Bedingt durch die
Emanzipation im Gefolge der Haskala wurde dieses Prinzip mehr und mehr auf
weltliche Inhalte übertragen, die sich wesentlich an den Berufszielen des
städtischen Bürgertums des 19. und 20. Jhds. orientierten. Ein Blick in die
jüdisch-deutsche Sozialgeschichte zeigt folgendes Bild:
Zunehmend legten jüdische
Familien Wert auf "höhere Bildung". Selbst Juden auf dem Land taten alles, um
vor allem ihren Söhnen das Lernen an weiterbildenden Schulen und Universitäten
zu ermöglichen. 1906 machten z.B. die jüdischen Schüler bereits ein Viertel der
Schülerschaft an den humanistischen Gymnasien Berlins aus und 1914 waren in ganz
Preußen die jüdischen Schüler etwa sechs mal so stark an höheren Lehranstalten
vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach.
In gleichem Maße wie das
säkuläre Lernen an Bedeutung gewann, erlebte das jüdische Leben in Deutschland
bis zu den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts einen wirtschaftlichen und
kulturellen Aufschwung. Akkulturation und Assimilation schritten nicht nur
weiter fort, sondern begünstigten auch die Liberalisierung und Aufweichung der
jüdischen Tradtition.
Die Hochschätzung des
Lernens läßt sich nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit, sondern auch bis in
die Gegenwart und zwar auf internationaler Ebene feststellen: Exemplarisch sind
hier die USA zu nennen, in denen heute der größte Teil des Judentums lebt. Im
Vordergrund steht die Auffassung, daß die amerikanischen Juden den
landestypischen "way of life" neben den WASP (white Anglo-Saxon protestant) am
besten repräsentieren. Genauer: Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit vertraten die
Juden und die weißen Protestanten die individualistische, wettbewerbsbetonte
Denk- und Handlungsweise der Mittelklasse.
Die jüdisch-säkulare
Erziehung richtete sich nicht gegen Religion und Tradition, allerdings hat sie
anstelle des religiös Gebildeten den Träger akademischer Berufe idealisiert: Der
arme Talmudstudent - in der Tradition der ideale Schwiegersohn für einen
wohlhabenden Geschäftsmann - wurde allmählich von dem jungen Arzt oder dem
Anwalt verdrängt.
Ähnlich wie in den USA
gelten bis in die Gegenwart weltweit "law and learning" als Zentralbegriffe des
jüdischen Selbstverständnisses. Daraus resultiert wiederum eine "skeptische
Denktradition", die ausgehend von Tora und Derech erez (etwa: Landessitte) die
hohe Wertschätzung des Lernens begünstigt.
Die Zielvorstellung der
jüdischen Tradtion, alle männlichen Juden zu Gesetzesgelehrten zu machen, hat
sich, obwohl nie voll erreicht, als "kulturgeschichtlich ungemein fruchtbar"
erwiesen und verdeutlicht gleichwohl die beispielslose Hochschätzung des Lernens
und des Wissens. Jüdisches Selbstverständnis und somit die jüdische Existenzform
war von je her im wesentlichen von der Bereitschaft und der Fähigkeit zu lernen
abhängig.
Eingebunden in das Netz
sozialer Beziehungen der Tradition - in der Familie und in den religiösen
Lernstätten gaben diese dem Lernenden, zugleich dauerhaft und verläßlich, das
Gefühl der Zugehörigkeit und der Teilhabe.
Eine Arbeit von Dr.
Barbara Breidenbach
Lernen als Existenzform
Onlineversion 2000
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