«Aufräumarbeit der Geschichte»
Am 23. Juli 1997 präsentierte eine
illustre Herrenrunde im Flughafen Kloten die erste Liste, die nach langen
Diskussionen über Datenschutz und Bankgeheimnis die Namen von ausländischen
Inhabern nachrichtenloser Konti auf Schweizer Bankinstituten enthielt. Sie
erschien in zahlreichen Zeitungen und Sprachen und war auf dem Internet
abrufbar. Fünf Anlaufstellen in Basel, Tel Aviv, New York, Sydney und Budapest
sollten Anmeldungen entgegennehmen. Auf der Liste standen 1872 Namen in
Verbindung mit 1756 Konti, inbegriffen Gemeinschaftskonti und Schrankfächer.
Die Überraschung: Sie waren 60,2 Millionen Franken wert, fast doppelt soviel
wie im Februar 1996 gemeldet. Auch die Anzahl der Konti hatte sich mehr als
verdoppelt.
VON GISELA BLAU
«Ich kann kein Feigenblatt finden, das
gross genug wäre, um die Versäumnisse meiner Kollegen nach dem Krieg
zuzudecken.» Dieses selbstkritische Geständnis äusserte Georg Krayer,
Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung, am 23. Juli anlässlich der
Präsentation der ersten Namenliste nachrichtenloser Bankguthaben. Anwesend
waren ausser ihm Paul A. Volcker, Präsident der Volcker-Kommission, Kurt
Hauri, Präsident der Eidgenössischen Bankenkommission, Lukas Beglinger, stv.
Leiter der Task Force, sowie Israel Singer, Generalsekretär des Jüdischen
Weltkongresses, und Avraham Burg, Chef der Jewish Agency und Mitglied der
Leitung des Holocaust-Fonds. Singer und Burg liessen die Gelegenheit nicht
vorübergehen, Breitseiten gegen die Schweiz abzufeuern, begleitet von
sentimentalen Bitten, die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz pfleglich zu
behandeln. Sie verstiegen sich sogar zum Ausruf, falls der neu aufgeflammte
Antisemitismus des Jahres 1997 der Preis für die Aufdeckung und Rückerstattung
jüdischer Guthaben sei, so solle die Schweiz das Geld behalten. Ein hehres
Angebot, das allerdings angesichts der gegenwärtigen hektischen
Gelddiskussionen in den USA, kombiniert mit konzertierten Aktionen wie den
Vorwürfen des New Yorker Finanzgewaltigen Alan Hevesi, Senator Alfonse
D'Amatos für den 22. Juli geplantem Hearing über das Washingtoner Abkommen von
1946 sowie Avraham Burgs absurder Forderung nach dem Rücktritt von
Task-Force-Chef Thomas Borer, nur eine rhetorische Floskel gewesen sein kann.
16 000 Forderungen
Doch was ist seit dem 23. Juli 1997 alles
geschehen? «Bis Ende Juni 1998 sind von Nichtschweizern knapp 16 000 Claims
eingegangen», sagt Silvia Matile, Sprecherin der Schweizerischen
Bankiervereinigung (SBVg). Im Oktober 1997 war eine zweite Namenliste
ausländischer Konti publiziert worden (zusammen mit einer riesigen Liste
nachrichtenloser Schweizer Guthaben). «Mehr als 9000 Claims beziehen sich
konkret auf einen publizierten Namen.» Die «Hitparade» der Herkunft dieser
Claims: USA, Deutschland, Israel und Frankreich. 8000 Claims wurden von der
Treuhandfirma Atag Ernst & Young bereits an die Banken übermittelt und sind
zum grossen Teil auch zurückgekommen, an die Ansprecher selber oder an das
Schiedsgericht. Die Verzinsung ist noch nicht einheitlich geregelt. «Bei den
Nichtschweizern gibt es viele Depots», sagt Silvia Matile. «Sie weisen den
aktuellen Wert aus, denn sie wurden immer verwaltet. Ein kleiner Teil betrifft
Konti oder Sparguthaben, die teilweise verzinst sind und teilweise nicht.»
Alle ausländischen Fälle, so Silvia Matile, gehen zur endgültigen Regelung an
das Internationale Schiedsgericht unter Vorsitz des Zürcher Professors Hans
Michael Riemer.
Unabhängiges Schiedsgericht
Das unabhängige Schiedsgericht verfügt in
Zürich über ein Sekretariat, mit dem zusammen die Volcker-Kommission seine
jüngste Medieninformation erarbeitete. Alexander Jolles, Partner in der
Zürcher Anwaltskanzlei Schellenberg und Haissly und mitverantwortlicher Jurist
für die Führung des Schiedsgerichts-Sekretariats, beschreibt für die JR die
Arbeit des Schiedsgerichts.
In einem ersten Schritt befasst sich das
Schiedsgericht mit der Frage, ob der Ansprecher Nachweise seiner Berechtigung
oder eine genügend glaubhafte Geschichte für das Fehlen solcher Nachweise
vorlegt, um ihm gegenüber das Bankgeheimnis zu lüften. Dieses Vorverfahren,
das sogenannte Initial Screening, kommt immer zum Zug, wenn die Bank der
Meinung ist, die Geschichte des Ansprechers sei nicht glaubhaft oder er könne
sich nicht als Nachkomme des Kontoinhabers ausweisen.
784 Entscheide
Bisher gab es 3558 solche Fälle, davon
wurden definitiv 784 entschieden. Die restlichen befinden sich in Bearbeitung.
Zu berücksichtigen sei, so Jolles, dass das Schiedsgericht erst seit Anfang
Jahr im Amt sei. Erst gingen die Anmeldungen zur Atag, dann zu den
Übersetzern, dann an die Banken und zurück zur Atag. Das Schiedsgericht
erhielt die ersten Fälle deshalb erst im Januar und Februar dieses Jahres.
Von den insgesamt 16 Schiedsrichtern sind
fünf Schweizer. Dazu kommen vier Israelis, der Rest sind Amerikaner, Kanadier,
Engländer und ein Zypriot. Das juristische Personal umfasst 25 Personen, die
meisten sind Ausländer, meist aus angelsächsischen Ländern, um die
Internationalität zu gewährleisten. Sechs Leute arbeiten administrativ. Eine
kleine Gruppe Juristen ist in Genf tätig, der grosse Rest in Zürich. In
Jolles' Kanzlei beschäftigen sich fünf Personen mit dem
Schiedsgerichtsverfahren. Finanziert wird die gesamte Arbeit des
Schiedsgerichts von der Schweizerischen Bankiervereinigung.
Grosser administrativer Aufwand
Das Sekretariat bereitet Fälle zur
Entscheidung vor, was ein grosser administrativer Aufwand sei, so Jolles: «Wir
korrespondieren mit Banken und Ansprechern, organisieren Verhandlungen,
entwerfen Verfügungen, Urteile und Entscheide - alles, was jedes
Gerichtssekretariat auch macht.» Alle Dossiers müssen so aufgearbeitet sein,
dass die Schiedsrichter vor Ort die Fälle effizient erledigen können.
Entschieden wird alles in Zürich. Intern erfolgt der Verkehr auf englisch,
gearbeitet wird in drei Sprachen, die Ansprüche dagegen können in allen
Sprachen der Welt eingereicht werden.
Bisher gab es keine persönlichen
Verhandlungen. Alles wird auf schriftlichem Weg abgewickelt, wobei bisher
ohnehin fast nur Vorprüfungsverfahren behandelt wurden. Die eigentlichen
Schiedsverfahren, bei denen es um das Geld geht, seien noch in einem frühen
Stadium.
Bei den Schiedsverfahren gibt es die
unproblematischen Fälle, die Fast track cases, beschleunigte Verfahren, bei
denen die Bank den Anspruch des Ansprechers anerkennt. Aus diesem Bereich
wurden bisher 295 Fälle zugeteilt, wobei 10 definitiv entschieden sind und 55
Fälle vor dem Abschluss stehen. Die übrigen sind in Bearbeitung.
Die zweite Verfahrensart ist schwieriger.
Hier handelt es sich um die regulären Schiedsverfahren, wenn die Bank
beispielsweise für ein und dasselbe Konto Claims von zehn verschiedenen
Ansprechern erhalten hat, die nicht alle eindeutig als Berechtigte anerkannt
oder ausgeschlossen werden können. Das Schiedsgericht muss die Berechtigung
definitiv entscheiden. 58 Fälle wurden bisherr zugeteilt. In einem ersten
Schritt ist zu untersuchen, ob Verfahren zusammengelegt werden müssen und zu
welchen zusätzlichen Eingaben die Parteien einzuladen sind. In 24 Fällen sind
solche Vorkehrungen eingeleitet worden. Die restlichen Fälle befinden sich in
Bearbeitung; entschieden ist noch keiner.
Schliesslich sind vor kurzem weitere ca.
1 200 Dossiers eingetroffen, die in den nächsten Tagen den verschiedenen
Verfahrensarten zugeteilt werden.
«Die Liste weckte oft unrealistisch hohe
Erwartungen», bedauert Jolles. «Und wir müssen sogar in positiv erledigten
Fällen einen Brief schreiben, in dem steht, das Konto enthalte nur ein paar
Franken.» 86 Prozent der Konti enthalten weniger als 100 Franken, nur drei
Prozent über 1000 Franken. Selbst dort bewegen sich die Beträge nur in
Einzelfällen in Millionenhöhe oder in der Kategorie Hunderttausender von
Franken. Und: die Mehrheit der nachrichtenlosen Konti von Ausländern hat
nichts mit jüdischen Opfern des Holocaust zu tun.
Ein Entwurf für die Richtlinie betreffend
die Verzinsung soll laut Pressemitteilung der Volcker-Kommission bereit sein.
Dort werde es wohl Korrekturen geben, aber allenfalls nur bei Konti, die
Holocaust-Bezug haben, sagt Jolles. Aus Sicht der Banken sei es nicht legitim,
dass bei purer Vergesslichkeit für zinslose Kontokorrente nachträglich Zinsen
gutgeschrieben würden. Das seien erstaunlich viele Fälle, beispielsweise gab
es Franzosen, die während des Kriegs zur Sicherheit ein Konto in der Schweiz
eröffneten und es dann vergassen. Ausserdem sei eine generelle Regelung für
die nachträgliche Rückrechnung von Zinsen und Gebühren extrem schwierig, weil
jede Bank bei nachrichtenlosen Guthaben eine andere Praxis pflegte.
Historisch relevante Arbeit
Historisch verrichten die Juristen
relevante Arbeit, sagt Jolles, juristisch bleibe sie im Rahmen des Üblichen,
weil sich vieles wiederhole. Einzelschicksale seien in vielen Fällen jedoch
interessant und menschlich bewegend. Alle beteiligten Personen bemühten sich
darum, dass Menschen 50 Jahre danach zu ihrem Geld kommen. Es gebe zwar Fälle
eindeutigen Missbrauchs, aber der Grossteil der Ansprüche sei in guten Treuen
erhoben worden, wenn auch bei geläufigen Namen oft Dutzende von Anmeldungen
für Verwandte mit gleichem Vor- und Nachnamen eingingen.
Auch bei vordergründig klaren
Verhältnissen sei es für das Schiedsgericht gefährlich, nicht zu waren, bis
alle immer wieder verlängerten Anmeldefristen verstrichen sind. Im Fall eines
einzigen Nachkommen sei buchstäblich in letzter Minute ein neuer Claim
eingegangen. Das zeige, wie heikel die Arbeit sei. Dennoch hat Jolles
Verständnis dafür, dass Leute, die schon vor einem Jahr Ansprüche geltend
machten, frustriert sind, weil später eingereichte Ansprüche von weiteren
Personen auf dasselbe Konto die Erledigung verzögern.
«Angesichts dieser ganzen
Auseinandersetzung ist es schön, dass wir mit unserer Aufräumarbeit der
Geschichte in einzelnen Fällen etwas Gutes tun können», sagt Alexander Jolles.
Er ist nicht der erste seiner Familie, der eine Arbeit hinter den Kulissen der
Weltgeschichte verrichtet: Vater Paul Jolles, blutjunger Botschaftsattaché in
Washington, nahm 1946 als jüngstes Schweizer Delegationsmitglied an den
Verhandlungen über das Washingtoner Abkommen teil.