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Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

Avi Primor
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn

VII.Teil

Wer Wind sät

Schon kurz nach meiner Ankunft in Deutschland habe ich verstanden, daß die Vergangenheit mich erheblich mehr beschäftigen wird, als ich es mir ursprünglich vorgestellt habe.

Ich habe Filme gesehen, Unterlagen studiert, Zeugen gehört und alles mögliche über den Holocaust gelesen. Und doch übersteigt die Realität, die mich erwartet, in den allermeisten Fällen mein Fassungsvermögen. Sie drängt sämtliche Bilder und Berichte von Nazi-Greueln zurück, die sich mir bisher einprägten. Wenn es tatsächlich eine Hölle gibt, dann tut sich ihre monströse Tiefe in Begebenheiten auf, mit denen ich direkt, doch ohne es eigentlich zu wollen, immer wieder in Berührung komme.

Anfang 1995 erreichte mich eine seltsame Einladung. Der Absender, Günther Schwarberg, war mir unbekannt. Er schickte mir Unterlagen und bat mich zur Teilnahme an einer Straßentaufe: Jede der zwanzig Straßen in einem Hamburger Neubauviertel sollte nach einem ermordeten Kind benannt werden. Die Papiere erklärten den Hintergrund jenes furchtbaren Ereignisses um die »Kinder vom Bullenhuser Damm«. Es handelte sich um verschleppte jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren, zwanzig an der Zahl. Ein SS-Arzt benutzte sie als lebende medizinische Versuchsobjekte, indem er ihnen aktive Tuberkelbazillen injizierte. Kurz vor Kriegsende, am Geburtstag des »Führers«, wurden alle Kinder erhängt. Da ihre Körper zu klein und zu ausgezehrt waren, als daß die Qual am Galgen schnell hätte enden können, beschleunigten SS-Männer mit der Schwere ihres eigenen Gewichts das Sterben: Sie hielten, bis die Schlinge sich zuzog, ihre kleinen Opfer im Klammergriff.

Ich konnte, als ich auf diese Weise von der Geschichte erfuhr, nicht vermeiden, an meinen fünfjährigen Sohn zu denken. Doch das unfaßliche Verbrechen beendete nicht nur das Leben von zwanzig Kindern: Mit ihnen starben, zehn Tage vor der Eroberung Hamburgs durch die Alliierten, auch ihre Zwangsbetreuer, zwei niederländische Krankenpfleger und zwei französische Mediziner. Auch vierundzwanzig sowjetische Gefangene wurden umgebracht.

Wieder fragte ich mich: In was für einem Land lebe ich eigentlich, was soll, was will ich hier? Deutschland kam mir wie ein Ungeheuer vor. Ich las, daß sich der SS-Obersturmbannführer, der in Hamburg den Tötungsbefehl gegeben hat, rund zwanzig Jahre lang der Bestrafung entziehen konnte. Das endlich verkündete Urteil – auch wegen Grausamkeiten, die er in Konzentrationslagern begangen hatte – sah eine lebenslängliche Haftstrafe vor, die man später auf sechs Jahre herabsetzte. Die Entschädigung für die über dieses Strafmaß hinausgehende Haft betrug 121500 Mark.

Andererseits waren es Deutsche, Hamburger Bürger, welche die Erinnerung an die Toten wachhielten, auch an den Schmerz ihrer Familien, von denen viele jahrzehntelang nicht wußten, was mit den Verschollenen geschehen war. Daß die Nazis sie ermordet hatten, bezweifelte nach dem Krieg kaum jemand mehr. Nur Art, Zeit und Ort ihres Todes blieben so lange unbekannt, bis sich Menschen fanden, die das Verbrechen genau aufklärten und in aller Welt die Angehörigen ausfindig machten, um ihnen letzte Gewißheit über den grauenvollen Mord und darüber zu verschaffen, was nach dem Krieg mit den Tätern geschehen war.

Ich nahm die Einladung nach Hamburg an. So stand ich dort eines Morgens inmitten einer großen Menschenmenge, die der Ermordeten gedachte. Regen weichte den Boden auf, die Straßen, von denen jede den Namen eines der kleinen Toten tragen sollte, waren noch unbefestigt. In jeder wiederholte sich die gleiche Zeremonie: Teils waren es Familienangehörige, teils Leute aus dem Veranstalterkreis, die – soweit bekannt – aus der Lebensgeschichte der Opfer berichteten. Der Vormittag endete mit einer Gedenkfeier in der Kirche des betreffenden Stadtteils, und auch eine Veranstaltung am Abend mit dem Senatspräsidenten und Bürgermeister Henning Voscherau war den Kindern vom Bullenhuser Damm gewidmet.

Das schönste Denkmal für sie aber ist ein Garten. Von Schülerinnen und Schülern, später dann auch von Erwachsenen und von Angehörigen der toten Kinder bei ihren Besuchen in Hamburg angelegt und bepflanzt, entstand er wie von selbst, ohne Anstoß von irgendeiner offiziellen Seite. Wer heute durch das triste, fast menschenleer wirkende Viertel kommt, trifft unvermittelt hinter einer Schule im Sommer und Herbst auf die leuchtende Blütenpracht zahlloser Rosen. Diese natürliche Wiederkehr des Blühens hat, glaube ich, mehr Symbolkraft, als Erinnerungstafeln oder Monumente aus Stein sie ausdrücken könnten. Und für all dies sorgen freiwillig Deutsche, einfache Deutsche wie Günther Schwarberg und seine Freunde.

Richtig begonnen hat alles in Berlin. Bald nachdem ich in Bonn das Beglaubigungsschreiben überreicht hatte, mußte ich in die alte, neue Hauptstadt, um im Zusammenhang mit dem geplanten Umzug der Botschaft die Eignung eines dafür in Aussicht stehenden Hauses zu prüfen.

Es ging um ein ehemals vornehmes, hochelegantes Gebäude in Pankow. Mehrstöckig und mit einer Innenfläche von 6500 Quadratmetern hat es im 19. Jahrhundert der jüdischen Gemeinde in Berlin als Waisenhaus gedient, hauptsächlich zur Unterbringung jüdischer Kinder, die durch Pogrome im russischen Zarenreich ihre Eltern verloren hatten. Als die Nazis an die Macht kamen, beschlagnahmten sie das Haus und funktionierten es zu einer SS-Schule um. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Russen, die sich dort mit irgendeiner Institution einrichteten, bis es in den Besitz der DDR-Regierung überging und von ihr als Botschaftsgebäude an die Polen verpachtet wurde. Schließlich, in den letzten Jahren des ostdeutschen Staates, war darin die diplomatische Vertretung Kubas untergebracht.

Nach der Wiedervereinigung übernahm die Bundesregierung den ehemaligen Prachtbau mit der wechselvollen Geschichte. Sie bot ihn der Berliner jüdischen Gemeinde, dem rechtmäßigen Besitzer, zur Rücknahme an. Der aber erschien es, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, als bei weitem zu groß – den 175000, die sie Anfang der dreißiger Jahre umfaßte, standen nach dem Zusammenschluß der Stadt in ganz Berlin nurmehr rund sechstausend Juden gegenüber. Andererseits verpflichtete allein schon die traditionsreiche und ehrwürdige Geschichte dieser Gemeinde dazu, das ehemalige Waisenhaus in jüdischem Besitz zu halten. Der Plan, den Bau als künftigen Sitz der Botschaft Israels zu nutzen, schien von allen der nächstliegende.

Als ich das Haus besichtigte, überkam mich ein zwiespältiges Gefühl. Seine Größe und die – wenn auch äußerlich verkommen wirkende – Pracht kamen mir für den vorgesehenen Zweck zu aufwendig vor, im Innern aber bot es einen geradezu erschreckenden, total verwahrlosten Anblick. Die Kubaner hatten offensichtlich nicht nur kein Geld gehabt, um das Gebäude zu unterhalten, es fehlten ihnen wahrscheinlich sogar an Mitteln, im Winter die Heizung zu bedienen. Die Rohrsysteme waren geplatzt, die Wasserleitungen verrostet, die Wände zerkratzt, und die Parkettböden in allen Räumen sahen aus, als hätte man dort Panzersperren errichten wollen. Im vierten Stock, ich traute meinen Augen kaum, traf ich auf ein regelrechtes Gefängnis mit Zellen und Gittern. Auch gab es einen dunklen, fensterlosen Raum, der irgendwie an eine Folterkammer erinnerte. Vielleicht aber hatte er den Kubanern im Sommer, wenn es allzu heiß wurde in Berlin, als kühle Zuflucht gedient. Wer immer in den vergitterten Zellen gesessen haben mochte, als ich sie entdeckte, sah ich durch die kleinen Fenster zahllose Tauben ein- und ausfliegen – man konnte meinen, diese Höhlen, finster und verdreckt, seien der größte Taubennistplatz in Berlin.

Das Gutachten, das ich bestellte, um mir eine ungefähre Vorstellung von der Höhe der Renovierungskosten zu verschaffen, enthielt als Voranschlag die Summe von mindestens zwanzig Millionen Mark, nicht gerechnet die Kosten, die für den zweckgerechten Innenausbau zur Botschaftskanzlei entstehen würden. Für den Umzug in ein geeignetes Gebäude in Berlin hat sich seither keine befriedigende Lösung ergeben – das Problem ist unverändert das gleiche.

Mit diesem ersten Besuch in Berlin verbindet sich die Erinnerung an ein nicht weniger eindrucksvolles Erlebnis. Eigentlich besteht es aus einer Kette von Begebenheiten, die sich, auch im Gedächtnis, zur Erfahrung summieren. In einer fremden Stadt als Fremder, der hier einmal für geraume Zeit leben sollte, entdeckte ich bei einer Stadtbesichtigung, ohne vorher von ihr gewußt zu haben, die Dauerausstellung »Fragen an die deutsche Geschichte« im Reichstag. Meine Frau und ich haben darin fast einen vollen Tag zugebracht. Wir sahen in ihr die willkommene Gelegenheit, am Anfang unseres Aufenthalts im Gastland, im rechten Moment, umfassend über die deutsche Geschichte informiert zu werden, und das anhand eines ungewöhnlich reichen und interessanten Anschauungsmaterials. Nur an der Schwelle des Saals, dessen Exponate sich thematisch mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigten, zögerten wir: Wie würden die Deutschen diesen Abschnitt ihrer Geschichte behandeln? Würde ihre Sicht nicht ähnlich unobjektiv sein, wie es unsere notgedrungen war?

Am Ende der Besichtigung wußten wir, daß es zu der Art der Darstellung keine Alternative gab, sie konnte weder besser noch anders sein. Danach, wir wollten eigentlich zum Essen gehen, wurden wir Ohren- und Augenzeugen eines Gesprächs zwischen einer Schülergruppe mit Lehrern und einem Ausstellungsführer, der den jungen Besuchern erklärte, was sie in der Ausstellung erwarten würde: »Wir haben mehrere Schwerpunkte – die napoleonische Zeit, die Entstehung des Kaiserreichs, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, die NS-Zeit und der Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands.« Zu besichtigen sei natürlich jede Abteilung, sagte er, die Schüler sollten aber nach eigenem Interesse entscheiden, mit welchem Teil der Ausstellung sie sich besonders intensiv beschäftigen wollten; er würde sie dann, je nach Wunsch, begleiten. Alle stimmten für den Saal mit dem Material zur Nazi-Zeit.

Wir folgten der Gruppe so diskret wie möglich. Aufmerksam hörten wir mit an, was der Ausstellungsführer an Fakten und Zusammenhängen erklärte, alles Dinge, die mit unserem Wissen übereinstimmten und den Eindruck bestärkten, den wir selbst beim Gang durch diesen Raum gewonnen hatten. Als wir hinterher den etwa fünfzigjährigen Mann um einige Fragen baten, erkannte er wohl, daß wir Ausländer waren, nicht aber, woher wir kamen. Ob das, was wir soeben erlebt hatten, typisch sei für die Neugier und das Informationsbedürfnis junger Leute bezüglich der Zeit des Dritten Reichs, wollten wir wissen. Er nickte, gerade das Interesse von Schülern an jener Zeit sei auffallend stark. »Und wenn sie in dieser Ausstellung schwerpunktmäßig über andere Perioden der deutschen Geschichte informiert werden wollen, dann heißt das nicht, daß ihnen Hitler und seine Verbrechen gleichgültig sind.«

Uns überraschte die Auskunft, zumal wir natürlich von dem gerade unter Jugendlichen grassierenden Neonazismus wußten. Wir fragten weiter: »Wie erklären Sie sich dieses Interesse an der Nazi-Zeit?« »Das rührt daher«, sagte er, »daß sie in unserem Land jahrzehntelang verdrängt worden ist. Meine Generation konnte weder von den Eltern noch von den Lehrern viel darüber erfahren. Wir mußten später selber auf Suche nach Informationen gehen, um uns eine Meinung über die Zeit zu bilden, die so kurz hinter uns lag, die Zeit unserer Eltern. Jetzt ist die dritte Generation da, und die hat nun jemanden, der Auskunft geben kann, nämlich uns. Diese Jüngeren fragen viel, immer und immer wieder.«

»Ist das typisch für Deutschland oder eher nur für Berlin?«, versuchten wir am Ende zu erfahren. »Das weiß ich nicht«, sagte er, »ich kenne ja nur Berlin.«

Ein Jahr später saß ich im Berliner Grips-Theater. Das Stück, das an diesem Abend aufgeführt wurde, lief seit Jahren vor einem überwiegend jungen Publikum. Unter dem Titel »Ab heute heißt du Sara« geht es auf Erlebnisse der Autorin Inge Deutschkron und ihrer Mutter zurück, die als Jüdinnen während des Kriegs in Berlin untertauchten und in der Illegalität überlebten. Auch diesmal waren viele Schüler und Studenten da. Als ich Inge Deutschkron nach der Vorstellung traf, berichtete sie von dem Einführungsunterricht, der Schulklassen vor dem Besuch des Stücks über dessen wahren Geschehenshintergrund informiert. Seit Jahren wird sie, auch wenn es sie anstrengt, als Zeitzeugin von Berliner Gymnasien eingeladen.

»Ist das typisch für Deutschland«, fragte ich wieder, »oder mehr nur für Berlin?« »Das wissen wir nicht«, wurde mir im Theater erklärt. »Wir kennen ja nur Berlin.«

Der zweite Städtebesuch außerhalb Bonns galt München. Auch hier gab es eine Ausstellung – ich sah sie auf ausdrückliche Empfehlung meiner bayerischen Gastgeber –, die mir in mancher Hinsicht die Augen öffnete, auch wenn sie, anders als die Schau im Berliner Reichstag, allein der süddeutschen Landeshauptstadt und ihrer Rolle während der NS-Zeit als »Hauptstadt der Bewegung« galt. Ich wußte bis dahin nicht, wie stark Bayern in die Anfänge des Nationalsozialismus verstrickt und wie hoch der Anteil bayerischer Nazis an der Gesamtzahl derer war, die sich hier und anderswo unter Hitler der schlimmsten Verbrechen schuldig gemacht hatten. Bayern sind es gewesen, die mich darüber aufklärten.

Es war also nicht nur das weltstädtisch aufgeschlossene Berlin, das sich nach meinen Eindrücken kritisch mit der NS-Zeit auseinandersetzte und damit gerade junge Bevölkerungsgruppen ansprach. Die vielbesuchte Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die ich 1995 in Essen sah, behandelte sogar ein bis dahin weitgehend unbeachtetes, vielleicht auch mehr oder minder bewußt verschwiegenes Thema, nämlich die Beteiligung der Wehrmacht an Nazi-Verbrechen. Darüber hinaus gibt es in jeder größeren deutschen Stadt Mahnmale, die, meist würdevoll gestaltet, an die Judenverfolgung im Dritten Reich und die Ausrottungspolitik der Nazis erinnern. Schrifttafeln und Gedenksteine weisen auf die Ermordung jüdischer Bürger hin oder bezeichnen den Platz zerstörter Synagogen und Gemeindehäuser. Und überall gibt es die freiwilligen und ehrenamtlichen Mitarbeiter der Deutsch-Israelischen Gesellschaft oder der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Der Wille, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Brücken zu uns zu schlagen, ist spürbar, wohin ich auch komme, nicht nur in Berlin.

Dort allerdings, in Deutschlands größter Stadt, stärkster Anziehungspunkt für in- und ausländische Besucher, konzentrieren sich Gedenkstätten, Mahnmale und Ausstellungen, die an den Holocaust erinnern, wie sonst nirgendwo. Noch ist kein Ende der Diskussion um die endgültige Gestaltung des Platzes in Sicht, den die Bundesregierung in der Nähe des Reichstags für die Errichtung eines zentralen Gedächtnisorts für die ermordeten Juden Europas zur Verfügung stellte. Das von dem Kreis um Lea Rosh initiierte Projekt, an dem sich öffentliche wie private Gremien und Institutionen beteiligen, wird, was Einzelheiten der Ausführung und die Größe angeht, vielleicht noch jahrelang umstritten sein. Bemerkenswert ist aber, daß es hier nicht um Meinungsverschiedenheiten zwischen Juden und Nichtjuden geht. Offizielle Stellungnahmen von israelischer Seite verbieten sich von selbst. Das bedeutet nicht, daß uns die äußere Form der Gedenkstätte gleichgültig läßt, im Gegenteil. Wir schätzen nur das Vorhaben, ein solches Mahnmal in der Mitte der deutschen Hauptstadt zu errichten, grundsätzlich höher ein als einzelne formale Probleme bei der Ausführung der Idee.

Das trifft in gewissem Maße auch auf die schon bestehenden Gedenkstätten in den Berliner Bezirken zu. Von ihnen sind die im ehemaligen West-Bezirk Schöneberg vielleicht die eindrucksvollsten, wohl weil sie am schlichtesten sind. Auf offener Straße an Laternenpfählen angebracht, erinnern fahnenartige metallene Schilder mit Daten und kurzen Inschriften an antijüdische Gesetze, die während der Nazi-Zeit erlassen wurden. Sie lesen sich, in chronologischer Abfolge, wie Markierungen von Stationen eines ununterbrochenen Leidenswegs, beginnend mit dem Jahr 1933. Das Register reicht von der Entlassung jüdischer Lehrkräfte und Beamter aus dem Staatsdienst über das Verbot, das »arischen« Kindern das Spielen mit »nichtarischen« untersagt (1938), bis zur Verordnung, die alle Juden im Alter von über sechs Jahren zum Tragen des gelben »Judensterns« verpflichtet (1941). Selbst das Halten von Haustieren war – ab 15. Mai 1942 – den Juden untersagt. Am Bayerischen Platz durften Juden nur gelb markierte Sitzbänke benutzen. Schon Jahre vorher, im Sommer 1938, erging ein Verbot, das jüdische Kinder vom Besuch öffentlicher Schulen ausschloß. 1941, im Krieg, als Seife und Rasierseife rationiert waren, war Juden der Kauf solcher Artikel nicht mehr erlaubt. Und geradezu grotesk, wenn das entsprechende Gesetz für die Betroffenen nicht bittere Konsequenzen gehabt hätte, mutet eine Inschrift an, die daran erinnert, daß vom 22. März 1938 an »nur ehrbare Volksgenossen deutschen oder artverwandten Blutes« Kleingärtner sein durften.

Ich erkundigte mich, als ich die Schilder gesehen hatte, ob gegen ihre Anbringung keine Proteste laut geworden seien. Doch, es hatte Einwände gegeben, aber nicht aus Gründen, die man vielleicht unterstellen könnte. Bemängelt wurde von den Schönebergern nur, daß auf der ersten Serie der Schilder die Daten fehlten, wann die jeweiligen Verordnungen erlassen worden waren – für auswärtige Besucher und Fremde ein Anlaß zu möglichen Mißverständnissen und Irritationen, denen man auf jeden Fall vorbeugen wollte. Diese einfachen, an Straßenlaternen geschraubten Schilder mit Hinweisen auf Verordnungen, die zu den gleichfalls angegebenen Daten Gesetzeskraft erlangten und damit in Menschenschicksale eingriffen, und dann die erwähnte Inschrift am Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – gab es einen noch stärkeren Gegensatz zwischen allen Formen des Gedenkens, zu denen Menschen fähig sind?

Otto von der Gablentz, der deutsche Botschafter in Israel, hatte mich in Jerusalem nach meiner Berufung auf den Posten in Bonn auf meine künftigen Aufgaben vorbereitet, indem er auf den Sonderstatus eines israelischen Botschafters in Deutschland verwies – der sei, sagte er, unter anderem stets auch eine »moralische Institution« im Lande. Ich habe mir darauf zunächst keinen Reim machen können und reagierte, wenn ich mich recht erinnere, ein wenig verständnislos. Dann aber, nach meiner Ankunft, brauchte es nicht viel Zeit, um zu verstehen, was mir der deutsche Kollege mit auf den Weg geben wollte.

Mit schöner Regelmäßigkeit spricht man mich auf Themen an, mit denen mit Sicherheit kein israelischer Botschafter in einem anderen Land konfrontiert wird. Niemand auch käme auf den Gedanken, damit einen anderen ausländischen Diplomaten in Deutschland zu behelligen. Und immer wieder erhalte ich Einladungen zu Veranstaltungen, die weder mit Israel noch allgemein mit jüdischen Belangen zu tun haben. Statt dort, wie erwartet, anderen in Bonn akkreditierten Botschaftern zu begegnen, sehe ich mich in dieser Eigenschaft allein, dafür aber häufig umgeben von allerlei Prominenz, vor allem, wenn es sich um Veranstaltungen handelt, die sich mit der deutschen Geschichte oder mit ethischen, humanistischen und kulturellen Themen befassen. War es dies, was Botschafter von der Gablentz meinte?

Tatsache ist, daß ich mich immer wieder mit Dingen beschäftigen muß, die außerhalb meines eigentlichen Aufgabenbereichs liegen. Und immer wieder geht es um die Nazi-Zeit und die Last ihres Erbes. Der Geschäftsführer der Kempinski-Hotelkette beispielsweise, der mich wiederholt um ein Treffen bat, hatte alles andere im Sinn als die Absicht, mich für seine Häuser als künftigen Stammgast zu gewinnen. Während eines Aufenthalts in Berlin habe ich ihn schließlich zwar in einem Hotel empfangen, es war aber nicht das bekannte Bristol-Kempinski. Genau damit jedoch, dem Haus am Kurfürstendamm, gab es, wie ich erfuhr, einige bereits an die Öffentlichkeit gelangte Probleme, verursacht durch einen gewissen Herrn Teppich. Dieser Mann, schon recht bejahrt, demonstrierte regelmäßig vor dem Hotel mit einem Schild, das auf das Schicksal der Gründerfamilie Kempinski aufmerksam machte. Es waren Berliner Juden, die von den Nazis enteignet worden waren und die Teppich noch persönlich kannte. Daß sich hinter der neuen Prachtfassade des Hotels eine zu Unrecht vergessene Tragödie verbarg, trieb den alten Mann mit seinem Schild immer wieder vor den Eingang des renommierten, traditionsreichen Hauses und machte den Geschäftsführer ratlos – was sollte, was konnte er gegen das lebende Mahnmal tun, das da aus eigenem Antrieb Hotelgäste und Passanten an längst verjährte Dinge erinnerte, und das über viele Wochen? Aber was hatte ich damit zu tun?

Es stellte sich heraus, daß die jetzigen Besitzer des Hotels, eine Aktiengesellschaft, mit dem der Familie Kempinski im Dritten Reich geschehenen Unrecht absolut nichts zu tun haben, auch nicht mit den Leuten, die das alte Hotel nach der Enteignung übernahmen. Das Ergebnis des Gesprächs, das der Berliner Geschäftsführer und ein Mitarbeiter der Botschaft gemeinsam mit Herrn Teppich führten, ist eine Gedenktafel. An der Wand neben dem Hoteleingang angebracht, erinnert sie unübersehbar an die Kempinskis, an die Wegnahme ihres Besitzes und ihre schließliche Ermordung durch die Nazis. Als alles sich zum Guten gewendet hatte, fielen mir wieder die Worte meines Kollegen von der Gablentz ein.

Ein Brief, den ich etwa zur selben Zeit vom Oberbürgermeister der Stadt Dachau erhielt, konfrontierte mich mit einem ganz ähnlichen Problem. Nur fühlte ich mich in diesem Fall noch weniger zur Vermittlung aufgerufen, weil es, wie aus dem Schreiben deutlich wurde, um einen schon länger andauernden Streit zwischen Dachau und der in München ansässigen Zentralverwaltung der deutschen Goethe-Institute ging. Die Verwaltung weigert sich beharrlich, den nach Lage des Gebäudegrundstücks und postalisch korrekten Namen »Dachauer Straße« zu akzeptieren. Statt dessen verwendet sie auf den Briefköpfen den Namen der Straße, an der der kaum benutzte Hintereingang des Hauses liegt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sie wurden im Brief des Oberbürgermeisters auch ohne Umschweife angesprochen, der Mann wollte nur nicht hinnehmen, daß, wie er schrieb, »offensichtlich eine überwiegend öffentliche Meinung besteht, die Verbrechen in der KZ-Gedenkstätte Dachau hätten die Dachauer zu vertreten und nicht das ganze deutsche Volk einschließlich des Goethe-Instituts«. Zur Vorgeschichte gehörte, daß die Mitgliederversammlung des Instituts bereits im Sommer 1988 die Auffassung vertrat, das Goethe-Institut habe keinen Anlaß, »die deutsche Vergangenheit, die auch mit dem KZ Dachau verbunden ist, zu verdrängen«. Trotzdem waren auf kommunaler und Bundesebene alle Versuche, den damaligen Leiter der Einrichtung zur Änderung der offiziellen Anschrift zu veranlassen, erfolglos geblieben. »In meiner Not wende ich mich an Sie«, hieß es in dem Schreiben, das ich, um es richtig zu begreifen, mehrmals lesen mußte: »Ich bitte um Ihre Unterstützung bei unseren Bestrebungen, das Goethe-Institut zu bewegen, daß es sich durch die Adressenführung zur gemeinsamen deutschen Vergangenheit bekennt ...«

Mit Israel oder mit jüdischen Gemeinden hatte die Bitte des Oberbürgermeisters nicht im geringsten zu tun. Was sollte ich erwidern? Ich fühlte mich nicht zuständig und schrieb einen entsprechend höflichen Brief nach Dachau. Ein erhellender Eindruck blieb dennoch zurück: Ich begann zu verstehen, wie schwierig und schmerzhaft es für Deutsche ist, wenn sie der Vergangenheit gegenüber nicht gleichgültig bleiben wollen – und dies trifft immerhin auf die meisten zu.

Wenn es noch eines Zeichens oder Ereignisses bedurft hätte, um zu erklären, was von der Gablentz meinte, als er von meinem Posten in Deutschland als einer moralischen Istanz sprach, dann war es der Brief eines anderen Oberbürgermeisters, nämlich desjenigen der Stadt Hagen. Er lud mich, den Israeli, ein, in Hagen die Festrede auf der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag 1996 zu halten. Ich bin, nach einigem Überlegen, der Einladung gefolgt. Aus gleichen Erwägungen sprach ich am Karfreitag 1997 in der Gedenkstunde für die Opfer der Stadt in der Dortmunder Bittermark.

Am 23. Juli 1994, einem Sonnabend, erfuhr ich aus den Radionachrichten vom Überfall einer Gruppe von Neonazis auf die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Buchenwald. Es war nicht nur Sachschaden entstanden, die Horde hatte auch einer Historikerin, die im Archiv der Gedenkstätte arbeitete, mit der Verbrennung bei lebendigem Leibe gedroht. Eine weitere Meldung vom folgenden Tag besagte, der Polizei sei die Gruppe vor der Tat verdächtig vorgekommen, man habe sie eine Weile verfolgt, die Beobachtung aber kurz vor Buchenwald, dem Ziel des Anschlags, aufgegeben. Daß die Montagszeitung nur am Rande über den Vorfall berichteten, so, als handele es sich um ein beiläufiges oder schon länger zurückliegendes Ereignis, überraschte mich einigermaßen. Deshalb beschloß ich, mir selber ein genaues Bild zu verschaffen. Ich flog noch am selben Tag nach Buchenwald, wo es die zweite Überraschung gab: Außer Fotografen, Journalisten und Leuten vom Fernsehen erwartete mich ein Minister der thüringischen Landesregierung, der mich auf dem Gang durch die geschändete Gedenkstätte begleitete und mich anschließend zu einem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Bernhard Vogel in Erfurt brachte. Der Aufenthalt in Thüringen ging mit einer Pressekonferenz und einer Interview-Einladung der ARD-Tagesthemen zu Ende. Für den Rückflug nach Bonn nahm ich die Zusicherung mit, die Aufklärung der neonazistischen Schandtat energisch voranzutreiben und dafür zu sorgen, daß sich ähnliche Dinge nicht wiederholten.

Ich hätte in diesem Fall kein Recht gehabt, mich direkt an Behörden zu wenden oder gar bewußt ein öffentliches Forum zu suchen. Die Medienresonanz auf meinen Kurzbesuch in Buchenwald fiel desto stärker aus, und daß die Reise auch im Kanzleramt registriert worden war, erfuhr ich noch per Autotelefon auf dem Rückweg zwischen dem Flughafen und Bonn. Der Regierungsbeamte, der mich anrief, beschwerte sich nicht etwa über eine unerlaubte Einmischung in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik, er bedankte sich vielmehr für die Aufmerksamkeit, die ich dem Anschlag gewidmet hatte. Und abermals mußte ich an meinen deutschen Kollegen in Israel denken.

Kaum ein anderer Spielfilm zum Holocaust-Thema hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit ein derart starkes Echo gefunden wie »Schindlers Liste«. Bei der Uraufführung in Frankfurt saß ich in einer Reihe mit dem Bundespräsidenten von Weizsäcker, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, und seiner Frau, dem damaligen US-Botschafter in Bonn, Richard Holbrooke, und Steven Spielberg, dem Produzenten des Films. Nach der Vorstellung, beim Verlassen des Saals, hing jeder eigenen Gedanken und Gefühlen nach, wir gingen schweigend hinaus. Als sich die draußen wartenden Journalisten auf den Bundespräsidenten stürzten, um ihn nach seinen Eindrücken zu befragen, trat ich zur Seite, doch Richard von Weizsäcker nahm mich am Arm: »Bleiben Sie bitte hier.« Er, der beherrschte, zur Selbstdisziplin erzogene Mann, war in diesem Augenblick sichtlich so bewegt und betroffen, daß er – wahrscheinlich zum ersten Mal in seiner Amtszeit – einige Zeit brauchte, um die Fassung wiederzugewinnen. Meinen Arm, so schien es mir jedenfalls, ergriff er wie eine Art Rettungsanker – ein mir unvergeßlicher Moment.

Beim anschließenden Abendessen, zu dem Andreas von Schoeler geladen hatte, der damalige Frankfurter Oberbürgermeister, saß ich neben Steven Spielberg. Befragt, ob er beim Drehen von »Schindlers Liste« auch ein deutsches Zielpublikum vor Augen gehabt und bei Aufnahmen zu besonders realistischen Szenen aus dem KZ-Alltag Rücksicht auf die Gefühle deutscher und jüdischer Zuschauer genommen habe, meinte er, die Greuel, die der Film darzustellen versuche, seien, da er in erster Linie an das amerikanische Kinopublikum denken mußte, eine Untertreibung der Wirklichkeit: »Wie es tatsächlich in einem KZ war, kann man in einem Film kaum beschreiben. Hätte ich an Deutschland oder an Israel gedacht, wären die Szenen wesentlich härter ausgefallen.«

Authentische Berichte über die Verfolgung und Ausrottung der Juden im Dritten Reich, vor allem in den letzten Kriegsjahren, waren mir stets nur von jüdischer, in fast jedem Fall nichtdeutscher Seite zur Kenntnis gekommen. Insofern war es eine völlig neue, aber nicht weniger erschütternde Erfahrung für mich, als ich in Deutschland mit Fotos, Tagebüchern und anderen Dokumenten konfrontiert wurde, die Einzelheiten des Holocaust nicht aus der Sicht der Überlebenden darstellten, sondern aus unmittelbarer Anschauung deutscher Täter und Tatzeugen.

Im Grunde hatte ich mich vor solchen Bildern und Aufzeichnungen gefürchtet. 1995 aber, als sich der Tag der deutschen Kapitulation und damit der Untergang des Nazi-Reiches zum fünfzigsten Mal jährten, häuften sich Veröffentlichungen solcher Materialien in so großer Zahl, daß es schwerfiel, sich ihrem Eindruck zu entziehen. Fernsehdokumentationen, Presseberichte, Vorträge, Podiumsdiskussionen und zahllose andere Veranstaltungen behandelten nicht nur seit langem bekannte Entwicklungen und Tatsachen, sie lenkten vielfach auch den Blick auf bis dahin wenig beachtete Fakten. Auch bislang unentdeckt gebliebene Dokumente kamen ans Tageslicht.

Mir ist vor allem, interessant und gräßlich zugleich, ein TV-Beitrag in Erinnerung geblieben, der sich mit dem Tagebuch eines an sich unbedeutenden deutschen Beamten befaßte, der als Amtskommissar während des Krieges in der Nähe der polnischen Stadt Lodz, von den Deutschen umbenannt in Litzmannstadt, Dienst tat. In den Aufzeichnungen nennt er sich Alexander Hohenstein, auch alle sonst vorkommenden Namen sind Pseudonyme. Amateurfilme, von Hohenstein gedreht, und zahlreiche Fotos ergänzen die schriftlichen Eintragungen, das Ganze mutet an wie ein Kompendium des Grauens.

Von einem Urlaub zurückgekehrt nach Poddembice, seinem Dienstort, notiert Hohenstein: »Das Unglaubliche ist Tatsache geworden. Während meiner Ferien vollzog sich die Ausmerzung der Juden von Poddembice. Ich und meine Familie danken unserem Herrgott von ganzem Herzen, daß er es uns erspart hat, Zeugen dieses grauenvollen Verbrechens zu sein oder gar aufgrund meines Amtes Henkerdienste leisten zu müssen. Ich will versuchen, so sachlich wie möglich niederzulegen, was ich erfuhr.«

Und dann folgt, was ihm sein Vertreter Heinitzer berichtet, der Zeuge, der alles mit ansah: »Ich habe niemals geglaubt, daß Menschen, deutsche Menschen so bestialisch, so sadistisch sein können. Sie wissen ja, daß die Judengemeinde seit Februar täglich vollzählig und geschlossen zur Kontrolle in den Schloßpark marschieren mußte. Eines Tages, es war der 14. April, wurden die Juden von einem großen Aufgebot an Gendarmerie in Empfang genommen. Scharf eskortiert trieb man die Juden in die polnische Kirche. Zur gleichen Zeit wurden sämtliche jüdischen Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen weggeholt. Auch Hermann aus Ihrem Grundstück. Zehn Tage wurden die Juden in dem Gotteshaus gefangengehalten, ohne Betten und Decken, nichts von sanitären Anlagen, kein Klosett, fast dreitausend Menschen. Kinder wurden geboren und Menschen starben in dieser qualvollen Enge. Die Türen wurden von SS-Männern Tag und Nacht bewacht. Auf Kosten der Stadtverwaltung wurden die Juden mit Brot und Margarine versehen. Zweimal täglich durfte ein Trupp Männer Wasser vom Brunnen vor der Kirche holen. Das Heulen und Wehklagen, das Jammern und Schreien der unglücklichen Juden vernahm man Tag und Nacht, es war grauenhaft, gruslig. Am zehnten Tage, in früher Morgenstunde, wurde die Pforte des Gotteshauses aufgerissen und die Juden truppweise herausgelassen. Zerzaust, zerlumpt, dreckig, fast verhungert, glichen sie eher unheimlichen Spukgestalten als lebendigen Menschen. In diesem Zustand wurden sie wie Vieh auf Lastautos getrieben. Dann fuhr die Kolonne mit ihrer Todesfracht zum ersten Mal ab. SS-Motorradler zur Seite und hinterher. Nach Stunden kam die Autokolonne wieder zurück, und der zweite Akt dieses Dramas begann. Frau Goldo kam mit ihrer Tochter aus der Kirchentür. Sie sah Herrn Helferich, eilte auf ihn zu und flehte ihn um Rettung an. Ihr Mann, der Judenälteste, bot ihm in hastigen Worten ein Vermögen in solcher Höhe, daß Helferich nie wieder zu arbeiten brauchte. Inzwischen waren SS-Männer
auf diese Szene aufmerksam geworden. Sie schlugen auf die Unglücklichen ein, ergriffen den Judenältesten und mißhandelten ihn so schwer, daß er über und über blutend zu Boden sank.«

»Das Schreckliche ereignete sich bei der dritten und letzten Verladung. Da brachte man die Kranken aus der Kirche. Sie wurden den Menschen auf den Wagen einfach über die Köpfe geschoben, wie Krautsäcke, immer hinauf und hinein, ungeachtet des Geschreies der Gesunden und Kranken. Als die letzten Wagen vollgepfropft waren, da brachte man die Toten hin, 28 sind während der Gefangenschaft in der Kirche verstorben. Und statt sie nun zurückzulassen, nahmen die SS-Scheusale die Leichen und warfen sie den lebenden Insassen der Autos buchstäblich auf die Köpfe. Sogar die deutschen Zuschauer schrien vor Entsetzen auf. Und noch etwas: Ihr Hausbursche Hermann und ein anderer junger Jude hatten sich im Dachreitertürmchen der Kirche versteckt. SS-Leute fanden die beiden Burschen und haben sie unmenschlich zerschlagen. Sie wurden auf den letzten Wagen geworfen. – Herr Bürgermeister, das kann unmöglich gut gehen. Daß ich als alter Mann so etwas noch erleben mußte. Ich habe das Leben hier so satt. Ich möchte heim, heim, heim. Erschüttert sah ich, daß Heinitzer weinte.«

Daß es deutsche Medien waren, die, wenn auch oft unter allergrößten Schwierigkeiten, solche Dokumente zutage förderten und der Öffentlichkeit vorstellten, berührte mich fast ebenso wie die Dokumente selbst. Zugleich versuchte ich mir das Fortleben der Nazi-Ideologie in den Köpfen junger Menschen zu erklären, auch und gerade in der ehemaligen DDR. Hatten vierzig Jahre sogenannter sozialistischer Umerziehung nicht genügt, um den Ungeist der NS-Zeit und die Gefahr seines Wiederauflebens endgültig zu bannen?

Als ich die Meinung der Ausländerbeauftragten in Dresden zu den möglichen Ursachen des Rechtsradikalismus erfahren wollte, gab sie, wie erwartet, gleich mehrere Antworten. Einmal, wußte Marita Schieferdecker-Adolph, gab es Jungen, die nur aus Opposition gegen den doktrinären Marxismus der DDR dem anderen Extrem verfallen waren. Wieder andere ließen sich aus persönlicher Frustration auf Nazi-Parolen ein oder taten es einfach, weil sie sich interessant machen wollten. Sie alle seien letztlich belehrbar, meinte die Frau, die bald nach der Wende mit einer Gruppe junger Neonazis nach Israel gereist war, um sie von ihrem Irrglauben zu befreien. Doch gebe es auch Jugendliche, die familiär fest im Nationalsozialismus verwurzelt seien. Die Unterdrückung freier Meinungsäußerungen in der DDR habe zu Entwicklungen geführt, die sich innerhalb der Familien oder in kleinen Zirkeln abspielten, von außen nicht ohne weiteres kontrollierbar und nicht selten von Nazis bestimmt, die ihren Nachkommen die alten Propagandaformeln einprägten.

So erzählte Frau Schieferdecker-Adolph von einem jungen Neonazi, der mehr von seinem Großvater als von den Eltern erzogen worden war. Der alte Herr war im Zweiten Weltkrieg als SS-Mann in Polen stationiert und schwärmte dem Enkel von dieser Zeit vor – herrlich sei sie gewesen, beeinträchtigt nur durch die Schwierigkeiten, welche die Juden
den Deutschen bereiteten. Und dann folgte eine Reihe schlimmer Vergehen aus der jüdischen Bevölkerung gegen die Deutschen. Ich fragte erstaunt, ob der Junge die Geschichten denn ehrlich geglaubt habe. »Doch, völlig, und er ist leider kein Einzelfall.«

Auf die immer wieder gestellte Frage, warum der Holocaust gerade vom hochzivilisierten Deutschland ausging und von Deutschen vollstreckt wurde, gibt es offenbar keine abschließende Antwort. Wohl aber sind es das Organisationstalent und die allgemeine Neigung der Deutschen zum Perfektionismus, die Systematik und Ausmaß des Verbrechens an den Juden erklären. In »Shoah«, dem bis heute umfassendsten Filmwerk über den Holocaust – er dauert neun Stunden –, gibt es keine einzige grausame Szene. Der Film wirkt jedoch um so erschütternder, als er Tatsachen für sich sprechen läßt und Dialoge festhält, Gespräche mit Tätern und Augenzeugen, mit
SS-Männern, aber auch mit Opfern, die überlebten. Charakteristisch scheint mir die Aussage eines ehemaligen SS-Mannes zu sein, zu dessen Alltag im KZ das Töten gehörte. Er erklärt Claude Lanzmann, dem Schöpfer und Produzenten dieses Films, ganz sachlich und allen Ernstes, wie er und seine »Mitarbeiter« Menschen in Massen vernichteten und wie sehr sie sich abmühten, ihre »Arbeit« ständig zu »verbessern«. »Wir wollten«, sagt er, »die Produktion erhöhen und haben tatsächlich dank unserer Tüchtigkeit und dank der Verbesserung unserer Arbeitsmethoden die Produktion ständig erhöht.« Produktion war gleichbedeutend mit Massenmord.

Daniel Jonah Goldhagen behauptet in seinem heftig diskutierten Buch »Hitlers willige Vollstrecker«, die eliminatorische Form des Antisemitismus sei bereits im Deutschland des 19. Jahrhunderts außerordentlich weit verbreitet gewesen. Als Hitler an die Macht kam, sei das sich auf die Juden beziehende allgemeine Denkmuster, das auch die Basis für Hitlers persönlichen Judenhaß bildete, von der Mehrheit der Deutschen akzeptiert worden. Nur deshalb habe Hitler sein Vorhaben so erschreckend leicht verwirklichen können.

Ein Teil der deutschen Medien entnahm Goldhagens Buch die These, der auf Entfernung und Beseitigung gerichtete Antisemitismus sei als entscheidende Triebkraft der späteren Judenausrottung tief in der deutschen politischen Kultur verwurzelt, ja ein im Nationalcharakter angesiedeltes Spezifikum. Die Diskussion um das Buch begann, noch bevor es in Deutschland erschienen war. Sie sei, wurde mir berichtet, um nichts geringer als die öffentlichen Auseinandersetzungen anläßlich des Historikerstreits Mitte der achtziger Jahre. Ohne mich einzumischen, war ich beeindruckt vom allgemeinen Aufruhr um das Buch des jungen Harvard-Dozenten, verriet sich darin doch das genaue Gegenteil von der Gleichgültigkeit gegenüber der NS-Zeit, wie sie für die Nachkriegszeit typisch war.

Als das Buch schließlich in deutscher Sprache herauskam, erreichte die Diskussion ihren Höhepunkt. Zahlreiche Talkshows, eine kaum überschaubare Menge an Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften, öffentliche Diskussionen und ein ebenso interessiertes wie kritisches Publikum, dem sich Goldhagen mehrmals selber stellte, ließen fast schlagartig die Bereitschaft gerade junger Leute erkennen, sich des Unheils der Nazi-Zeit mit seinen Ursachen und Vorboten neu bewußt zu werden. »Zum letzten Auftritt Daniel Jonah Goldhagens in Deutschland kamen über zweitausend Besucher«, schrieb Frank Schirrmacher am 13. September 1996 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. »Man hätte, sagen die Veranstalter, auch leicht die Münchener Olympiahalle füllen können.« Und weiter: »Die Leidenschaft ..., mit der Goldhagens Thesen in Deutschland aufgenommen oder zurückgewiesen, kritisiert oder gefeiert wurden, übersteigt das bislang Gewohnte ... Daß die Deutschen ihrer eigenen Geschichte entkommen wollen, wie eine bekannte These lautet, ist durch das Goldhagen-Phänomen widerlegt.«

Auch wenn ich es gewollt hätte, es war so gut wie unmöglich, Gesprächen über »Hitlers willige Vollstrecker« zu entgehen. Jede Gelegenheit schien günstig, mir zu Goldhagens Buch und zum Meinungsstreit, den es in der Öffentlichkeit ausgelöst hatte, Fragen zu stellen und mich in Diskussionen einzubeziehen.

Das begann, als ich bei einem privaten Essen neben einer Dame saß, keiner Unbekannten im öffentlichen Leben. Sie hatte, wie ich erfuhr, eine jüdische Großmutter gehabt, die Eltern waren deshalb während der Nazi-Zeit emigriert. Natürlich kamen wir bald auf Goldhagen und sein Buch zu sprechen. Auf die Frage, was ich davon halte, gab ich ihr zu verstehen, ich könne Goldhagens Ansichten nicht rundweg und nicht in allen Punkten widersprechen. Allein das genügte meiner Tischnachbarin, um mir aufgeregt und langatmig ihre Auffassung zu erklären, wonach das Buch verurteilenswert und entschieden abzulehnen sei. Sie begründete ihre Ansicht so detailliert, daß ich mich zu der Äußerung hinreißen ließ, statt es zu ignorieren, wie ich es eigentlich von den Deutschen erwartet hätte, habe sie das Buch wohl von der ersten bis zur letzten Seite akribisch studiert, meine Einstellung jedenfalls sei, im Unterschied zu ihrer, etwas differenzierter. Die Gespräche um uns verstummten, die Dame rührte keinen Bissen mehr an, nicht mehr viel, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Gottlob rettete der Hausherr die Situation.

Ich bin kein Historiker, weiß aber, daß die Mehrheit der Deutschen in den zwanziger Jahren für Parteien stimmten, deren Programme sich gegen den Antisemitismus wandten. Auch noch nach der Machtergreifung Hitlers hatten diese Parteien die meisten wahlberechtigten Deutschen hinter sich. So geht denn auch ein Großteil der Historiker davon aus, daß der Machtantritt selbst nicht durch einen in der deutschen Bevölkerung vorhandenen Antisemitismus erklärt werden kann. Ob die 55 Prozent, die damals gegen Hitler stimmten, auch Gegner des Antisemitismus waren, weiß ich nicht, offensichtlich aber gehörten sie nicht zu denen, die Juden gehaßt und ihnen Verfolgung angedroht haben. Das aber widerspricht Goldhagens historischen Analysen. Würde der Widerspruch anerkannt, bliebe nach wie vor erst recht die Frage unbeantwortet, weshalb die Judenverfolgung ausgerechnet von Deutschland ausgehen konnte. Ein Gedanke dazu hilft vielleicht, den Widerspruch zu erklären.

Sicherlich trifft es zu, daß in Deutschland, noch bevor Hitler an die Macht kam, viele Formen des Antisemitismus existierten, seine Ideen zur Judenverfolgung hätten sonst nicht auf so fruchtbaren Boden fallen können. Richtig ist aber auch, daß der Antisemitismus auch in anderen Ländern verbreitet war, vor allem in Osteuropa. In Polen, in der Ukraine, in den baltischen Ländern, in der Slowakei, Ungarn und Kroatien – überall fanden sich während des Krieges massenweise Kollaborateure, die willig, teilweise begeistert bereit waren, an der Judenvernichtung teilzunehmen. Ein für Massenmorde in Treblinka verantwortlicher SS-Offizier, den Claude Lanzmann heimlich für »Shoah« filmte, beschreibt im Gespräch mit dem Regisseur seine Helfer, Leute aus der Ukraine und dem Baltikum, als »Bluthunde«, gegen die auch SS-Männer nicht konkurrenzfähig waren.

Darauf spielt eine traurige Geschichte aus Osteuropa an. Sie erzählt von einem Mann, der nach seinem – normalen – Tod die Wahl hat zwischen einer von Schweizern bedienten Höllenkammer und einer anderen, in der Leute aus dem Osten die Oberaufsicht führen. Er entscheidet sich für die letztere. »Warum«, wird er gefragt, »die Schweizer sind doch viel humaner.« »Ich weiß, ich weiß«, sagt der Mann, der in seinem Leben nur wenig gesündigt hat, »aber von der Schweiz weiß ich, daß alles funktioniert: Wenn ich im Feuer schmoren soll, dann wird es pünktlich brennen, und Holz und Kohlen dafür wird es immer geben. In der Ost-Hölle aber wird der Heizer kommen, wann er will, der Ofen wird meist kaputt und Brennholz Mangelware sein. Ich werde also weniger leiden müssen.«

Kein Zweifel, die Hölle, welche die Nazis in Betrieb setzten, war perfekt organisiert. Wie sie entstand, wer an ihrem Bau beteiligt war und wer und was alles ihr Feuer geschürt hat, wird immer noch von Historikern und anderen Experten erforscht, Leuten, die fortwährend über die Ergebnisse ihrer Arbeit berichten. Kein Jahr, in dem nicht gleich mehrere Dokumentationen in Buchform erscheinen, von Zeitschriftenaufsätzen und ähnlichem ganz abgesehen. Sind, trotz vieler gegenteiliger Beweise, diese Veröffentlichungen aber repräsentativ für die Ernsthaftigkeit des Bemühens der Deutschen – oder doch ihrer Mehrzahl –, sich sozusagen mit sich selbst auseinanderzusetzen? Diejenigen, die ich in jeder Gedenkstätte antreffe, an Universitäten, unter Juristen, in der Wannsee-Villa und in vielen politischen Organisationen – lassen sie sich wirklich gleichsetzen mit einer imaginären Mehrheit, die sich ehrlich um Aufklärung der Vergangenheit bemüht, statt sie, wie es so lange geschah, zu verdrängen oder zu vergessen?

Wie haben die Deutschen die Gedenkveranstaltungen von 1995 empfunden? Waren sie beeindruckt oder eher gleichgültig? Wollten sie solche Veranstaltungen überhaupt? Ließen sie sie nur aus Anstand und einer Art Pflichtgefühl über sich ergehen, womöglich gar aus Resignation? Keine Fragen beschäftigten mich stärker als diese.

Den Auftakt zu den Gedenkfeiern anläßlich des Kriegsendes 1945 bildete schon der Staatsakt, der im sogenannten Bendlerblock in Berlin, dem ehemaligen Hauptquartier der Wehrmacht, zur fünfzigsten Wiederkehr des 20. Juli stattfand, dem Tag des mißglückten Attentats auf Hitler. Bundeskanzler Kohl erinnerte an das, wie er sagte, noch uneingelöste Vermächtnis jener Männer des Widerstandes. Er sprach die zurückliegenden Versuche an, angesichts der Verbrechen Hitler-Deutschlands, als ihr Ausmaß erkennbar geworden war, in kollektive Ausreden und Beschönigungen zu verfallen oder deutsche Verbrechen gegen andere aufzurechnen. Unüberhörbar, gerade vor dem geschichtlichen Hintergrund und Anlaß dieser Feier, klang die Warnung, mit Gleichmut das Erstarken radikaler Kräfte hinzunehmen: »Wer politischen Extremismus als etwas Normales verharmlost und dessen Intoleranz als falsch verstandenen Großmut toleriert, der versündigt sich gewollt oder ungewollt an unserer Demokratie.« Man müsse sich gemeinsam gegen die Anfänge wehren.

Im Januar 1995 dann die erschütternde Zeremonie auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz, seit 1941 zum Schauplatz des größten Massenmords in der Geschichte der Menschheit ausgebaut. Der Bundespräsident wohnte der Feier zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung ebenso bei wie einige Monate später, im April, im Beisein des Kanzlers und namhafter Öffentlichkeitsvertreter der Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen. Die ehemaligen Lager Sachsenhausen, Ravensbrück, Dachau und andere waren weitere Stationen, an denen führende deutsche Politiker eine Bilanz jener furchtbaren Jahre zogen und dem leichtfertigen Vergessen die Kraft des Gedächtnisses gegenüberstellten, mit der Verpflichtung für jeden, diese Kraft zu nutzen und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.

Ähnlich äußerte sich Bischof Klaus Engelhardt von der Evangelischen Kirche Deutschlands am 8. Mai jenes Gedenkjahrs im Berliner Dom: »In die Rufe nach einem Schlußstrich unter die Vergangenheit können Christen nicht einstimmen. Wer das Gedächtnis verliert, verliert die Orientierung. Wer vergißt, was geschah, reißt den Wegweiser für einen Weg in eine bessere Zukunft aus. Das gilt besonders im Verhalten zum jüdischen Volk, das gilt auch für unsere Verpflichtung, Minderheiten zu schützen.«

Was die katholische Kirche angeht, so erklärten ihre Bischöfe öffentlich, die Erinnerung an die Auschwitz-Befreiung sei Anlaß für die deutschen Katholiken, erneut ihr Verhältnis zu den Juden zu überprüfen. »Wir müssen alles tun, damit Juden und Christen in unserem Land als gute Nachbarn miteinander leben können.« Wo es möglich sei, heißt es im Bischofswort, sollten christliche und jüdische Gemeinden Kontakt miteinander pflegen. Ungeachtet des großen Beitrags, den Juden zur Entwicklung der deutschen Kultur und Wissenschaft leisteten, habe die »antijüdische Einstellung auch im Kirchenbereich« mit dazu geführt, daß Christen in den Jahren des Dritten Reiches »nicht den gebotenen Widerstand gegen den rassistischen Antisemitismus geleistet haben«. Versagen und Schuld unter Katholiken seien vielfach die Folge gewesen.

Es fehlte also von keiner Seite an Eingeständnissen, Warnungen und Willensäußerungen, an öffentlichen Bekenntnissen und Zeichen der Entschlossenheit, die Erinnerung an die Vergangenheit nicht auf sich selbst beruhen zu lassen. Meine Frage, was der Durchschnittsdeutsche dabei empfand, war damit noch nicht beantwortet. Vor allem interessierte mich, wie junge Menschen darüber dachten.

Im Sommer 1995 folgte ich der Einladung zu einer Begegnung mit etwa fünfzig Jugendlichen, die gerade ihr Abitur abgelegt hatten. Das Thema des Gesprächs war der Friedensprozeß im Nahen Osten, aber wie so oft wurde ich auch diesmal auf die Schreckenszeit unter den Nazis angesprochen. Und wieder stand die Frage im Vordergrund, wie man, fünfzig Jahre danach, mit dem nun einmal nicht auszulöschenden Stück deutscher Vergangenheit umzugehen habe. Eine etwa Neunzehnjährige sprach es direkt aus. »Sie haben natürlich bemerkt, wieviel in den letzten Monaten in Deutschland über die Nazi-Zeit berichtet worden ist«, sagte sie. »Und dann die vielen Veranstaltungen, die sich mit den Greueltaten der Nazis befassen – meinen Sie nicht, daß man mit all dem übertreibt?«

Was sollte ich darauf antworten? Ich versuchte, der jungen Frau zu erklären, daß niemand und nichts sie zwinge, Radio- und Fernsehsendungen oder Zeitungsartikel über die NS-Zeit zu hören, zu sehen oder zu lesen, einfaches Umschalten oder Weiterblättern genügten, um solche Medienberichte, wie jeden anderen auch, zu ignorieren. Mit dieser zugegeben lapidaren Antwort, die sie nicht erwartete, hatte ich die Fragestellerin offenbar verletzt. Als ihr die Tränen kamen, meldete sich ein Mitabiturient zu Wort. Aufgeregt und augenscheinlich selber betroffen, wies er auf immer wiederkehrende Erfahrungen junger Deutscher bei Reisen ins Ausland hin: »Sobald man da erfährt, daß wir Deutsche sind, hält man uns unsere Vergangenheit vor. Wir werden als Nazis beschimpft und auch so behandelt. Warum? Was haben wir oder unsere Eltern denn Schlechtes getan? Ich glaube nicht mal, daß meine Großeltern sich unter den Nazis schuldig machten. Und wenn doch – was kann ich dafür?«

Plötzlich fiel mir eine an sich belanglose Geschichte ein, die meine Frau – wir waren damals erst kurz in Bonn – erzählt hatte. Mit unserem Wagen, der ein deutsches Kennzeichen trägt, war sie ohne Chauffeur auf der Rückfahrt von Brüssel. Noch vor der Grenze nach Deutschland zwang eine Panne sie zum Halt am Rand der Autobahn und zur Suche nach Hilfe – kein leichtes Unterfangen mitten in der Nacht, dazu in einem fremden Land und mit unserem kleinen Sohn auf dem Rücksitz. Endlich, nach vielen erfolglosen Versuchen, eines der vorbeikommenden Autos zu stoppen, hielt jemand. Es war ein Deutscher. Er konnte die Panne wenigstens notdürftig beheben und tröstete meine Frau mit dem Hinweis auf die Nähe der deutschen Grenze: »Bis dahin sind es nur noch zwanzig Minuten.« Danach würde sie, sollte es mit dem Wagen erneut Schwierigkeiten geben, immer und überall problemlos Hilfe finden.

War das der Schlüssel zum besseren Verständnis dessen, was dem Abiturienten so zentnerschwer auf der Seele lag? Wir, meine Frau und ich, haben lange nicht begreifen können, weshalb man mit Deutschen, auch mit deutschen Autofahrern, in den Nachbarländern grundsätzlich anders umgehen sollte, als sie es, gerade in Notsituationen, von daheim gewohnt sind. War Hilfsbereitschaft abhängig von der Nationalität desjenigen, der Hilfe benötigte?

In Israel, berichtete der junge Mann aus der Abiturientengruppe, habe er ganz andere Erfahrungen gemacht. Dreimal sei er dort gewesen, stets höflich und korrekt behandelt. »Erst wenn man sich näher kennengelernt hat, wird über die deutsche Vergangenheit gesprochen, aber sachlich, ohne Beschimpfungen oder Beleidigungen. Man will wissen, was wir wissen, wie unsere Meinung ist. Kurz, man versucht, sich vernünftig mit uns zu unterhalten.«

Ähnliches berichtet Inge Deutschkron in ihrem Buch »Israel und die Deutschen – das schwierige Verhältnis« aus länger zurückliegenden Jahren, aus der Zeit des Eichmann-Prozesses. Als Kronzeugen nennt sie einen Journalisten der »Süddeutschen Zeitung«, der als Korrespondent nach Jerusalem gereist war. Er war sich der Schwere seiner Mission bewußt. Statt aber, wie erwartet, auf kühle oder gar feindselige Distanz zu stoßen, begegnete er betonter Freundlichkeit und ständiger Hilfsbereitschaft. Dabei war ihm allerdings bewußt, daß, wie er in seiner Zeitung schrieb, »die Noblesse der Gastfreundschaft kein Unterpfand dafür sein konnte, daß die Probleme zwischen Juden und Deutschen gelöst wären«. So hätten denn auch die meisten Israelis, die sich hilfsbereit und freundlich zeigten, später eingeräumt, daß sie sich sehr vor der Begegnung mit den Deutschen gefürchtet hatten. Und immer wieder sei es in den Unterhaltungen um diese eine Frage gegangen: »Wie konnte es geschehen, daß ein Volk, das Musik liebt, das ein so inniges Verhältnis zu Tieren hat, ein so fleißiges, tüchtiges und strebsames, ein so korrektes Volk, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte möglich machte oder es zumindest zugelassen hat.«

Die Beobachtungen dieses Mannes, der über den Eichmann-Prozeß berichtete, liegen mehr als drei Jahrzehnte zurück. Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen, in Israel wie in Deutschland. Nicht nur auf politischer Ebene haben sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern entscheidend verbessert, auch die Jugendlichen auf beiden Seiten haben zueinander ein entspannteres Verhältnis gewonnen, und das, ohne auch nur den geringsten Abstrich an den Verbrechen der NS-Zeit vorzunehmen. Hierin zeigt sich, glaube ich, der Erfolg der zahllosen deutsch-israelischen Jugendtreffen, aber auch der Einzel- und Gruppenreisen junger Leute von einem Land ins andere.

Natürlich muß man sich, auf beiden Seiten, vor Verallgemeinerungen hüten. Jenem Abiturienten aber, dessen Israel-Eindrücke sich nach eigenen Worten so auffallend von den Erfahrungen in anderen Ländern unterscheiden, konnte ich wenigstens einen, vielleicht den wichtigsten Grund dafür nennen. Es ist das Wissen um den Ernst der Probleme, der es jungen Israelis, aber auch vielen älteren nicht gestattet, oberflächlich darauf zu reagieren, etwa mit Beschimpfungen. Außerdem weiß man genau, daß das heutige Deutschland nichts mit dem Dritten Reich gemeinsam hat, trotz der laufend wiederkehrenden Ausschreitungen von Neonazis und der Berichte darüber in den israelischen Medien. Lichterketten und ähnliche Protestaktionen in Deutschland verfehlen auch in Israel nicht ihre Wirkung.

Auf eine Frage habe ich seit meiner Ankunft in Deutschland keine klare und erschöpfende Antwort erhalten. Mich interessiert schlicht, welche Rolle die NS-Zeit in den Lehrplänen, vor allem aber im täglichen Unterricht der Schulen spielt. Nachdem Themen aus der jüngeren deutschen Geschichte möglichst umgangen oder allenfalls beiläufig und am Rande behandelt wurden, setzte in den siebziger Jahren in den öffentlichen Schulen eine Neubesinnung ein. In den Jahren von 1980 bis 1985 war ein deutsch-israelischer Ausschuß tätig, der Fragen der Stoff- und Wissensvermittlung, soweit sie die Zeit nach 1933 betrafen, nachging und entsprechende Empfehlungen ausarbeitete.

Mangels ausreichender Informationen, wie Kinder an deutschen Schulen an die Jahre der Hitler-Diktatur herangeführt und mit deren Verbrechen bekanntgemacht werden – wahrscheinlich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, Unterschiede womöglich sogar von Stadt zu Stadt und von Schule zu Schule –, versuche ich selber, mir wenigstens ein ungefähres Bild zu verschaffen: Was wissen jüngere Leute, die am Anfang ihrer Ausbildung stehen oder sie gerade beendet haben, über die Nazi-Zeit? Woher haben sie ihr Wissen, hatten sie überhaupt Gelegenheit, ein politisches Bewußtsein zu entwickeln?

Solche mehr privaten Erkundungen, so zufällig und subjektiv sie sind, geben über den eigentlichen Anlaß hinaus oft interessante Aufschlüsse über die Denkweise und Mentalität der Deutschen oder doch wenigstens eines großen Teils von ihnen. Dabei kommen mir wieder die Sicherheitsbeamten zu Hilfe, die jungen Männer, die mich nun schon seit Jahren begleiten, zuverlässig, aufmerksam und gewissenhaft, nicht nur als Deutschlehrer.

Auf einer Fahrt durch Deutschland mit wechselnden Übernachtungsorten entdeckte ich im Fernsehprogramm einer Zeitung einen französischen Film aus den sechziger Jahren, »Die Überquerung des Rheins« mit Charles Aznavour in der Hauptrolle. Obwohl ich ihn schon kannte, beschloß ich, ihn mir abends im Hotel anzusehen. Da er im Zweiten Weltkrieg spielt und vom Schicksal zweier französischer Kriegsgefangener in Deutschland handelt, empfahl ich ihn auch meinen Begleitern, in der Annahme, sie würden darin ein Stück Vergangenheit ihres eigenen Landes wiedererkennen.

Es ist eine anrührende, nachdenkenswerte Geschichte, die der Film erzählt. Beide Gefangene, der eine ein Intellektueller, der andere aus einfachen Verhältnissen, sind in einem kleinen Dorf als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. Der eine, der Intellektuelle, hängt Fluchtgedanken nach und erfüllt sich eines Tages den Traum, in die Befreiungsarmee de Gaulles einzutreten. Der andere geht so pflichtbewußt der Arbeit nach, daß sich allmählich eine Art Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der deutschen Dorfgemeinschaft entwickelt, deren männlicher Teil sich, weil für den Kriegsdienst gebraucht, immer mehr reduziert. Mit gemischten Gefühlen tritt der im Dorf allgemein beliebte Mann nach der Befreiung durch seine Landsleute die Rückreise nach Frankreich an. Die Verhältnisse, die ihn dort erwarten, sind mehr als bescheiden. Immer öfter, immer sehnsüchtiger denkt er zurück an »sein« Dorf in Deutschland. Schließlich überquert er den Rhein, verzichtet freiwillig auf die Heimat und tauscht sie ein gegen den Ort seiner Gefangenschaft.

Als ich am nächsten Tag einen meiner Begleiter nach seiner Meinung zu dem Film fragte, den auch er in seinem Hotelzimmer gesehen hatte, zögerte der Dreißigjährige mit der Antwort. »So toll« habe er ihn nicht gefunden, ältere Leute würden ihm wahrscheinlich mehr Interesse abgewinnen. Die Art der Reaktion überraschte mich. Immerhin erschienen in diesem französischen Kriegsfilm die Deutschen in einem betont freundlichen Licht. Mußte ihnen das nicht gefallen? Bald darauf kamen wir auf den Film und seine Handlung zurück, und nun erfuhr ich Einzelheiten, die mich der Antwort auf meine Frage näherbrachten.

Er stamme selbst aus einem Dorf, sagte der junge Mann, aus einer ähnlich ländlichen Umgebung, wie sie der Film zeige. »Ich kenne Geschichten aus dem Krieg von meinen Eltern, die sie wiederum von ihren Eltern hörten. Deshalb weiß ich, daß der Film nicht die Wahrheit darstellt. Wie es bei den Franzosen aussah, kann ich nicht beurteilen, bei uns jedenfalls ging es anders zu, als der Film behauptet. Fremden, Franzosen gegenüber verhielt man sich nicht so entgegenkommend, schon gar nicht, wenn sie Kriegsgefangene waren.« Das gab zu denken, und so schloß ich die Frage an, die ich oft stelle: »Was haben Sie in der eigenen Schulzeit von den Nazis mitbekommen?«

»Wenig«, sagte er, »viel zu wenig.« »Und was heißt das: wenig?« »Na ja, man hat uns schon aufgeklärt, hat uns auch ein KZ besichtigen lassen und uns dort einen Tag mit dem Nazi-Terror konfrontiert. Aber das alles reichte bei weitem nicht, hätte ich nicht alleine weitergelesen und mich informiert, ich glaube, ich hätte das alles nicht verstehen können.« Ich fand die Antwort deshalb so erfreulich, weil sie die Richtigkeit einer Grundregel für den Umgang mit Schulkindern bestätigte: Es genügt, wenn man Ansatzpunkte schafft und Interessen weckt, den Antrieb, von selbst weiterzulernen. Mehr kann man als Lehrer, überhaupt als Erwachsener nicht tun.

Kinder werden für Erlebnisberichte aus der Nazi-Zeit um so aufgeschlossener, wenn sie erfahren, daß jüdische Mädchen und Jungen in ihrem Alter damals keineswegs weniger zu leiden hatten als ihre Eltern oder Großeltern. Oft war es gerade ihre Hilf- und Schutzlosigkeit, die das Leid verdoppelte.

Mit Wolfgang Thierse, dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, besichtigte ich eines Tages ohne besonderen Anlaß im Ostteil Berlins Thierses Heimatbezirk Prenzlauer Berg. Auf dem alten Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee, bekannt als Begräbnisplatz namhafter Kaufleute und Künstler, standen wir vor dem monumentalen Grabstein, der den Namen des Malers Max Liebermann trägt. Liebermann, 1933 von den Nazis als Präsident der Akademie der Künste abgesetzt, starb zwei Jahre später eines natürlichen Todes, allseits beliebt, geachtet und geehrt, und Thierse erzählte, mit welch bedrohlichem Argwohn die Nazis die Beisetzung verfolgten und genau registrierten, wer alles, Jude oder Nichtjude, dem berühmten Künstler die Ehre des letzten Geleits erwies. Etwa vierzig Freunde und Kollegen waren es, darunter Käthe Kollwitz und Ferdinand Sauerbruch, die sich nicht abschrecken ließen – jeder schon damals, 1935, Beispiel eines nicht ganz alltäglichen, risikobereiten Muts.

Thierse deutete auf einen anderen Grabstein, auffallend hell, fast weiß, verhältnismäßig klein und mit Blumen geschmückt. Vera Frankenberg, die hier ruht, ist nur vierzehn geworden – geboren 1931, gestorben im April 1945, kurz vor Kriegsende. Sie war, wie ich erfuhr, Halbjüdin, ihre Mutter haben die Nazis umgebracht. Der Vater durfte sie, da er Nichtjude war, behalten, bei Fliegeralarm aber mußte sie allein in der Wohnung bleiben, Halbjuden war der Zutritt zum Luftschutzkeller untersagt. So war bei den zahllosen Bombenangriffen auf Berlin der Tod des Mädchens fast programmiert. Als der Vater nach einem der letzten Angriffe den Keller verließ, war Vera Frankenberg, schutzlos und allein, von Trümmern erschlagen. Der Vater soll, sagte Wolfgang Thierse, noch am Leben sein. Noch immer von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen heimgesucht, pflegt er regelmäßig das Grab und den Stein.

Die Erinnerung an Bombennächte während der Kriegsjahre und die Spuren, die es davon in deutschen Städten noch heute gibt, haben nach meinem Eindruck nirgendwo eine so stark bewußtseinsprägende Kraft erlangt wie in Dresden. Als ich die Stadt zum erstenmal sah, wunderte ich mich zunächst über die Inschrift am Eingangstor des Zwingers. Sie spricht von anglo-amerikanischen Bomberverbänden, die am 13. Februar 1945 die Innenstadt und fast völlig auch den Zwinger zerstörten. Aber waren nicht auch andere deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg, manche noch später als Dresden, mehr oder weniger dem Boden gleichgemacht worden? Dunkel vermutete ich auch, daß für den Mythos der fast totalen Vernichtung, der sich mit dem Namen Dresdens verbindet, die DDR-Propaganda verantwortlich sei, teilweise zumindest. Der permanent wiederholte Hinweis auf die »Anglo-Amerikaner« und ihren »Bombenterror« sollte, dachte ich, nur vom Zerstörungswerk russischer Truppen gegen Kriegsende ablenken.

Dann aber erfuhr ich Näheres vom Oberbürgermeister der Stadt, Herbert Wagner. Er berichtete, 1945 habe kaum jemand noch mit Luftangriffen gerechnet, weil der Krieg fast zu Ende und Dresden ohne jeden militärischen Wert, dafür aber eine alte, traditionsreiche Kulturstadt war, voller Kunstschätze und weltberühmter Bauten. Die Frage blieb, warum die Alliierten trotzdem so überraschend und gründlich zuschlugen – auch die Memoiren von Churchill, Eisenhower und anderen gaben keine Antwort. Nur ein Bundeswehrgeneral gab mir eine einleuchtende Erklärung: Der Angriff sei eine Art Verzweiflungsschlag gewesen, ausgeführt zu einer Zeit, da der Krieg nach Vorstellung der Alliierten längst hätte beendet sein müssen. Die Hoffnungen und Pläne, die man an die Invasion in der Normandie im Juni 1944 knüpfte, hätten sich nur langsam, viel zu langsam erfüllt, und der Abwehrwille der deutschen Bevölkerung sei unterschätzt worden.

Wie auch immer, Dresdens Tragödie ist als solche nicht von allen Einwohnern erlebt worden. Sogenannte Halbjuden sowie Juden, die in Mischehen lebten, die letzten Verfolgten, derer man habhaft werden konnte, sollten, wie der Romanist Victor Klemperer berichtet, am 16. Februar zu einem »auswärtigen Arbeitseinsatz« transportiert werden, doch da gab es keine Gestapo-Dienststellen mehr, keine Karteikarten, keine Akten. Die Deportation, aus der es sonst wohl kein Entkommen gegeben hätte, war am Bombenhagel gescheitert.

Keinem der öffentlichen Gedenktage, die 1995 in Deutschland begangen wurden, habe ich mit so zwiespältigen Erwartungen entgegengesehen wie dem zum Untergang von Dresden. Nicht, daß ich um einen würdigen Verlauf fürchtete. Im Unterschied zu allen anderen Anlässen aber sollte hier noch einmal eines Ereignisses gedacht werden, das über allen noch sichtbaren Spuren ein Symbol ist für das Leid, das den Deutschen selber angetan wurde. Die Emotionen, die sich mit der Erinnerung an diesem Tag einstellen mußten – würden sie nicht eine zu große Belastung für den noch gefährlich dünnen Boden sein, auf dem sich bisher die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vollzog? Doch die Sorge erwies sich als unbegründet.

»Wer Wind sät, wird Sturm ernten.« Das Bibelwort zitierte der Kommentator der ARD-Tagesthemen am Vorabend der Feier, mit der die sächsische Landeshauptstadt ihrer Zerstörung vor fünfzig Jahren gedachte. Er nahm damit gleichsam den Tenor vorweg, der am nächsten Tag die offiziellen Gedenkreden bestimmte. »Wir wollen nicht vergessen, daß Dresden im Rahmen eines Krieges zerstört wurde, den eine deutsche Regierung vom Zaun gebrochen hatte«, sagte Bundespräsident Herzog. Er nutzte die Gedenkstunde für die Opfer der Dresdener Tragödie, um auch an die zu erinnern, »die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volke angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde«.

Damit war unüberhörbar ein Thema angesprochen, das in diesem Augenblick, aus diesem Anlaß und an diesem Ort vielleicht manchem mißfiel. Doch die Zusammenhänge, auf die Herzog verwies, blieben: Der Wind, den das Hitler-Regime gesät hatte, endete buchstäblich in den Feuerstürmen, die noch Tage nach dem Luftangriff durch das zerstörte Dresden tobten, ein Inferno, das mehr als den Untergang einer Stadt zu besiegeln schien.

Andererseits hätte es nicht überrascht, wenn sich im Gedenkjahr 1995, angesichts der Vielzahl von Veranstaltungen im Zeichen der Trauer um Millionen Kriegsopfer und Holocaust-Tote, in der Bevölkerung eine gewisse Ermüdung gezeigt hätte, Überdruß oder auch Kritik, ähnlich vielleicht der Stimmung, welche die junge Abiturientin meinte, als sie, bezogen auf die Feierstunden, von Übertreibung sprach. War der Rückblick der Deutschen auf den Krieg, den sie entfesselt und vor fünfzig Jahren verloren hatten, wirklich so ungeteilt, wie es den Anschein hatte?

Eine Unterhaltung mit »Spiegel«-Redakteuren in Hamburg überzeugte mich. Man habe die Reaktion der Deutschen auf Medienveröffentlichungen zum Zweiten Weltkrieg vorher nicht ohne weiteres einschätzen können, hieß es. Trotzdem beschloß die Redaktion, im Januar 1995 eine Ausgabe des Magazins dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu widmen, mit dem berüchtigten Lagertor als Titelbild. Es wurde zur Überraschung vieler im Haus und entgegen aller skeptischen Erwartungen das meistverkaufte Heft. Der Erfolg war deshalb so bemerkenswert, weil nur etwa zehn Prozent jeder Ausgabe an Abonnenten gelangen, neunzig Prozent werden in Geschäften und Kiosken verkauft.

Ähnlich äußerten sich, wenn ich mit ihnen zusammenkam, Vertreter anderer Medien. Alle versicherten, jenseits moralischer Verpflichtungen und losgelöst von kommerziellen Interessen der Sender und Verlage habe in der deutschen Öffentlichkeit ein ungewöhnlich starkes Bedürfnis nach gründlicher und umfassender Information über den Krieg und das Ende des Nazi-Reichs vorgelegen. Solche Auskünfte, so erfreulich sie mit anderen übereinstimmen, sind für einen erst seit wenigen Jahren hier lebenden ausländischen Beobachter natürlich zu allgemein, um von der Einstellung der Deutschen zu ihrer Vergangenheit ein genaueres Bild zu erhalten. Die öffentliche Meinung ändert sich, Erkenntnisse, die vor Monaten oder Wochen als gesichert galten, altern rasch, sind bald überholt. Regelmäßige, in Abständen durchgeführte Umfragen gehen solchen Entwicklungen nach, halten ihren jeweiligen Stand wie mit einer Stoppuhr fest und lassen meist auch Rückschlüsse auf ihre Ursachen zu.

Interessant waren schon die Ergebnisse von Umfragen, die 1994 vor dem Hintergrund der Ein- beziehungsweise Ausladung Deutschlands zu den Feierlichkeiten anläßlich des fünfzigsten Jahrestags der Invasion in der Normandie veröffentlicht wurden. Sie decken sich im wesentlichen mit Resultaten, die im darauffolgenden Jahr die Reaktion der Deutschen auf die Kriegsschuldfrage und die Niederlage ihres Landes 1945 festhielten: 56 Prozent aller Befragten sahen die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausschließlich bei Deutschland, das den Krieg gewollt habe; 64 Prozent hielten die Niederlage für gut und gerecht. Nur dreizehn Prozent waren gegenteiliger Auffassung. Auffallend war, daß die Niederlage von der jüngeren Generation noch von einem weit höheren Prozentsatz als positiv empfunden wird, nämlich von 72 Prozent. Und 67 Prozent beantworteten die Frage, ob sie in Deutschland leben wollten, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, klar mit »nein«.

Nicht weniger aufschlußreich sind die Meinungen zur Gefahr des heutigen Rechtsradikalismus. Die Mehrheit, 53 Prozent, bejahte die Frage, ob die Neonazis das gleiche beabsichtigten wie einmal Hitlers Nationalsozialisten, nur sechzehn Prozent verneinten sie. Damit in Zusammenhang steht, ob sich der Nationalsozialismus in Deutschland wiederholen könne. Mehr als die Hälfte, 54 Prozent, verneinte die Frage, während es immerhin 42 Prozent sind, die ein Wiederaufleben der Nazi-Ideologie in Deutschland für nicht ausgeschlossen halten.

1945 – für die Deutschen das Jahr der Niederlage oder der Befreiung? Als vierzig Jahre danach der damalige Bundespräsident das Schicksalsjahr klar als Jahr der Befreiung definierte, war diese Formel noch ziemlich umstritten. Auch in den Jahren darauf hielt die Diskussion an. Vielleicht war man sich dessen in Deutschland nicht so bewußt, die Weltöffentlichkeit aber, auch Israel, hat aufmerksam den Verlauf des Meinungsstreits, soweit er öffentlich ausgetragen wurde und sich in Umfrageergebnissen spiegelte, verfolgt. Von Anfang an wich in den Antworten auch zu dieser Frage die Meinung der jungen Generation deutlich von der Einstellung des älteren Bevölkerungsteils ab. Heute sind es 69 Prozent aller Ost- und Westdeutschen, die 1945 als Jahr der Befreiung ansehen, nur dreizehn Prozent begreifen es als Jahr der Niederlage. Von den nach 1940 Geborenen ist es nur jeder zehnte, während 74 Prozent das Jahr des Kriegsendes ohne Vorbehalt als Befreiungsjahr empfinden.

Zwei Punkte in den Ergebnissen dieser Umfrage scheinen besonders interessant. So fällt zunächst auf, daß in den neuen Bundesländern, im Unterschied zu den alten, mehr Bürger zu der Auffassung neigen, Deutschland habe 1945 keine Befreiung, sondern eine Niederlage erlebt. Dabei hat gerade die DDR-Propaganda, mit dem Blick auf die Sowjetunion, mit großem Nachdruck stets die Befreiungstheorie verbreitet; der Jahrestag der deutschen Kapitulation galt offiziell als »Tag der Befreiung« und wurde entsprechend gefeiert. Zum anderen geht aus der Umfrage hervor, daß sich die Anhänger der Republikaner überraschenderweise zu etwa gleichen Teilen ebenso zum Jahr 1945 als Jahr der Niederlage wie als Jahr der Befreiung bekennen. An die zweite Hälfte wäre die Frage zu richten, weshalb sie dann ausgerechnet mit dieser Partei sympathisiert.

Natürlich sieht man nicht überall im Ausland in Umfrageergebnissen, die sich auf die Haltung der Deutschen gegenüber ihrer Vergangenheit beziehen, Beweise eines tatsächlichen Wandels. So wird den Deutschen nachgesagt, sie würden nur aus zynischem Interesse ihre Niederlage als Befreiung definieren, um sich von Schuldgefühlen zu befreien. Das aber würde auf eine Opferrolle der Deutschen hinauslaufen und auf eine unzulässige Gleichstellung mit anderen europäischen Völkern, die wirkliche Opfer waren. Ich sehe das, auch nach Gesprächen, die ich hatte, nicht so. Ein älterer Herr versicherte mir – es klang glaubhaft –, für ihn sei das Jahr 1945 lange eine »Tragödie« gewesen; erst spät habe er begriffen, daß das Kriegsende nicht nur den besetzten europäischen Ländern, sondern auch Deutschland und den Deutschen Befreiung und Erlösung brachte. Welche Gründe es auch dafür geben mag, daß die Mehrheit der Deutschen den Zusammenbruch des Dritten Reiches als Befreiung wertet, es bedeutet auf jeden Fall, daß sie, um es eher untertrieben zu formulieren, die NS-Zeit negativ einschätzen, und dies allein scheint wichtig für die Zukunft.

Während meiner Pariser Zeit lernte ich über Claus von Amsberg, der mit ihm seit den Nachkriegsjahren befreundet ist, einen deutschen Auslandskorrespondenten kennen, August Graf von Kageneck. »Gusti«, wie er genannt wird, ist mit einer Französin verheiratet, die ihren ersten Mann im Algerienkrieg verlor; Kageneck hat ihre Kinder adoptiert. Ganz bewußt versuchte er, den ihm in der Jugend eingeprägten Nationalsozialismus zu überwinden und sich, vor allem auf persönlicher Ebene, mit dem einstigen »Erzfeind« Frankreich zu befreunden. Als ich ihn das erste Mal sah, deutete nichts auf irgendwelche Nazi-Sympathien hin. Wir sprachen auch nicht über solche Dinge, weil ich mich dazu noch nicht in der Lage fühlte.

Eines Tages schickte er mir ein gerade von ihm veröffentlichtes Buch. Unter dem Titel »Lieutenant sous la Tète de Mort« – 1994 unter einem anderen Titel neu verlegt – schildert es seine Kriegserlebnisse als Panzeroffizier – eine Hymne auf glorreiche Zeiten eines jungen, stolzen und tapferen Soldaten, der den Krieg – frisch, fröhlich, frei – wie ein harmloses Räuber- und Gendarmspiel mitmacht. Versuche, den Nationalsozialismus zu rechtfertigen, waren aber nicht zu entdecken. Ich sah das Buch nur oberflächlich durch, allerdings mit unguten Gefühlen, und hatte hinterher meine Schwierigkeiten, die Freundschaft zu einem Mann fortzusetzen, einem ehemaligen Hitler-Offizier, der nach so langer Zeit seinem Kriegsdienst noch positive Seiten abgewann.

Kageneck war mit seiner Frau von Paris nach Bonn übergesiedelt, als ich ihn dort wiedertraf, mehr als zwanzig Jahre nach unserer ersten Begegnung. Diesmal hatten weder er noch ich Schwierigkeiten, über die Vergangenheit zu reden. Er betätigte sich noch als Journalist, lebte ansonsten aber im Ruhestand. Offensichtlich hatte er Zeit gehabt, sich mit den Verbrechen des Dritten Reiches eingehender zu beschäftigen. So erklärte er, er könne die Revisionisten, die den Holocaust leugnen und die »Auschwitzlüge« verbreiten, schon lange nicht mehr unterstützen, bereits in den siebziger Jahren habe er von einem Historiker, welcher der Waffen-SS angehört hatte, also von authentischer Seite, die Tatsache der Vergasung von Juden bestätigt bekommen. Es war etwas peinlich zu hören, daß er so lange gebraucht, daß es erst eines Zeugen, der den Tätern nahestand, bedurft hat, um ein geschichtliches Faktum zu akzeptieren.

Inzwischen sind die Kagenecks zurück in ihrem geliebten Paris. 1996 sandte mir »Gusti« sein neuestes Buch, wieder
in Französisch, »Examen de Conscience« (Gewissenserforschung), dessen Untertitel sinngemäß etwa lautet: »Wir waren besiegt, hielten uns aber für schuldlos.« Anders als das erste las ich es sorgfältig und nicht ohne Anteilnahme. Noch immer ist darin etwas vom Stolz des jungen Offiziers zu spüren, zugleich aber werden dessen innere Konflikte deutlich. Augenzeugen berichten ihm über die Ermordung von Juden, von der Ausrottung ganzer Bevölkerungsteile einer Stadt, die er zwei Tage vorher erobern half. Er befaßt sich mit der Rolle der Aristokratie, der er entstammt, der Rolle des Offizierskorps und des Großbürgertums bei der Machtergreifung Hitlers, und er geht auch der Frage nach, welchen Anteil die Wehrmacht an den furchtbaren Verbrechen im Zuge des »Vernichtungskriegs«
hat.

Nicht jeder wird die letztlich auf Versöhnung gerichtete Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Opfern nachvollziehen können, die aus dem Buch spricht. Nur zu gut läßt sich vorstellen, daß vor allem Nazi-Verfolgte Kagenecks »Gewissenserforschung« als blauäugig oder unglaubwürdig, wenn nicht als Heuchelei abtun. Andererseits: Wer oder welche Umstände zwangen den Autor zu dieser öffentlichen Abrechnung mit sich selbst? Gegenüber den Gleichgültigen und Reuelosen ist mir jedenfalls ein Mann lieber, der, nachdem er es in jungen Jahren noch nicht vermochte oder wollte, die Auseinandersetzung mit der problematischen Vergangenheit erst im späteren Leben vornimmt. Insofern läßt mich auch die neue, einsichtige Sensibilität des Grafen von Kageneck leichter begreifen, weshalb auch die ältere Generation der Deutschen das Jahr 1945 erst heute mehr als Jahr der Befreiung versteht.

Es ist, ohne jeden Zweifel, ein Verständnis, das auch auf die Nachkommenden wirkt.

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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin


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