Warum orthodoxe Juden sich im Gebet zu schaukeln pflegen: 
        Im Takt der 
	  Seele hin und herWarum Juden beim Beten 
	  den Körper schaukeln; Historisches und Grundsätzliches über das sogenannte 
	  - Schockeln.
        
         
		 VON 
		ELIEZER SEGAL 
		Nichtjuden, die Gelegenheit hatten, einem Gottesdienst in einer Synagoge 
	  beizuwohnen, stellen hinterher meist eine Frage, die auch viele Juden 
	  nicht beantworten können: "Warum schaukelt Ihr beim Beten den Körper?" 
	  Diese Gewohnheit, jiddisch "Schockeln", genannt, liebevoll-ironisch auch 
	  als "jüdisches Aerobic" apostrophiert, erklären manche mit praktischen 
	  Gründen: Das lange Stehen im Gottesdienst ermüde die Füsse, das Schockeln 
	  sorge für Durchblutung. Eine andere Erklärung ist, dass durch das 
	  Schaukeln die Umgebung optisch verschwimmt, der Betende so sich besser 
	  konzentrieren kann, ohne durch Äußerlichkeiten abgelenkt zu werden. 
	  Recht befriedigend sind diese Erklärungen nicht. Ein Blick in alte Bücher 
	  hilft vielleicht, bessere Gründe für das Schockeln zu finden. Denn die 
	  Praxis ist uralt. Schon im elften Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde 
	  im arabischen Spanien, dem historischen Sefarad, das Schaukeln als 
	  typisches Kennzeichen des jüdischen Gottesdienstes vermerkt. Auch in einem 
	  der theologischen Klassiker dieser Zeit, Rabbi Judah Halevis "Kuzari", 
	  wird die Frage angesprochen. "Kuzari" ist ein erfundener Dialog zwischen 
	  einem Rabbiner und dem König der Chasaren, einem mongolischen Stamm, der 
	  im achten Jahrhundert zum Judentum übertrat. Das Buch listet die Argumente 
	  auf, die den Chasarenkönig damals bewogen haben sollen, den neuen Glauben 
	  anzunehmen. Neben vielen tiefschürfenden Problemen 
	  von Tora, Talmud und jüdischer Geschichte stellt der König an einer Stelle 
	  auch die Frage, warum die Juden, wenn sie die Bibel lesen, vor und zurück 
	  schaukeln? Der Rabbi gibt zunächst eine quasi medizinische Antwort: "Es 
	  wird gesagt, dass man es tut, um den Körper zu erhitzen." Er fügt dann 
	  aber eine eigene Theorie an: Ursprünglich habe es nicht genügend heilige 
	  Texte für die gesamte Gemeinde gegeben, so dass zehn und mehr Personen 
	  sich einen einzigen Text teilen mussten. Jeder musste sich deshalb kurz 
	  zum Lesen niederbeugen und sich dann schnell wieder erheben, um auch die 
	  anderen hineinschauen zu lassen. "Dies führte zu einem ständigen 
	  Sich-Niederbeugen und Wieder-Aufrichten ... Daraus wurde durch ständiges 
	  Beobachten und Imitieren eine Gewohnheit ... " Das klingt plausibel, 
	  wenngleich ein wenig prosaisch.  
         Wesentlich herzensanrührender ist da, was der "Sohar" 
		zum Thema schreibt. Der "Sohar" ist ein Klassiker des jüdischen 
		Mystizismus, verfasst im Spanien des dreizehnten Jahrhunderts. Der Held 
		des Buches, Rabbi Simeon Ben Yokai, wird an einer Stelle des Werkes von 
		seinen Schülern gefragt, warum nur die Juden beim Beten den Körper 
		schaukeln. Rabbi Simeon erklärt, die Seele eines jeden Juden gründe in 
		der heiligen Tora. Höre die Seele auch nur ein Wort der Schrift, werde 
		sie entflammt, wie der Docht einer Lampe; das Schaukeln des Körpers sei 
		Ausdruck des flammengleichen Rhythmus der Seele.
        
         Zur selben Zeit, da der Sohar geschrieben wurde, 
		verfasste, ebenfalls in Spanien, Rabbi Jacob ben Ascher, genannt der 
		Baal HaTurim, einen Kommentar, der sieh unter anderem mit dem Schaukeln 
		befasst. Er leitet die Sitte direkt aus der Tora ab, und zwar aus Exodus 
		19,16, wo es heisst: "Und es erbebte alles Volk." Das Schaukeln beim 
		Gottesdienst geschehe in Erinnerung an dieses Beben. Soweit die 
		bekannten Erklärungen für das Schockeln.  
         Mit dem Aufkommen der Reformbewegung im Deutschland 
		des neunzehnten Jahrhunderts geriet die Sitte allerdings in Verruf. Das 
		Hin- und Herschaukeln galt als nicht schicklich, zu östlich, zu wenig 
		zivilisiert. Es passte auch nicht so recht zum beginnenden Geist der 
		Assimilation an die nichtjüdische Umwelt. So schrieb Eliezer Liebermann 
		aus Dessau 1818: "Warum sollten wir nicht von den Menschen, unter denen 
		wir leben, lernen? Schauen wir uns die Nichtjuden an, wie sie 
		wohlgesittet und in Ehrfurcht in ihren Gotteshäusern stehen. Keiner 
		spricht ein Wort, keiner rührt sich ... " (Liebermanns Begeisterung für 
		den "ordentlichen" Gottesdienst der Christen kulminierte später in 
		seinem Übertritt zum Katholizismus.)
        
         Das Schockeln wurde derweil aus den Synagogen der 
		"modernen" Richtungen des Judentums verbannt. Gleichzeitig änderte sich 
		dort auch der Charakter des Gottesdienstes. Professionelle Kantoren 
		traten an die Stelle der Laienvorbeter, stehen der Gemeinde gegenüber, 
		statt, wie früher, beim Beten gemeinsam in dieselbe Richtung sich zu 
		wenden. Diese und andere Änderungen führten zu einem Phänomen, das 
		eigentlich dem Judentum fremd sein sollte: Die Gemeinde wird in eine 
		Publikumsrolle gedrängt, schaut nur noch zu, wie andere für sie den 
		Gottesdienst "führen". Diese Entwicklung zeigt, wenn auch ungewollt, 
		worin vielleicht der eigentliche Sinn des Schockelns liegen könnte: 
		Statt nur passiv Objekt der Religion zu sein, drückt der Betende mit 
		seinem Hin- und Herschaukeln ein Stück aktive Subjektivität der 
		Zwiesprache mit Gott aus. Gibt es etwas, das besser das Wesen des 
		Judentums repräsentieren könnte? Quelle: 
	  Israelitisches Wochenblatt Nr. 13 - 27. März 1998 
		 
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