Michael Toch:
Neue Sichtweisen jüdischer
GeschichteDie Untersuchung der
mittelalterlichen Geschichte der Juden in Deutschland ist in den letzten
Jahren in Bewegung geraten. Die neuen Sichtweisen sollen nun auch und gerade
dem deutschsprachigen Leser nahegebracht werden. Für Michael Toch, Professor
für die Geschichte des Mittelalters an der Hebräischen Universität,
Jerusalem, war das Verfassen des neuen Bandes der Enzyklopädie deutscher
Geschichte eine Herausforderung. Tochs Geschichte der jüdischen
Geschichtsschreibung erweist sich als ebenso spannend wie die jüdische
Geschichte selbst.
Die Entwicklung einer modernen Historiographie war eine
langwierige und mühselige Aufgabe der innerjüdischen Identitätssuche. Die
Trennung der jüdischen von der "allgemeinen" Geschichte blieb noch lange
bestehen. Erst unter den gänzlich veränderten Bedingungen nach dem
Holocaust hat sich endlich auch die Fachmediävisik der jüdischen
Geschichte zugewandt.
Seitdem ist eine starke Tendenz zur Entmythologisierung
der jüdischen Geschichte zu beobachten, vor allem in Bezug auf die
Bedeutung der Familie, die Stellung der Frau, den Mythos vom "reichen
Juden". Das romantische Bild eines solidarisch und harmonisch lebenden
Gemeinwesens wird in der neueren Forschung zunehmend von einer Sicht
ersetzt, die den internen Konflikt betont.
Heute zeichnet sich in der Erforschung der jüdischen
Kultur des Mittelalters ein bedeutungsvoller begrifflicher Wandel ab. Sie
wurde lange Zeit als typische "Hochkultur" der Gelehrten gesehen, die
volkstümliche Religiosität dagegen unter der Rubrik des "Aberglaubens"
subsumiert. Gegen eine solche aufgeklärt-liberale Ansicht treten jüngere
Arbeiten zu Mystik und Messianismus vehement an. Die Forschung hat die
irrationalen Unterströmungen in der jüdischen Geschichte wiederentdeckt.
Mehrere Untersuchungen demonstrieren inzwischen, wie stark die gelehrte
Kultur magisch rituell durchsetzt war.
Antijüdische Stereotypen
Auch in der Kunst bildeten sich seit dem 12./13.
Jahrhundert Elemente einer als "typisch" aufgefaßten jüdischen
Physiognomie aus - verzerrte Züge, Hakennase, vergrößerte Augen und
wulstige Lippen. Das visuelle Stereotyp fand sich bald in schriftlichen
Aussagen. Als "Judenantlitz" oder "Langnase" bezeichnet zu werden, wurde
im Spätmittelalter für Christen zum Reizwort, das den Gang zum Gericht
oder körperlichen Angriff rechtfertigte.
Die explosive Mischung von Stereotypenbildung, sozialer Unruhe und
obrigkeitlicher Manipulation gipfelte schließlich in Pogromen mit der
Vertreibung oder Ermordung der Juden. Gegen Ausgang des Spätmittelalters
brauchte der Wunsch, sich der Juden zu entledigen, oft keine Begründung,
er gehörte zu den selbstverständlichen Amtszielen einer Obrigkeit und
wurde dementsprechend konsequent verwirklicht.
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