Der Hass auf das Andere
Die Debatte um den Antisemitismus verschleiert, dass die abendländische
Zivilisation nie frei sein kann von Ressentiments gegen das Fremde: Weil es
Angst und Lust zugleich bereitet
von CHRISTIAN SCHNEIDER
Es sind nicht die schlechtesten Zeiten, in denen offen
über Antisemitismus diskutiert wird. Denn dass er in vielen Köpfen als
Gefahr präsent ist, ist der beste Schutz davor, dass er nicht vom Gedanken
zur Tat wird. Aus den Köpfen ist er ohnehin nicht zu tilgen.
Was immer sonst Wertvolles aus der Erforschung des
Antisemitismus gewonnen werden kann, es sind vor allem zwei Dinge, die jeder
wissen sollte: Antisemitismus ist eine soziale Krankheit ohne wirkliche
Chance auf Heilung. Und: Er ist irrational. Mit Argumenten ist ihm nicht
beizukommen. Beides ist deshalb wichtig, weil sich mit dieser Erkenntnis ein
verbreitetes Missverständnis vermeiden lässt. Man kann den Antisemitismus
bekämpfen, aber weder verbieten noch abschaffen.
In seinen vielfältigen Formen ist er so eng mit der
Geschichte des abendländischen Zivilisationsprozesses verbunden, auf dessen
Umkehrung und Zerstörung er hinausläuft, dass man ihn nur versteht, wenn man
ihn als dessen Teil begreift. Er ist nicht nur, wie der von Antisemiten
ermordete Walther Rathenau meinte, die "vertikale Invasion der Gesellschaft
durch die Barbaren", er ist zugleich eine inwändige Schicht der Barbarei,
die durch den Prozess der Zivilisation selbst immer wieder neu erzeugt wird
und offenbar durch "historische Lehren" nicht zu bezwingen ist.
Hatte nach Auschwitz nicht jeder vernünftige Mensch denken
müssen, nunmehr sei Antisemitismus unmöglich geworden? Die oft kolportierte
Antwort, die Deutschen hassten die Juden nicht trotz, sondern wegen
Auschwitz, bringt in schroffster Verdichtung etwas von der psychischen
Kontur des antisemitischen Syndroms zum Ausdruck. Es lebt von der Umkehrung
der Realitäten, der Schuldprojektion und vom Hass.
Tatsächlich: Am Grunde allen Antisemitismus stehen Hass
und Neid. Nicht unbedingt der heiße, persönliche Affekt gegenüber Einzelnen,
der den alten Judenhass kennzeichnete. Im modernen Antisemitismus ist dieser
Hass gleichsam eine generalisierte, auf die Gruppe der Juden gerichtete
Verachtung, die ihr Ziel in der Vernichtung findet. Niemand anderes als
Adolf Hitler forderte schon 1919 gegenüber dem "Antisemitismus aus rein
gefühlsmäßigen Gründen" einen planvollen "Antisemitismus der Vernunft",
dessen "letztes Ziel" die "Entfernung der Juden überhaupt" sein müsse.
Der traditionelle Judenhass bediente sich vor allem der
christlichen Legitimation. "Gott will es", lautete der Ruf der Kreuzzügler,
mit dem im 11. Jahrhundert die ersten systematischen Massaker an den Juden
in Europa eingeleitet wurden. Das älteste Motiv des religiös motivierten
Antisemitismus, die Juden als Christusmörder zu denunzieren und zu
verfolgen, ist bis heute keineswegs obsolet geworden.
Wenn wir zwischen religiösem
und rassischem, sozialem und politischem Antisemitismus unterscheiden, so
sollte das immer mit der Einsicht verknüpft sein, dass diese verschiedenen
Aspekte zu keiner Zeit und in keiner Gesellschaft isoliert vorgekommen sind
oder vorkommen. Der vermeintlich "spontane" Judenhass, auf den sich die
Nazis beriefen, war immer auch Resultat organisierter Propaganda und
politischer Inszenierung. Schon die Pogrome des Mittelalters sind mit offen
ökonomischen Kalkülen verquickt.
Auch beim historisch folgenreichsten Schritt zur
Segregation der Juden und der Implementierung der Ressentiments gegen sie
verschränken sich christliche und ökonomische Motive: Das im Jahre 1179
erlassene Verbot für Christen, Zinsen zu nehmen, verschaffte den Juden mit
dem Geldwirtschaftsmonopol innerhalb einer agrarischen Gesellschaft die
gehasste Position des Schacherers, der sich an der Not des Volkes
bereichert. Mit der Festlegung auf das Geldgeschäft war das Urmodell des
ökonomischen Vorurteils im modernen Antisemitismus fundiert.
Schon das Folgekonzil im Jahre 1215 kodifizierte die
daraus folgende Sonderrolle der Juden mit Kleidervorschriften, die sie
öffentlich kenntlich machen. Aus ihnen wurde der "gelbe Fleck" entwickelt,
der ein knappes Dreivierteljahrtausend später zum "Judenstern" mutierte und
nun mehr als lediglich sozialen Ausschluss signalisierte. Im Zwang zu
Praktiken, die Juden als solche kenntlich zu machen, drückt sich die
Ambivalenz aus, die sie für die Mehrheitsgesellschaft repräsentieren: Sie
scheinen gleichermaßen unerkennbar und auffällig, nah und fern, fremd und
vertraut zugleich.
Sie lösen, wie alles Fremde, gleichermaßen Attraktion und
Neid wie Angst und Ablehnung aus und bieten sich für Projektionen an. An
ihnen kann "erkannt" und aggressiv verfolgt werden, was dem eigenen
kollektiven Selbstbild nicht genehm ist. Die Juden sind die einzige Gruppe
in der europäischen Geschichte, auf die identisch das Bild des "nahen
Fremden" zutraf.
Das Syndrom der "Unterscheidungsnotwendigkeit" steht auch
am Ursprung des modernen Antisemitismus, der sich im 19. Jahrhundert
bildete. Er richtet sich, angesichts der immer stärkeren Integration und
Anpassung der Juden, auf angeblich typische, der Mehrheitsgesellschaft
schädliche "Rassenmerkmale", die auch durch Übertritt zum Christentum
erhalten blieben. Sein sozialer Hintergrund ist die tiefgreifende soziale
Umschichtung in Folge der industriellen Revolution.
Antisemitismus tritt immer
dann offen in Erscheinung, wenn das individuelle und kollektive Gefühl der
Sicherheit erschüttert ist, insbesondere in Zeiten, in denen die ökonomische
Existenz des Einzelnen bedroht ist. Denn der Antisemitismus greift auf die
innerste, die archaischste Angststruktur der Menschen zurück, auf die
infantile Angst, zu verhungern: Objekt der oralen Beraubung durch einen
tückischen und mächtigen Gegenspieler zu werden, der einem buchstäblich die
Nahrung wegfrisst.
Der Psychoanalytiker Ernst Simmel hat den Antisemitismus
mit der Regression auf den auf Selbsterhaltung gerichteten "destruktiven
Verschlingungstrieb des Hasses" zu erklären versucht, der unser Leben von
Anfang an beherrscht und der Antagonist des erotischen Liebestriebs bleibt.
Noch bevor das kindliche Individuum die Fähigkeit zu lieben erwirbt, wird es
von einer primitiven Hassbeziehung zu seiner Umwelt beherrscht, die sich im
Wunsch ausdrückt, nicht nur Nahrung, sondern alle Objekte, die Versagungen
auferlegen, zu verschlingen.
Auf diesen "zerstörerischen Selbsterhaltungstrieb"
regrediert Simmel zufolge der Antisemit, ähnlich dem Psychotiker, der kein
reifes Ich entwickeln kann. Die Regression auf den Wunsch, die gehassten,
angeblich die eigene Existenz bedrohenden Konkurrenten buchstäblich
"wegzubeißen", gelingt am besten dort, wo Realitätswahrnehmung und -prüfung
systematisch eingeschränkt ist: in der Masse. Durch die rauschhafte Teilhabe
am Kollektiv-Ich erfährt der Einzelne eine mächtige Aufwertung und in der
kollektiven Regression zugleich die Erlaubnis, seine infantilen destruktiven
Triebe nicht mehr unterdrücken zu müssen.
Die Masse ist der Ort, an dem das antisemitische Fantasma
des Einzelnen zur Verwirklichung drängt - und in der der Gedanke zur Tat
wird. Die nationalsozialistischen Masseninszenierungen haben das
nachdrücklich vor Augen geführt: In der Masse spaltet sich die Welt in zwei
Teile: die "Eigenen" und den geliebten Führer - und die gehassten "Anderen",
die Juden, denen alle Schuld am "Unglück" der Welt zugeschoben wird.
Diese "heißen" Inszenierungen bilden die notwendige
kollektive Rahmung für den von Hitler so genannten "Antisemitismus der
Vernunft" und seiner Konsequenz, dem "kalten", industriellen Töten, mit der
die unklare Bedrohung systematisch beendet und endlich "Eindeutigkeit,
Einheit und Reinheit" des "Eigenen" hergestellt werden soll. "Ein
Antisemit", sagt der Rabbiner Walter Rothschild, "ist jemand, der frohgemut
alle Juden beschuldigt, reich zu sein, und der sich bitter über jüdische
Bettler beklagt; der Juden dafür tadelt, dass sie Kapitalisten sind und dass
sie Kommunisten sind."
Diese Ausstattung mit disparaten Eigenschaften und
Qualitäten war nicht nur typisch für den nazistischen Antisemitismus.
Insbesondere die Verflechtung mit verzerrt antikapitalistischen und
antikommunistischen Motiven hat sich nach 1945, begünstigt durch das Klima
des Kalten Kriegs, hartnäckig gehalten. Die Fortexistenz des "Antisemitismus
der dummen Kerls" an den Stammtischen wurde in Deutschland stets so lange
still hingenommen, wie er keine politische Artikulation fand.
Der Antisemitismus der
"Gebildeten" kam jahrzehntelang in zwei "sozial verträglichen" Formen zum
Ausdruck: in der Kritik an der israelischen Politik und im Philosemitismus.
So fatal es wäre, jede politische Kritik an Israel als antisemitisch zu
qualifizieren, festzuhalten ist, dass sich in ihr häufig genug das alte
Ressentiment gegenüber den Juden versteckt. Nicht zuletzt die in
Regierungsverantwortung eingerückte Achtundsechzigergeneration hat sich
lange Zeit dieser Travestie in Form von "Antizionismus" und
"Antiimperialismus" bedient - ohne den antisemitischen Kern dieser Haltung
überhaupt zu bemerken.
Die zweite Form des "unauffälligen" Antisemitismus nach
1945 ist letztlich von größerer Bedeutung. Der Philosemitismus aber
entspringt denselben Quellen und lässt den psychischen Mechanismus des
Antisemitismus weitgehend unangetastet. Als dessen Umkehrung - er
idealisiert das, was der Antisemitismus entwertet - unterscheidet er sich
von ihm vor allem dadurch, dass seinen Anhängern die destruktive Seite
vollständig unbewusst bleibt.
Wenn wir uns heute um neu aufkommende antisemitische
Tendenzen sorgen, sollten wir die Tatsache nicht vergessen, dass er die
europäische Kulturkrankheit par excellence ist. Er steckt als Disposition in
jedem von uns. Und das heißt: Die erste Aufgabe ist, ihn nicht bei "den
anderen", sondern bei uns selbst zu bekämpfen.
CHRISTIAN SCHNEIDER, 51, veröffentlichte mit Cordelia
Stilke und Bernd Leineweber das Buch "Trauma und Kritik.
Generationsgeschichte der Kritischen Theorie" (Westfälisches Dampfboot,
Münster 2000, 227 Seiten, 24,80 Euro)
taz Magazin Nr. 6769 vom 8.6.2002, Seite IV,
279 TAZ-Bericht CHRISTIAN SCHNEIDER
taz muss sein: Was ist Ihnen
die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn Sie diesen Betrag
überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin (BLZ 100 100 10),
Konto-Nr. 39316-106
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
hagalil.com
24-06-2002
|