinandersetzen wollen.
Warum auch?"
Dezember vergangenen Jahres: Während der israelische Ministerpräsident die
Stadt besucht, fliegt nachts ein Stein in die Scheibe des Ladens, die Täter
werden nicht gefasst.
Nachbarn:
"Nachdem die Scheibe eben mit einem Stein eingeschlagen worden war,
hatten wir schon alle Angst, daß noch mehr passiert. Es hätte ja auch mal
eine Flasche fliegen können, so ein Molotowcocktail. Die Fahne hing und dann
war das mit der Scheibe und da hat er sich denn selber mit geschadet."
Die Geschäfte des Dieter T. laufen immer schlechter. Eine finanzielle
Misere. Und jetzt kommt auch noch die Lebensmittelaufsicht. Seine koscheren
Fertigpackungen sind auf englisch gekennzeichnet, so wie sie übrigens auch
in großen Kaufhäusern verkauft werden. Aber die Lebensmittelaufsicht
verhängt ein Bußgeld, insgesamt soll er 430 Euro zahlen. Die
Bezirksbürgermeisterin hatte selbst ein Auge drauf.




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Bezirksbürgermeisterin:
"Meine Mitarbeiter waren hier und haben kontrolliert und er hat sich
leider nicht an deutsche Gesetze gehalten. Und wenn er dann koschere
Ware anbietet, das ist ganz richtig, so muß er hier aber nach dem
deutschen Wirtschaftsgesetz auch deutsch deklarieren."
Am Ende hat Dieter T. kaum noch Kunden und kein Geld mehr. Der
Hausbesitzer bietet an die Miete zu reduzieren, ein Freund leiht Geld.
Aber es nützt nichts. Dieter T. muß seinen Laden schließen. Inzwischen
hat er eine Menge Schulden.
Frage:
"Machen Sie den Menschen hier in der Umgebung einen Vorwurf?"
Dieter T.:
"Kann man das tun? Kann man anderen Menschen, die sich einfach nicht
trauen dagegen anzugehen, einen Vorwurf machen?"
Dieter T. ist 59 Jahre alt. Viele seiner Verwandten starben in deutschen
Konzentrationslagern. Seine eigene Mutter konnte überleben, weil sie von
einem Arier schwanger war. Später versteckte sie sich mit den Kindern in
Berliner Laubenkolonien. So hat Dieter T. die Nazizeit überlebt.
Deutschland ist ein schönes Land, sagt Dieter T. und es ist seine
Heimat. Aber jetzt 60 Jahre nach dem Krieg will er weg, die
Einreisepapiere für Israel hat er schon.
Der italienische Gemüsehändler hängt die italienische Fahne auf und
wirbt damit für besonders gute Tomaten. |
Der türkische Imbiss garantiert mit der
türkischen Fahne die Qualität von Döner und Schafskäse. Der koschere Laden?
Er hätte ja nicht gleich die israelische Fahne aufhängen müssen! Sagen die
Nachbarn. Und dann kauften sie nicht mehr beim Juden. Eine Geschichte aus
Berlin im Jahr 2003.
[Diskussion]
Bericht bei "kontraste" /
Videoaufzeichnung der Sendung

Nicht nur ein koscheres
Lebensmittelgeschäft mußte schließen:
Arabischer Antisemitismus in Berlin
In diversen Gemüseläden meiner
Umgebung, die von arabisch sprechenden Menschen betrieben werden, hängen
Fahnen oder Abbildungen von Fahnen, die auf die Ursprungsländer der
Ladeninhaber verweisen - manchmal in Kombination mit der Palästinaflagge und
manchmal ohne...
"Mein Geschäft habe ich geliebt":
Koscheres
Lebensmittelgeschäft mußte schließen
Sieben Jahre hatte Herr T(59), der seinen Namen
inzwischen nicht mehr veröffentlicht sehen möchte, im bürgerlichen
Reinickendorf (Ortsteil Tegel) in der Nähe zweier Einkaufsstraßen und des
Tegeler Sees einen florierenden Tante-Emma-Laden...
[koscher.net]

Lower East Side, Manhattan:
Kossar’s Bialys
Ich habe es nirgends länger als drei Jahre
ausgehalten, außer bei meinem Mann...
hagalil.com
05-09-2002
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