http://www.swisstxt.ch/ vom 09.07.97
DIE JUDEN IN DER SCHWEIZ
Von Martin Michel Mäder
Antisemitismus erhält neuen Auftrieb
Die Schweiz befindet sich mitten in der Debatte um
nachrichtenlose Vermögen von Holocaust-Opfern und um die Rolle im
Zweiten Weltkrieg. Im Zusammenhang mit Themen wie Fonds für
Holocaust-Opfer oder Eizenstat-Bericht ist etwas zu Tage getreten, was
als besiegt betrachtet worden war: Antisemitismus. Jüdische Exponenten
wie auch die Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR haben im Zusammenhang
mit der historischen Aufbereitung eine massive Zunahme antisemitischer
Vorfälle festgestellt. Zwar wurde im September 1994 das
Anti-Rassismus-Gesetz an der Urne angenommen, doch pendelt sich die
Wirkung der Strafnorm nur zaghaft ein.
Jüdische Klagen haben negative Folgen
Die Schweiz steht wegen Klagen auf Rückerstattung
jüdischen Eigentums auf Schweizer Banken im Rampenlicht. Laut Rolf
Bloch,Präsident des Schweiz.Israeelitischen Gemeindebundes, fühlen sich
viele Schweizer an den Pranger gestellt "Dies hat zu einer neuen Welle
von Antisemitismus und einer Entfremdung von der jüdischen Bevölkerung
geführt", sagt Bloch, der auch den Fonds für Holocaust-Opfer präsidiert.
Sigi Feigel, der Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich
ICZ, erhielt im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte allein rund 175
Briefe ohne Absender mit "hässlich antisemitischem Inhalt".
Noch keine tätlichen Übergriffe
Obschon für Rolf Bloch Antisemitismus vermehrt
offen aufkeimt, sei es noch zu keinen tätlichen Übergriffen auf die
jüdische Bevölkerung gekommen. Das führt SIG-Generalsekretär Martin
Rosenfeld darauf zurück, dass die ablehnende Haltung gegenüber Juden,
insbesondere von verunsicherten Einzelpersonen der Kriegsgeneration,
ausgeht. Die Lage sei aber derart fortgeschritten, dass nun
"Minderheitenschutz zur Aufgabe der Mehrheit" werden müsse. Besorgt ist
auch Michele Galizia von der Rassismuskommission. Die Opfer würden nun
zu Tätern gemacht. Die Kommission werde im Herbst dem Bundesrat einen
entsprechenden Bericht vorlegen.
Bundesrat zeigt sich "erschüttert"
Der Bundesrat hatte im März 1997 mitgeteilt, er
wolle antisemitischen Tendenzen entschieden entgegentreten. Man sei über
die Vehemenz gewisser Äusserungen gegen Juden im In- und Ausland
"erschüttert". Auch israelische Forscher der Universität von Tel Aviv
kommen in einer Studie zum Schluss, dass eine lange Zeit schlafende
Judenfeindlichkeit insbesondere in der Schweiz wieder erwacht sei. Nebst
Hunderten von Briefen an jüdische Würdenträger und vielen Leserbriefen
antisemitischen Inhalts werde die Hasspropaganda vermehrt über das
Internet verbreitet. Weltweit habe man aber weniger gewalttätige
Übergriffe notiert.
Zunahme von Antisemitismus trotz Gesetz
Seit Anfang 1995 gilt in der Schweiz die
Antirassismus-Strafnorm. Sie stellt öffentliche Diskriminierung wegen
ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit sowie die Holocaust-Lüge unter
Strafe. Antisemitismus hat aber trotz der Strafnorm offensichtlich
zugenommen. Zwar gibt es bereits einige Urteile, z.B. im Zusammenhang
mit dem Buch "Geheimgesellschaften" von Jan Udo Holey alias Jan van
Helsing oder auch gegen das Umfeld der Universalen Kirche.
ICZ-Ehrenpräsident Feigel stellt dennoch fest, dass die
Gesetzes-Anwendung "nur harzig" geschieht.Dies schreibt er den
Untersuchungsbehörden zu, bei denen ein "gewisser Widerwille" zu Tage
trete
Was heisst Antisemitismus?
Nach Duden ist ein Antisemit ein "Feind der
Juden". Die Judenfeindschaft unterscheidet sich zwischen einer
vorchristlichen und einer christlichen Form. Die vorchristliche Form der
Antike warf den Juden rebellischen Geist sowie einen Hass auf das
Menschengeschlecht vor. Die religiös motivierte christliche Feindschaft
macht Juden den Vorwurf, an der Tötung Jesu Schuld zu sein. Der heutige
Antisemitismus ist relativ jung. Er wurzelt in den Rassentheorien des
19. Jahrhunderts. Diese unterscheiden zwischen höheren und niedrigeren
Menschenrassen. Daraus wurde eine Minderwertigkeit der Juden abgeleitet,
die auch von den Nazis vertreten wurde.
Unrecht mit "Gottesmord" gerechtfertigt
Die ersten Juden gelangten vermutlich mit den
Römern in das Gebiet der heutigen Schweiz. Sie waren schon bald dem
Dogma ausgesetzt, wonach das jüdische Volk Jesus nicht als Messias
anerkannt und seine Kreuzigung veranlasst hat. Alles Unrecht, das den
Juden fortan widerfuhr, wurde mit diesem Vorwurf des "Gottesmordes"
gerechtfertigt. So wurde unter anderem festgelegt, dass Juden nicht mit
Christen verkehren dürfen und dass sie keine öffentliche Ämter und Ehren
erhalten können. Aufgrund ihrer Religion wurden sie aus der allgemeinen
Gesellschaft ausgesondert. Juden unterlagen separaten Gesetzen sowie
Abgaben und Steuern.
Zahlreiche Beschlüsse gegen die Juden
Mit den Konzilien von Lateran - bis 1308 Residenz
der Päpste in Rom - von 1179 und 1215, wurde den Juden vorgeschrieben,
sich an der Kleidung zu kennzeichnen. Zudem wurde ihnen untersagt, sich
an christlichen Feiertagen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Bedeutsam
für das weitere Dasein der jüdischen Bevölkerung war besonders der
Beschluss, der Christen untersagte, unter sich für Kredite Zinsen zu
nehmen. Da die Wirtschaft speziell im Zeitalter der Städtegründungen auf
Kredite angewiesen war, wurden die Juden in die Rolle des Geldverleihers
gedrängt. Eine Tätigkeit, die ihr Bild bis in die Neuzeit prägte.
Immer mehr gewalttätige Übergriffe
Juden sahen sich aber nicht nur mit den
verschiedensten Verboten und Einschränkungen konfrontiert, sondern sie
wurden auch verfolgt und tätlich angegriffen. So wurde in Bern 1294
unter dem Vorwurf, Juden hätten einen Knaben ermordet, ein Teil der
jüdischen Bevölkerung gerädert und der überlebende Rest aus der Stadt
vertrieben. In der Zeit als die Pest in der Schweiz wütete, nahm die
Gewalt gegenüber den Juden noch zu. Mit der Anklage, Brunnen vergiftet
und so die Pest verbreitet zu haben, wurden vielerorts Juden auf dem
Scheiterhaufen verbrannt. Dies geschah unter anderen in Bern, Solothurn,
Basel und Zürich.
Den Verfolgungen folgte die Ausweisung
Nachdem im 15. Jahrhundert das Zinsverbot für
Christen gelockert wurde, übernahmen diese von den Juden das
Kreditgeschäft. Die jüdische Bevölkerung, welche die Verfolgungen in der
Zeit der Pest überlebt hatte, wurde deshalb des Landes verwiesen. Nach
der Ausweisung der Juden blieb die Schweiz bis ins 19. Jahrhundert fast
ganz ohne jüdische Bewohner. Einzig in den aargauischen Dörfern Endingen
und Lengnau war es Juden gestattet, dort Wohnsitz zu nehmen. Ende des
18. Jahrhunderts lebte mit 553 Personen in diesen beiden Dörfern fast
die gesamte jüdische Bevölkerung der Schweiz.
Bis zur Franz. Revolution diskriminiert
Die Juden in der Schweiz wurden bis Anfang des 19.
Jahrhunderts auch rechtlich massiv benachteiligt. So hatten sie an
Zollstellen erhöhte Zölle zu bezahlen und mussten für ihre Person einen
Leibzoll entrichten. Weitere Diskriminierungen waren unter anderem das
Verbot, ein Handwerk auszuüben oder Boden zu besitzen. In unzähligen
Ausschaffungs- und Wegweisungsbefehlen der damaligen Zeit, wurden Juden
als "gottloser Schwarm" oder gar als "Pestilenz" bezeichnet. Eine fast
epochale Wende erfuhr ihre Existenz mit der Französischen Revolution im
Jahre 1789,welche die "Erklärung der Menschenrechte" hervorbrachte.
Mit der Helvetik kam die Wende
Der Franzosen-Einmarsch 1798 bedeutete nicht nur
das Ende der Alten Eidgenossenschaft, sondern für die Juden erste
Schritte in Richtung Emanzipation. "Die Menschen sind von Geburt frei
und gleich an Rechten", war ein Grundsatz, den die Franzosen mitgebracht
hatten. In der Helvetik wurden der jüdischen Bevölkerung die
aufgebürdeten Sonderabgaben dann schrittweise gestrichen. Ein
Widerspruch zu dieser Entwicklung bedeutete aber die Bundesverfassung
von 1848. Darin wurden Juden dahingehend diskriminiert, dass
Niederlassungs- und Kultusfreiheit sowie Gleichheit im Gerichtsverfahren
nur für christliche Schweizer galt.
Emanzipation mit der Verfassungsreform
Es brauchte internationalen Druck, bis die Juden
in der Bundesverfassung emanzipiert wurden. Insbesondere Frankreich und
die USA machten zum Beispiel Handelsverträge davon abhängig, dass
zumindest ihre Juden sich in der Schweiz frei niederlassen konnten. Erst
die Revision der Bundesverfassung 1874 brachte den Juden in der Schweiz
die volle Gleichberechtigung. Das noch vorhandene antijüdische Klima
zeigte 1893 die Volksinitiative für ein Schächtverbot. Der jüdische
Brauch, für koscheres Fleisch ein Tier durch Halsader- und
Luftröhrenschnitt ausbluten zu lassen, war nach Annahme der ersten
Initiative überhaupt fortan untersagt.
Teuerung wurde den Juden angelastet
Auch im angebrochenen 20. Jahrhundert herrschte
eine antijüdische Stimmung. Ein markantes Beispiel dafür war, dass im
Ersten Weltkrieg "die Juden" für die massive Lebensmittelteuerung
verantwortlich gemacht wurden. Dies wurde damit begründet, dass sie z.B.
in Basel einen vergleichsweise hohen Anteil des Konsumhandels
kontrollierten. Einen Schritt weiter in Richtung antijüdischer Haltung
ging man schliesslich nach dem Ersten Weltkrieg. In der
Flüchtlingspolitik der damaligen Schweiz wurde die Abwehr des Juden,
insbesondere solcher aus Osteuropa, zum Leitmotiv. So wurde bei
Einbürgerungen eine besondere Zurückhaltung geübt.
Politik der Abweisung mit "J"-Stempel
Die Schweiz war nicht zuletzt wegen der
humanitären Tradition für deutsche und österreichische Juden wichtiges
Fluchtziel vor den Nazis. Jedoch erlaubte die Praxis der Schweizer
Regierung vielen nur einen Zwischenhalt auf ihrer Flucht Ihre Situation
wurde aber verschärft, nachdem die Schweiz mit Nazi-Deutschland ein
Abkommen, zur Kontrolle deutscher Juden geschlossen hatte. Auf
Veranlassung der Schweiz markierte Nazi-Deutschland ab 1939 die Pässe
deutscher Juden mit einem "J"-Stempel. Die genaue Zahl abgewiesener
Flüchtlinge ist nicht mehr zu eruieren. Belegt ist nur, dass es
mindestens 30'000 Menschen gewesen sein müssen.
Immer weniger Juden in der Schweiz
Obschon es Juden während Jahrhunderten fast
gänzlich untersagt war,sich in der Schweiz anzusiedeln,wird ihre Zahl
heute regelmässig überschätzt. Bei einer Umfrage von "Facts" schätzten
fast 20 % der Befragten die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf 80'000
bis 200'000. Tatsächlich wurden bei der Volkszählung 1990 17'577
Menschen israelitischen Glaubens gezählt. Z.B. hatten 152'217 Personen
angegeben,Mohammedaner zu sein. Die Anzahl Juden in der Schweiz hatte
1980 noch 18'330 Personen betragen. Mit 20'979 und einem
Bevölkerungsanteil von 0,5 % lebten 1920 am meisten Juden in der
Schweiz. 1990 betrug ihr Anteil an der Bevölkerung lediglich 0,25 %.
Am meisten Juden leben in den Städten
Über ein Drittel der Juden lebt im Kanton Zürich.
Fast gleichviele Menschen jüdischen Glaubens weisen die Kantone Waadt
und Genf gemeinsam auf. Da in Basel und Bern zusammen ebenso gut 14 %
der Juden leben, konzentriert sich die jüdische Bevölkerung auf die
Städte. Orthodoxe jüdische Gemeinden, zum Beispiel unter dem Namen
Agudas Achim von strenggläubigen Ostjuden, kommen denn auch meistens in
Städten wie Zürich vor Die politische Organisation der Juden ist der
Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG mit Rolf Bloch als
Präsident. Der SIG war 1904 gegründet worden, um das heute im
Tierschutzgesetz verankerte Schächtverbot zu bekämpfen.
Aus der Geschichte die Lehren ziehen
Als Bundespräsident Arnold Koller am 5. März 1997
die Solidaritätsstiftung ankündigte, sagte er, man solle "zueinander
Brücken der Versöhnung bauen". Zudem gelte es gegen jeden Anfang von
Intoleranz und Rassismus wachsam zu sein. Er knüpfte damit an die Rede
vom 8. Mai 1995 des damaligen Präsidenten Kaspar Villiger an,der sich
dafür entschuldigt hatte, dass die Schweiz auf die Einführung des
"J"-Stempel gedrängt hatte. Zuletzt waren vermehrt auch von der Kirche
Entschuldigungen für deren Rolle in den Kriegsjahren zu vernehmen.Es ist
nun zu hoffen, dass sich niemals mehr jemand für ein solch dunkles
Kapitel der Menschheit entschuldigen muss.
Quelle: SwissText vom 9.Juli '97
http://www.swisstxt.ch/d-juden.html
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