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Jüdische Weisheit
 
 

Avi Primor
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn

IX.Teil

Die Wunde und die Narbe

Ich bin weiterhin auf meinem Posten, nach wie vor bemüht, meine Mission im Dienst der deutsch-israelischen Beziehungen zu erfüllen. Die Frage, ob diese Beziehungen mittlerweile »normal« seien, wird nicht nur deutschen Politikern gestellt und mit ziemlicher Regelmäßigkeit in den Medien erörtert, auch ich sehe mich immer wieder mit ihr konfrontiert, aus unterschiedlichsten Anlässen. Doch was heißt im Zusammenhang mit internationalen Beziehungen schon »normal«? Die Art, in der zwei Staaten im Rahmen der diplomatischen Beziehungen, die sie zueinander unterhalten, Kontakte pflegen und sie, etwa auf wirtschaftlichem oder kulturellem Gebiet, erweitern, ist jedesmal eine andere. Beziehungen zwischen Ländern sind ohnehin in ständigem Wandel begriffen, unterscheiden sich so deutlich voneinander, daß sich kaum zwei identische Beispiele finden lassen. Was nun Israel und Deutschland betrifft, so sind auf israelischer Seite, um dieses anschauliche, wenngleich nicht unumstrittene Bild zu gebrauchen, die alten Wunden längst verheilt, die zurückgebliebenen Narben aber immer noch empfindlich.

Als ich mich in einem solchen Sinne 1995 vor der deutschen Öffentlichkeit äußerte, hatte das gewisse Folgen in Israel. Dov Shilanski, vormaliger Präsident der Knesset, erklärte ebenso öffentlich, er habe das Auswärtige Amt in Jerusalem aufgefordert, mich unverzüglich von meinem Botschafteramt abzulösen und nach Israel zurückzurufen. Sein Ersuchen begründete er mit dem Hinweis, ich hätte in den deutschen Medien die Auffassung vertreten, die deutsch-israelischen Beziehungen basierten jetzt nicht mehr auf einer offenen Wunde. Dov Shilanski ist ein Überlebender des Holocaust, vermutlich steht er mit seiner Meinung nicht allein.

Doch ob Wunde oder Narbe und wie immer man den Heilungsprozeß einschätzen und prognostizieren mag, Ungeschicklichkeiten genügen, um in Israel unliebsame Erinnerungen zu wecken. Im schlimmsten Fall können sie eine Krise wie jene heraufbeschwören, die am Rande des Golfkriegs ausbrach – in diesem emotionalen Maß undenkbar in den Beziehungen zu einem anderen Land. Um so bewußter betrachte ich meine Mission in Deutschland noch immer als Herausforderung, auch und ganz besonders für die Zukunft. Das künftige Verhältnis zwischen beiden Ländern wird wie bisher zu einem großen Teil von der Stärke und Aufrichtigkeit der gemeinsamen Verantwortung in bezug auf die Vergangenheit abhängen.

»Gibt es noch Grenzen im Umgang miteinander?« Als Richard von Weizsäcker diese Frage 1995 in einem ZDF-Interview beantwortete, wies auch er auf die, wie er sagte, »Empfindsamkeit« der deutsch-israelischen Beziehungen hin. »Wie könnte es auch anders sein«, fügte er hinzu, um dann auf die obligatorische Frage zur Normalisierung der Beziehungen einzugehen. Er finde den Begriff der Normalität auf das Verhältnis beider Länder nicht so ganz leicht anwendbar, »aber die besonderen Kennzeichen liegen ... einerseits in der großen Intensität und auf dem faktischen Umfang nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern darüber hinaus in der großen Zahl von Menschen, die mit persönlichem Engagement an diesen Beziehungen beteiligt sind. Das ist etwas, was ich kaum in den Beziehungen Deutschlands zu irgendeinem anderen Land kenne.«

Der Friedensprozeß, in dem sich Israel heute – nach fast fünfzigjährigem Kriegszustand – befindet, ist überaus kompliziert, der Weg zum Frieden noch immer lang und dornenreich. Krisen und Unterbrechungen werden ihn wohl auch weiterhin markieren, sollten aber nicht den Blick in die Zukunft verstellen. Die Tatsache, daß alle Völker im Nahen Osten nach Jahrzehnten bereit sind, miteinander zu reden, um Frieden zu schließen und auf gemeinsamen Interessensgrundlagen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden, bezeichnet einen allgemeinen Wandel in der Mentalität dieser Völker. Der einmal beschrittene Weg ist dadurch unumkehrbar geworden.

Um einen möglichst dauerhaften Frieden zu erzielen, werden parallel zweierlei Verhandlungen geführt: bilaterale zwischen Israelis und Palästinensern sowie multilaterale, an denen fast alle Kontrahenten teilnehmen. Ein Friedensabkommen, so schwierig es zu erreichen sein wird, kann zunächst nur ein Ansatzpunkt sein, auf- und ausbaufähig, um in der Realität des Alltags der Völker dieser Region eine Wende herbeizuführen: direkte Kontakte zwischen den Menschen, diplomatische Beziehungen, offene Grenzen, Handelsverkehr, Tourismus und, vor allem, gemeinsame wirtschaftliche Bemühungen auf der Grundlage überregionaler Entwicklungspläne. An den multilateralen Verhandlungen, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen, nehmen außer Israel, den Palästinensern und den übrigen nahöstlichen Staaten auch Japan, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten teil. Während es von Anfang an nicht an allgemeinem Verständnis für die Notwendigkeit übergreifender Projekte fehlt, die in der Zukunft verwirklicht werden müssen, sind die dafür erforderlichen riesigen Investitionen noch nicht gewährleistet.

Trotzdem wächst die Überzeugung, daß ein friedlicher Naher Osten, der sich auch wirtschaftlich auf einer gemeinsamen Ebene entwickelt, gute Chancen hat, allmählich zu einem blühenden Teil der Welt heranzuwachsen. Wer heute in rentable überregionale Entwicklungspläne investiert, sichert sich für morgen im Rahmen einer allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenarbeit Handelspartner und Kunden. Meine Beiträge zur deutsch-israelischen beziehungsweise europäisch-israelischen Kooperation betrachte ich als wichtigen und würdigen Teil meiner Tätigkeit. Immerhin geht es darum, der deutschen und europäischen Wirtschaft eine Hauptrolle im Nahen Osten zu sichern und somit auch politische Einflußmöglichkeiten in einer Region, die an der Schwelle des Kontinents liegt.

Eine weitere Frage zur Zukunft der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel ist noch stärker mit der Europäischen Union verbunden. Sie geht von einem erfolgreichen Abschluß des Friedensprozesses im Nahen Osten aus und von der Vorstellung, wie sich der Alltag der Israelis dann gestalten und welche praktischen Auswirkungen der Frieden auf die Zukunft des Landes haben wird. Natürlich wird Israel alles tun, um mit den Nachbarstaaten vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, gerade auf wirtschaftlichem Gebiet. Dennoch wird Israel kein volles Mitglied der nahöstlichen Völkergemeinschaft sein, die durch eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur, überwiegend auch durch eine gemeinsame Religion verbunden ist. Israel wird daran nicht teilhaben können, will es aber auch nicht. Wir wollen unsere Identität nicht verlieren, unsere eigenen Traditionen, unsere Kultur, Religion und Sprache bewahren. Die Lage der eingekreisten, belagerten Enklave, die Israel heute darstellt, wird sich nach dem Friedensschluß zwar durch zahlreiche Brücken zu unseren Nachbarn ändern, wird dann aber auch der Fortbestand unserer Identität gewährleistet sein?

Auf sich gestellt und aus eigener Kraft dürfte es Israel kaum gelingen, seine Zukunftsaufgaben zu meistern. Um mit den rasch fortschreitenden internationalen Entwicklungen auf wirtschaftlichem, technologischem und wissenschaftlichem Gebiet Schritt halten zu können und diese Entwicklungen vielleicht auch durch eigene Leistungen zu beeinflussen, wird Israel sich Partner suchen und sich ihnen anschließen müssen. Selbst zehnmal größere Länder in Europa haben, um in der hochtechnisierten Gesellschaft von heute mit ihrer Wirtschaft und Forschung international wettbewerbsfähig zu bleiben, die Notwendigkeit solcher Zusammenschlüsse erkannt und für sich die Konsequenzen gezogen – das Ergebnis ist die im Entstehen begriffene europäische Vereinigung.

Japan, eine führende Wirtschaftsmacht, scheidet als ständiger Partner für Israel aus, ebenso die Vereinigten Staaten. Die USA sind zwar verläßliche Freunde und Verbündete, die tatkräftigsten Förderer Israels auf jedem Gebiet, wirtschaftlich jedoch sind sie eher an Südamerika, an Südostasien und danach erst an Europa interessiert. Die Chance für Israel, sich dauerhaft mit wirtschaftlich starken Partnern zu verbinden, dürfte deshalb allein in Europa liegen.

Um dieses Ziel zu erreichen, darf Israel, wie die Bundesregierung zugesichert hat, vor allem mit deutscher Hilfe rechnen. Dem Einsatz der Bundesregierung ist es zu danken, daß die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union Ende 1994 in Essen unter deutscher Präsidentschaft einen Beschluß faßten, der Israel innerhalb der EU einen Privilegiertenstatus einräumt. Damit ist zwar erst der Ansatz eines Weges vorgezeichnet, der noch genauer definiert, der verlängert und auf seine Tragfähigkeit hin geprüft werden muß, mit dem Anfang aber sind Zeichen gesetzt, die zu Hoffnungen Anlaß geben.

Er läßt sogar Visionen für die kommenden Jahrzehnte zu. Erfüllen sie sich, dann wird Israel wirklich und fast wie selbstverständlich mit Deutschland verbunden und zugleich in Europa verankert sein – ein Pfeiler zu einem Brückenschlag zwischen diesem Kontinent und den Ländern des Nahen Ostens.

Inhaltsverzeichnis

Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin

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