Zum
50.Geburtstag des Staates Israel freuen wir uns, Ihnen die
online-Veröffentlichung des Buches ''...mit
Ausnahme Deutschlands'' von Avi Primor,
Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland, ankündigen
zu können. Dieser, bislang in Deutschland einmalige Service, wurde
ermöglicht durch eine innovative und großzügige Geste des
Ullstein Verlags, Berlin. Vielen Dank an Michaela Beck
Überblick über die jüdische und israelische Geschichte
Die Geschichte unseres Volkes
lernen wir zunächst aus der Bibel. Die Bibel wird in allen Schulen in Israel
behandelt, auch in säkulären Schulen, wo sie vor allem als Geschichtsbuch
unseres Volkes betrachtet wird. Die Bibel erzählt uns die Geschichte
Abrahams, des Stammvaters des Volkes und in gewissem Maße auch des Staates,
der Wanderung nach Ägypten und der Rückkehr unter Moses in das Gelobte Land.
Sie berichtet von der Gründung eines Staates, zunächst als einer sehr
lockeren Föderation, etwa wie das Heilige Römische Reich, in dem jeder Stamm
fast immer unabhängig war, bis zur allmählichen Gründung eines
zentralisierten Königreichs, dessen erster König Saul war, der zweite der
große, glorreiche Eroberer David und der dritte, ebenso glorreich, aber in
einem pazifistischen Sinne, dessen Sohn Salomon, der Erbauer des Reiches.
All dies geschah im Laufe des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung,
also vor knapp 4000 Jahren.
Später, im ersten
Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, hat sich das Königreich in zwei Teile
gespalten, wegen der Verschiedenheiten zwischen den Stämmen, die trotz der
Zentralisierung des Reichs nicht völlig verschwunden waren. Es entstanden
zwei Königreiche, eines im Norden des Landes, das sich weiterhin Israel
nannte, das zweite im Süden, das sich Judäa nannte und das bedeutendere der
beiden Länder war, unter anderem auch deshalb, weil sich die Hauptstadt des
ehemaligen vereinten Königreichs Jerusalem dort befand. Im Laufe der Zeit
wurde das nördliche Königreich Israel mit der Hauptstadt Samaria von
Invasoren zerstört, und am Ende des Jahrtausends blieb, wenn auch mit
Unterbrechungen, allein das Königreich Judäa übrig, in dem übrigens auch
viele Flüchtlinge aus dem zerstörten Königreich Israel Asyl gefunden hatten.
Das Königreich Judäa
erhielt seinen Namen von dem wichtigsten Stamm des Reichs, dem Stamm Juda.
Um sich von seinem Bruderstaat abzugrenzen, nannten sich seine Bürger Judäer
oder Juden. Nach dem Verschwinden des Königreichs Israel gab es politisch
nur noch Juden. Als wir 1948 unsere Unabhängigkeit wieder erlangt hatten,
nannten wir unseren Staat Israel und nicht Judäa. Wir wollten damit betonen,
daß es die Spaltung unseres Volkes, die vor 2700 Jahren durch die Zerstörung
des Königreichs Israel beendet worden war, nie wieder geben sollte, und
deshalb bevorzugten wir den Namen Israel, der der ursprüngliche gemeinsame
Name war.
Heute heißen die
Staatsbürger des Staates Israel Israelis, während die Juden, die im Ausland,
oder wie wir sagen, in der Galluth (Diaspora) geblieben sind, sich weiterhin
Juden nennen. Deshalb ist der Begriff »Israel« ein politischer Begriff
geworden, die Bezeichnung eines Staates, einer Staatsbürgerschaft, während
der Begriff »Juden« eher die Bezeichnung einer religiösen oder kulturellen
Gemeinschaft geblieben sind.
Die Geschichte des
Königreichs Judäa endet im Jahre 70 unserer Zeitrechnung, das heißt, vor
rund zweitausend Jahren. In dem Königreich, das von den Römern erobert
worden war, begann im Jahre 65 ein Aufstand gegen Rom. Eine Zeitlang waren
die Juden militärisch erfolgreich, aber allmählich unterwarf die gigantische
Weltmacht Rom das Land und verwüstete es zum größten Teil. Die Hauptstadt
Jerusalem wehrte sich jedoch erbittert und wurde drei Jahre lang
eingekesselt und belagert, bis es den Römern in ihrer Wut über diesen für
sie so schmerzhaften Widerstand im Jahre 70 gelang, die Stadt völlig zu
zerstören. Die Juden wurden aus Jerusalem vertrieben, und um jede Erinnerung
an die Stadt auszulöschen, gingen die Römer sogar so weit, den Namen
»Jerusalem« durch »Aelia Capitolina« zu ersetzen. Aelia Capitolina kennt
heute niemand mehr, aber »Jerusalem« verschwand nicht aus der Geschichte.
Auch dem Land gaben die Römer einen neuen Namen, sie nannten es »Palästina«
nach dem griechischen Stamm, der tausend Jahre vorher in einem kleinen Teil
des Landes, ungefähr im heutigen Gaza, gelebt hatte, der aber damals schon
längst verschwunden war. Diese Umbenennung war erfolgreicher als jene zur
Aelia Capitolina.
Der »Große Aufstand«, wie
er in unserer Geschichte genannt wird, hatte noch eine berühmte Fortsetzung
in der Wüstenfestung Masada. Dort verschanzten sich die Kämpfer, die aus
Jerusalem entkommen waren , mit ihren Familien noch drei Jahre lang. Als
ihnen klargeworden war, daß der Kampf endgültig aussichtslos war, begingen
alle, Kämpfer, Frauen und Kinder, insgesamt zweitausend Menschen,
Selbstmord, um nicht in die Hände der Belagerer zu fallen. Dies wurde für
uns zu einem historischen Symbol, das uns bis heute tief bewegt. Trotzdem
ist es nicht unumstritten. Es war ohne Zweifel ein heroischer Kampf, es war
auch heldenhaft, eher zu sterben als von den Römern als Sklaven verkauft zu
werden, aber es ist umstritten, ob man diesen hoffnungslosen Kampf nach
einem verlorenen Krieg überhaupt hätte aufnehmen sollen. Die Niederlage und
Zerstörung des Landes wurden von massiven Vertreibungen begleitet, und die
Besiegten wurden im Römischen Reich verstreut.
Während das Land
allmählich zur Wüste wurde, begann das Volk in seiner großen Mehrheit eine
neue Existenz in den verstreuten Gemeinden im Ausland. Rom war nicht nur
eine Weltmacht, sondern auch die Besatzungsmacht des größten Teiles der
damals bekannten Welt. Völkervertreibung, Völkerwanderung, waren im
Römischen Reich üblich. Normalerweise haben sich die vertriebenen Völker in
ihre neue Heimat integriert und sind als nationale Einheit, als kulturelle
Identität durch Integration allmählich verschwunden.
Die Juden waren und sind
in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Als Nation, als politische Einheit haben
sie damals ihre Existenz verloren, aber sie hielten an ihrer Kultur und
Religion fest, und sind deshalb eine eigenständige Gemeinschaft innerhalb
des Volkes, in dem sie lebten, geblieben. In dieser Epoche, in der die Juden
aus ihrem Land vertrieben wurden, beteten die Völker überwiegend Götzen an.
Es gibt keinen Zweifel daran, daß man keine Brücken schlagen konnte zwischen
Gottesdienst und Götzendienst. Aber gerade zu der Zeit begann sich eine neue
Religion zu entwickeln, das Christentum. Das Christentum ist eine Abzweigung
des Judentums. Jesus war natürlich Jude, im Lande Israel, im Königreich
Judäa geboren, und ebenso waren es seine Anhänger, die zukünftigen Apostel.
Die Menschen, die er überzeugen wollte, waren Juden, die er kannte, das
Volk, in dem er lebte.
Für uns war das
Christentum eine neue Entwicklung der Religion im Sinne einer Reform. Die
Juden haben Jesus zu seiner Zeit als Religionsreformator betrachtet und
haben deshalb ihm gegenüber eine Haltung eingenommen, die der des Heiligen
Stuhl glich zu der Zeit, da Luther seine Reformen verkündete. Eine Reform in
der Religion ist stets problematisch. Reformatoren haben ihre Reformen immer
nur dann vorgeschlagen, wenn die Grundlage dafür reif und der Boden
fruchtbar war. Das bedeutet jedoch nicht, daß alle dem Reformator folgen. Es
gibt Menschen, die dies tun, und andere, die in seiner Tätigkeit eher ein
Sakrileg sehen, sich an ihre ursprüngliche Religion halten und ihn mit allen
Mitteln bekämpfen, wie man einen Verräter bekämpft. Ich denke da an Martin
Luther, an Calvin usw.
Es entstand eine
Rivalität zwischen der ursprünglichen Religion, die sich an das Alte
Testament hielt, und dem Christentum, das zwar das Alte Testament nicht
ablehnte, aber das Neue Testament zur Grundlage seiner Religion gemacht
hatte. Die Juden hielten sich an das Alte Testament und wollten das Neue
nicht anerkennen. Das Neue, das war die Reform.
So lange sich diese
Diskussion auf Israel beschränkte, sah es eher wie ein Kulturkampf innerhalb
eines Volkes aus. Aber als das Christentum das ganze Römische Reich eroberte
und nur auf einen Widerstand stieß, nämlich den der mittlerweile überall im
Römischen Reich entstandenen jüdischen Gemeinden, entwickelte sich der
Kulturkampf zu einem sogenannten Rassenkampf. Es liegt in der menschlichen
Natur, Menschen, die anders sind, die nicht mit dem Strom schwimmen, nicht
zu dulden. Sobald das Christentum für alle Völker im Römischen Reich und
später auch anderswo uniform geworden war, gab es keine Duldung mehr für
Gemeinden, die, auf einer anderen Religion, auf anderen Sitten, auf anderen
Lebensgewohnheiten, beharrten. Verschiedenheit löst Verdacht aus, Verdacht
löst Angst aus, Angst löst Haß aus. Und so entstand der Antisemitismus, das
heißt, der Widerstand gegen die Semiten, die Menschen, die aus dem Nahen
Osten kamen. In diesem Zusammenhang sollte man erwähnen, daß es ein
Widerspruch ist, wenn man vom arabischen Antisemitismus spricht, da die
Araber selbst Semiten sind. Man sollte eigentlich Antijudaismus sagen, aber
irgendwie entstand der Begriff »Antisemitismus«, weil man damals die Araber
noch nicht kannte. Der Antisemitismus wurde sehr oft von der Kirche
geschürt, denn die Kirche hatte doch den Ehrgeiz, alle Menschen zum
Christentum zu bekehren. Die beharrliche Ablehnung der Juden hat dazu
geführt, daß man immer stärkere Argumente in der Diskussion brauchte. Daher
kam es unter anderem auch dazu, daß man die Juden der Erbsünde beschuldigte,
obwohl es die Römer waren, die Jesus als Rebellen gekreuzigt haben. Seine
Verurteilung erfolgte durch ein römisches Gericht, den römischen Gesetzen
entsprechend.
Nun mußten die Juden in
jeder Generation die Schuld an diesem Mord tragen. Jedes jüdische Kind trug
schon von Geburt an das Kainszeichen.
Mit der Zeit stärkte sich
der Druck auf die Juden und nahm verschiedene Formen an. Ab und zu wurden
sie aus Städten vertrieben, ab und zu ermordet, ihre Bürgerrechte wurden
eingeschränkt, sie mußten besondere Kleidung tragen, um identifiziert werden
zu können, merkwürdige Hüte, oder, ja, das gab es schon im Mittelalter, den
gelben Judenstern tragen. Wenn sie nicht aus den Städten vertrieben wurden,
mußten sie in gekennzeichneten und abgeschlossenen Vierteln ausschließlich
für sich leben. Diese Viertel waren unter der Bezeichnung »Ghetto« bekannt.
Einschneidend war besonders die Beschränkung ihrer beruflichen Rechte. Juden
durften immer weniger Berufe ausüben; zuerst wurde ihnen die Landwirtschaft
verboten, dann fast jedes Handwerk, sie durften nur den damals sehr
anrüchigen Beruf des Händlers ausüben, später wurde auch das verboten, und
Juden hatten manchmal keinen anderen Beruf als Geld zu verleihen, das kann
man, wenn man freundlich ist, als Bankier bezeichnen, und wenn man weniger
großzügig ist, Wucherer nennen. Das alles hat natürlich den Teufelskreis von
Mißverständnis, Verdacht, Angst und schließlich Haß verstärkt und vertieft.
Mit der Französischen
Revolution begann in Europa eine neue Ära. Ein neuer Begriff wurde geprägt,
die »Menschenrechte«, und bei den Franzosen waren Menschenrechte wirklich
für alle gemeint, in Frankreich zuerst für die Protestanten und schließlich
auch für die Juden. Napoleon hat das Prinzip der Menschenrechte in ganz
Europa verbreitet, gelegentlich erzwungen. Nach der napoleonischen Ära
konnte das Prinzip der Menschenrechte schon nicht mehr völlig abgeschafft
werden und brach sich überall in Mitteleuropa und im Westen Bahn. Die Juden
hatten endlich ihre sogenannte Emanzipation erhalten, konnten
Gleichberechtigung und Staatsbürgerschaft erlangen, waren darüber sehr
glücklich und dachten, daß sie damit ihre Erlösung gefunden hatten. So
herrschte große Freude, als Napoleon sie zwangsweise zum Militärdienst
einzog. Das war das Symbol der Gleichberechtigung: gleiche Rechte und
gleiche Pflichten. Übrigens waren auch in Deutschland die Juden während und
nach dem Ersten Weltkrieg besonders stolz darauf, daß sie an der Front
verhältnismäßig mehr Gefallene zu beklagen hatten als der Durchschnitt der
allgemeinen deutschen Bevölkerung und auch mehr Eiserne Kreuze bekommen
haben.
Im Laufe des 19.
Jahrhunderts sah es so aus, als wäre die Emanzipation der Juden unumkehrbar
geworden. Aber obwohl die Religion an Bedeutung allmählich verloren hatte
und man zur gleichen Zeit auch toleranter wurde, haben sich in anderen
Kreisen und aus anderen Gründen neue Vorbehalte und Vorurteile gegen die
Juden entwickelt. Das hat mit psychologischen Gründen zu tun, die ihre
Wurzeln im Mittelalter haben.
Im Jahre 1893 brach in
Frankreich die Dreyfus-Affäre aus. Dreyfus war ein jüdischer Offizier im
französischen Generalstab, der der Spionage zugunsten Deutschlands
beschuldigt wurde. Damals wußte man noch nicht, was erst später endgültig
bewiesen wurde - daß Dreyfus unschuldig und der Spion ein anderer Offizier
war, ein gewisser Major Esterhazy ungarischer Abstammung. Der Zorn eines
großen Teils der Bevölkerung richtete sich nicht nur gegen den Menschen
Dreyfus, sondern gegen die Juden im allgemeinen, die alle als Verräter
beschuldigt wurden. Die schrecklichen antijüdischen Szenen, die sich in
Paris abspielten, hat ein bekannter österreichischer Journalist beobachtet
und verfolgt. Theodor Herzl war Korrespondent der größten österreichischen
Zeitung »Die Presse«, selbst ein Jude, aus einer vollkommen assimilierten
Familie, die wie so viele Juden im Westen durch die Emanzipation ihr
jüdisches Bewußtsein und ihre jüdischen Wurzeln verloren hatte. Jetzt steht
der Mann, der assimilierte, moderne westliche Jude im Lande der
Emanzipation, im Lande der Revolution, die den Menschen Gleichberechtigung
gebracht hatte, im Hof des Invalidendoms am Grab Napoleons, des Mannes, der
die Emanzipation in ganz Europa bekannt gemacht hatte. Er beobachtet, wie
Dreyfus öffentlich entehrt wird und wie der Mob antisemitische Parolen
brüllt. Das hat er sein Leben lang nicht überwunden. Wie konnte das Volk der
Revolution und der Emanzipation hundert Jahre später noch so oder wieder so
antisemitisch sein, nach so vielen Jahren erfolgreicher Integration der
Juden? Wenn das so ist, dann gibt es für die Juden wirklich keine Hoffnung
in Europa mehr. Die einzige Hoffnung für die Juden kann nur die auf einen
eigenen Staat sein. Nur dann, wenn die Juden, so wie die europäischen
Völker, einen eigenen nationalen Staat errichten, werden sie endgültig ihre
Würde wiederfinden.
Herzl gründete eine neue,
die zionistische Bewegung. Zion ist der hebräische Name der Stadt Jerusalem
und im Volksmund einer des ganzen Landes. Zionismus bedeutete für Theodor
Herzl die Rückkehr nach Zion, nach Israel, nach Palästina, zum
ursprünglichen Vaterland. Nicht alle Juden waren sofort von seiner Idee
begeistert. Es gab Juden, die noch bis zur Nazizeit weiterhin an die
Emanzipation, die Integration und die Gleichberechtigung glauben wollten,
andere dachten Anfang des Jahrhunderts, daß vielleicht der Kommunismus eine
Antwort auf ihre Probleme sein könnte, da er utopischerweise die vollkommene
Gleichheit aller Menschen verkündet hatte. Die meisten hatten jedoch für
Herzls Theorien große Sympathie. Aber nur eine Minderheit von ihnen war
bereit, ihre komfortablen Häuser, ihre Positionen und Gewohnheiten
aufzugeben, um ein neues Leben in einem Wüsten- und Sumpfland zu beginnen.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben jedoch immer mehr Juden unter großen
politischen und materiellen Schwierigkeiten diesen Schritt gewagt. Als die
Engländer das Land am Ende des Ersten Weltkriegs von den Türken erobert
hatten, bescherten sie den Juden die Anerkennung Palästinas als jüdisches
Heimatland.
Hier möchte ich noch ein
Detail erwähnen, das die Entwicklung des Zionismus beleuchtet. Herzl
verstand seine zionistische Bewegung und seine Ideale als etwas
Pragmatisches. Unter anderem schlug er für den zukünftigen, unabhängigen
Staat die deutsche Sprache als Nationalsprache vor, weil die meisten Juden,
zu denen er Kontakt hatte, nämlich die Juden aus West- und Osteuropa, aus
Nord- und Südeuropa, entweder deutschsprachig waren oder zumindest eine
Verbindung zur deutschen Sprache hatten durch die jiddische Sprache, die
ursprünglich ein mittelalterlicher deutscher Dialekt war. Er meinte, Deutsch
wäre deshalb die Sprache, die am schnellsten und leichtesten die gemeinsame
Sprache der Juden werden könnte. Es wäre natürlich auch eine praktische
Sprache, da es schon eine Weltsprache und eine moderne Sprache der
entwickelten Welt sei. Insofern hat sich Herzl eher als Technokrat denn als
Politiker und Sozialwissenschaftler erwiesen. Die Menschen brauchen aber
mehr als pragmatische Gründe, um eine Revolution zu veranlassen, und was
Herzl von den Juden verlangte, war tatsächlich revolutionär. Eine Bewegung
wie die zionistische Bewegung braucht auch historische, kulturelle und
emotionale Motivationen, um Menschen zu bewegen. Religion spielte zu diesem
Zeitpunkt in der zionistischen Bewegung fast keine Rolle, Herzl selbst, wie
schon gesagt, hatte keine Bindung an die jüdische Religion. Unentbehrlich
war eine gemeinsame Sprache. Die ursprüngliche historische jüdische Sprache
Zions war die Sprache der Bibel, die aber seit zweitausend Jahren nur noch
zum Beten diente. Sie in den Alltag zu bringen und durch ihre Modernisierung
die Grundlage für eine verbindliche neue Kultur in einem neuen Land für ein
erneuertes Volk zu schaffen, war das Verdienst von Herzls Anhängern und
Nachfolgern. Daß heute ein Staat, ein Land, ein Volk als seine
Nationalsprache Hebräisch hat, war bestimmt eine der unerläßlichen
Voraussetzungen, den Staat Israel zu zementieren.
Am Ende des Ersten
Weltkriegs befanden sich nach britischen Statistiken etwa 100.000 Juden und
etwa 250.000 Araber in Palästina. In der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen hat sich die jüdische Bevölkerung durch Einwanderung
hauptsächlich aus Europa versechsfacht. Die Einwanderung nach Palästina war
jedoch nicht auf Juden beschränkt. Die Juden, die nach Palästina gekommen
sind, haben sich der Entwicklung des Landes, der Urbarmachung der Wüste und
der Sümpfe gewidmet. Durch ihre Anstrengungen wurden neue
Arbeitsmöglichkeiten im Lande geschaffen, und dies zog auch Arbeitslose aus
arabischen Ländern nach Palästina.
Die Entstehung zweier
Gemeinschaften im selben Land konnte nicht langfristig reibungslos bleiben.
Reibungslos konnte auch nicht die Beziehung zu der Besatzungsmacht England
bleiben. Es hat nicht lange gedauert, bis beide Völker ihre Unabhängigkeit
forderten und jedes Volk seinen ausschließlichen Anspruch auf das Land
erhob.
Die Machtergreifung der
Nazis in Deutschland hatte die Forderung der Juden nach Unabhängigkeit
besonders dringlich gemacht. Nun waren es deutsche Juden und kurz danach
Juden aus ganz Europa, die dringend Asyl brauchten. Kein Land in der Welt
wollte die aus Nazideutschland entkommenen Juden aufnehmen, auch nicht ihr
eigenes Land, das von den Briten besetzt und den Juden ab 1939 plötzlich
verboten war. Unter dem Druck der arabischen Länder hatten die Engländer die
arabische Bevölkerung Palästinas bevorzugt, und um ihnen die Mehrheit im
Lande zu sichern, schlossen sie die jüdische Einwanderung aus. Wäre es nicht
im Zweiten Weltkrieg gewesen, in dem alle Kräfte der Bekämpfung der Nazis
gewidmet sein mußten, hätten die Juden schon damals Widerstand gegen England
geleistet. Er wurde jedoch nur zeitweilig verschoben. Am Ende des Krieges
versuchten die Flüchtlinge aus den Konzentrationslagern, die nach wie vor
kein Asylland finden konnten, nach Palästina zu kommen. Damals wurden
Ereignisse wie die Geschichte des Schiffes EXODUS in der ganzen Welt
bekannt. Das waren kleine, alte und verrostete Schiffe, überfüllt mit
Flüchtlingen aus den Konzentrationslagern, die versuchten, eine sogenannte
illegale Einwanderung nach Palästina zu erzwingen. Die Engländer reagierten
meist mit Gewalt. Dies gab dem Aufstand der Juden einen großen Ansporn. Der
Kampf zwischen den Juden und den Engländern fand schließlich 1947 ein Ende
vor den Vereinten Nationen, als die Vollversammlung beschloß, das britische
Mandat in Palästina zu beenden und das Land aufzuteilen. Ein Teil wurde den
arabischen Palästinensern als Heimat angeboten, der andere Teil den Juden.
Die Juden haben im Lauf
von 2.700 Jahren den Glauben lebendig erhalten, daß das ganze Land ihnen
gehöre, daß das ganze Land ihre ursprüngliche biblische Heimat sei. Darüber
hinaus bestanden die Teile, die im UNO-Teilungsplan den arabischen
Palästinensern zugesprochen wurden, aus dem Kernland des biblischen
jüdischen Königreiches. Die Mehrheit der Juden war jedoch bereit, darauf zu
verzichten, zwar mit Bedauern, aber doch bereit, zu verzichten, weil es ihr
Ziel, ihr dringendes Hauptziel war, den Juden eine Heimat zu schaffen. Die
Grenzen, die Ausweitung, das Territorium der Heimat war von geringerer
Bedeutung als die Tatsache, endlich irgendein Stück Land zu haben, in dem
Juden in Würde leben und jüdische Flüchtlinge, die kein Asyl fanden,
aufnehmen konnten.
Die arabischen
Palästinenser wie auch die arabischen Staaten im Nahen Osten hatten damals
andere Prioritäten. Die Frage, eine Heimat für die Palästinenser zu finden,
stand noch nicht, denn damals gab es den Begriff »Palästinenser« noch gar
nicht. Die heutigen Palästinenser oder ihre Väter betrachteten sich als
Araber, deren Ziel es war, eine arabische Vereinigung im ganzen Nahen Osten
zu erreichen. Wie viele fortschrittliche Araber glaubten die Palästinenser
damals noch eher an eine arabische Einheit, die die Souveränität über den
gesamten arabischen Boden gewährleisten sollte. Arabischer Boden war für sie
der ganze Nahe Osten, und auf arabischem Territorium sollte sich kein
fremder Staat befinden. Deshalb versuchten sie, mit ihren Brüdern in den
arabischen Nachbarstaaten durch Krieg und Invasion den Staat Israel im Keim
zu ersticken. Das war der erste Krieg, den wir den Unabhängigkeitskrieg
nennen, der spät im Jahre 1947 begann und bis Anfang 1949 dauerte. Die
Palästinenser und unsere Nachbarstaaten haben damals ihr Ziel zwar nicht
erreichen können, haben ihre Hoffnung auf die Beseitigung Israels aber nicht
verloren.
Die Folge dieses ersten
Krieges war zunächst das palästinensische Problem. Die Niederlage im Krieg
gegen Israel und die Annektierung durch Nachbarstaaten von Teilen
Palästinas, die ursprünglich den Palästinensern zugesprochen worden waren,
nahmen ihnen jede Hoffnung auf Unabhängigkeit, eigene Identität oder sogar
auf eine Heimat.
Eine weitere Folge war,
daß die Aggressoren zwar den Krieg verloren hatten, aber nie von ihrer
Niederlage überzeugt waren und weiterhin die Beseitigung Israels aus dem
Nahen Osten anstrebten. Solange die arabischen Staaten und die Palästinenser
weiter daran glaubten, daß sie imstande seien, irgendwann ihr Ziel zu
erreichen und einen rein arabischen Staat zu schaffen, konnten wir keinen
Friedensprozeß im Nahen Osten haben.
Diese Weltanschauung
unserer Nachbarn hat sich allmählich geändert, und der erste, der dies
anders gesehen hat, war Präsident Sadat von Ägypten im Jahr 1977, der damals
sogar nach Jerusalem kam, um uns die Hand zu reichen. Die anderen folgten
oder sind auf dem Weg, ihm in diesen Jahren zu folgen.
Der Staat Israel wurde
somit unter sehr schwierigen Umständen geboren, bekämpft, eingekesselt,
jahrzehntelang belagert, er hat jedoch alles nur mögliche getan, um seine
Raison d'etre zu rechtfertigen, nämlich trotz aller Schwierigkeiten
Flüchtlinge in Not in Massen aufzunehmen, so daß sich die israelische
Bevölkerung innerhalb von vier Jahren verdreifacht hat. Diese Einwanderung
ist keineswegs ein Zufall.
Sobald die Juden ihre
Unabhängigkeit verkündet hatten, erließ das erste provisorische Parlament
ein Grundgesetz, das als die Daseinsberechtigung des Staates Israel gilt -
das Gesetz der Rückkehr der Juden nach Israel. Es garantiert das
uneingeschränkte Recht der Juden in aller Welt, wann immer sie wollen, in
Israel Asyl zu finden.
Das bedeutet jedoch
nicht, daß nur ein Jude Israeli sein kann. Heute hat Israel sechs Millionen
Einwohner, davon sind 17 Prozent Nichtjuden. Für Israelis gibt es keinen
Unterschied vom gesetzlichen Standpunkt zwischen Juden und Nichtjuden, sie
alle sind selbstverständlich Israelis mit voller Gleichberechtigung. Für
Nichtisraelis gibt es einen Unterschied, nämlich daß Juden immer das Recht
haben, nach Israel zu kommen und automatisch die Staatsbürgerschaft
erhalten, während Nichtjuden, die Israelis werden wollen, ein ähnliches
Einbürgerungsverfahren, wie es im Westen üblich ist, bestehen müssen.
Seit 1948, dem Jahr der
Unabhängigkeit, hat sich die israelische Bevölkerung schon verzehnfacht.
Aber nicht nur demographisch hat sich Israel entwickelt, auch
wirtschaftlich, wissenschaftlich und technologisch hat es sich revolutionär
verändert. Aus einem Land, das kaum Landwirtschaft und noch weniger
Industrie hatte, ist Israel ein Land der Hochtechnologie geworden. Aus einem
Land mit einem ursprünglichen Bruttosozialprodukt von hundert Millionen
US-Dollar hat es sich zu einem Land entwickelt, dessen Bruttosozialprodukt
heute neunzig Milliarden US-Dollar beträgt.
Die ursprünglich
feindlichen Nachbarstaaten Israels, deren Bevölkerung fast zwanzigmal so
groß ist wie die Israels, besitzen insgesamt ein geringeres
Bruttosozialprodukt als Israel. Diese Nachbarstaaten mußten irgendwann zu
der Schlußfolgerung kommen, daß ihre Bekämpfung, Belagerung, ihr Bann und
Boykott Israel in seiner Entwicklung nicht behindern kann. Daraus haben sie,
so hoffen wir, die Konsequenzen gezogen und wissen, so glauben wir, daß
Israel aus dem Nahen Osten nicht verschwindet. Die einzige Möglichkeit, ihre
Wünsche bzw. Ansprüche zu erfüllen, besteht in Gesprächen mit Israel, in
Frieden und Kooperation mit ihm. Daher der Friedensprozeß, der heute im
Gange ist.
Für Israel wird der
erhoffte Frieden, wenn er endlich erzielt sein wird, der Gipfel der
Erfüllung seiner historischen Träume sein. Erst wenn der Frieden geschlossen
sein wird, der echte, lebendige und dauerhafte Frieden, werden wir Israelis
normale Menschen, die ihre endgültige Normalität, die vor zweitausend Jahren
verlorengegangen ist, wiedergefunden haben. Das wird die vollendete
Erfüllung des zionistischen Traumes sein.
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