Michael Karpin und Ina Friedman:
Der Tod des Jitzhak Rabin
- Anatomie einer Verschwörung
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Din Rodef
Teil 3
Din Rodef und Din Moser
Michael Karpin und Ina
Friedman
Orthodoxe Rabbiner in Israel und im Ausland hatten zwei
veraltete halachische Vorschriften ausgegraben: Din Rodef
(die Pflicht, einen Juden zu töten, der Leben oder Eigentum eines
anderen Juden gefährdet) und Din Moser (die Pflicht, einen
Juden zu töten, der einen anderen Juden an Fremde ausliefern will).
Sie debattierten ernsthaft, ob diese überholten religiösen Gesetze
auf den Ministerpräsidenten von Israel anzuwenden seien.
Bis dahin waren in den Jeschiwoth die beiden Gebote nur in
theoretischem und historischem Zusammenhang erörtert worden. Für
alle praktischen Zwecke waren sie tote Buchstaben, ebensowenig von
Bedeutung für das heutige Leben wie die ausführlichen biblischen
Vorschriften über Tieropfer. Doch nun hieß es auf einmal, angesehene
rabbinische Gelehrte würden diese Gebote nicht nur erneut prüfen,
sondern hätten schon das Urteil gefällt: Jitzhak Rabin, der mit
seiner Politik Leben und Eigentum der Siedler in Gefahr gebracht
hätte, sei ein
Rodef und ein Moser und verdiene daher den Tod.
In der jüdischen Geschichte gibt es kaum Todesurteile, obwohl die
Halacha vier Fälle aufzählt, in denen es Pflicht ist, einen Menschen
zu töten, selbst wenn er nicht eines Verbrechens für schuldig
befunden wurde. Der erste Fall ist der eines epikorus
(Häretikers), der das in der Thora und in den Werken der Propheten
niedergeschriebene Gesetz verwirft. Der zweite Fall ist der eines
Häretikers, der das mündliche Gesetz verwirft, wie es in der
Mischna* festgeschrieben und im Talmud** erläutert ist. Der dritte
Fall ist der eines Rodef (wörtlich ein Jude, der einen
anderen verfolgt oder drangsaliert) und der vierte der eines
Moser.
* Die Sammlung religiöser Gesetze, die den Kern der
«mündlichen» Lehre darstellen (im Gegensatz zur «schriftlichen»
Offenbarung insbesondere des 5. Buchs Mose, Anm. d. Übers.). Sie
wurde zu Beginn des dritten Jahrhunderts n. Chr. von Rabbi Judah
Hanasi zusammengestellt.
** Zwei große Sammlungen, der Babylonische Talmud und der
Jerusalemer Talmud, mit den Exegesen des jüdischen Gesetzes durch
zehn Generationen von Gelehrten und Juristen zwischen dem dritten
und dem sechsten Jahrhundert n. Chr. Der Begriff Halacha umfaßt
Thora, Mischna und Talmud.
Die Pflicht, einen Rodef zu töten,
ist im Grunde eine Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts. Sie
leitet sich von der Mischna her (Traktat Sanhedrin, Kapitel 8), die
nicht nur das Recht verkündet, sich gegen Schädigung zu wehren,
sondern auch die Pflicht, das Leben eines Juden zu retten, der von
einem anderen verfolgt wird.
Der rabbinische Gelehrte Maimonides - verehrt als herausragender und
maßgeblicher Interpret der Halacha - verkündete im zwölften
Jahrhundert, daß man einen Rodef nicht einfach umbringen
könne, sondern ihn gefangennehmen müsse, um sein Vorhaben zu
durchkreuzen. Sollte sich dies als unmöglich erweisen, müsse man ihm
anderweitig Einhalt gebieten: ihm die Hand abschlagen, ihm ein Bein
brechen oder ihn blenden. Nur wenn all diese Mittel versagten, sei
es Pflicht, einen Rodef zu töten (Mischne Thora, Gesetz über
den Mord und zur Rettung von Leben, Kapitel I). Mit diesen
Einschränkungen gilt Din Rodef dem Buchstaben nach für eine
Verfolgungsjagd, bei der der Verfolgte unmittelbar an Leib und Leben
bedroht ist. Die Regelung entstammt dem Korpus des jüdischen
Strafgesetzes und läßt sich natürlich nicht auf die Politik
ausdehnen. Dennoch gab es orthodoxe Rabbiner, die mittels einer
groben Auslegung des Prinzips zu dem Schluß kamen, daß die Übergabe
von Gebieten im Westjordanland und Gazastreifen an Nichtjuden das
Leben von Juden in Gefahr bringe, und daß, wer immer dies tue, dem
Din Rodef unterliege.
Auch für die Ausführung von Din Moser gab es eine ähnliche
Einschränkung. Dem babylonischen Talmud (Traktat Avodah Zarah, 26:2)
zufolge muß eine Person, die beabsichtigt, einen Juden an Fremde
auszuliefern, zunächst mit den Worten gemahnt werden: «Betreibe
keinen Verrat.» Nur wenn die Person dann nachweislich ihr Vorhaben
weiterverfolgt, ist es Pflicht, sie zu töten, und zwar «so schnell
wie möglich», wie es in der Vorschrift weiter heißt.
Din Moser
entstand in einer Epoche der Fremdherrschaft über das Land
Israel und hatte Gültigkeit in der Diaspora, besonders in Zeiten, da
die herrschenden Kräfte den Juden feindselig gesonnen oder nicht in
der Lage waren, sie gegen ihre Feinde hinreichend zu schützen.
Keineswegs kann das Gebot auf das Leben in modernen Demokratien
ausgedehnt werden, geschweige denn auf das Leben in einem
demokratischen jüdischen Staat.
Dennoch brachten gewisse orthodoxe Rabbiner das Gebot in Verbindung
mit der politischen Lage in Israel nach 1993 und behaupteten, es
gelte für den Fall des Souveränitätsverlusts. Da der israelische
Regierungschef die Herrschaft über Teile des Landes Israel an die
Palästinensische Autonomiebehörde abgetreten habe, sei er ein
Moser. Und indem sie Rabin brandmarkten, erklärten sie ihn
letztlich auch für vogelfrei. Jeder halachatreue Jude sei
berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, ihn ohne Gerichtsverfahren
zu töten. Bedenkt man, wie schnell sich diese Vorstellungen in
Israel verbreiteten, könnte man meinen, sie hätten starke Wurzeln in
der jüdischen Kultur. Doch sie waren bis zu dem Zeitpunkt, da sie
auftauchten und in der Presse erläutert wurden, so unbekannt (außer
für die Talmudfesten), daß die meisten Israelis die Begriffe Din
Rodef und Din Moser nicht einmal gehört und nicht die
geringste Ahnung hatten, was sie bedeuteten.
Nicht so Yoel Bin-Nun, der sich ihrer Folgen bewußt und sehr
beunruhigt war, daß diese veralteten Begriffe für politische Zwecke
wieder ins Spiel gebracht wurden. «Hunderte von Leuten hörten vor
und nach dem Mord an Rabin, wie er als Rodef bezeichnet
wurde», klagte er in einem Interview. «Diese Gedanken drangen an die
Öffentlichkeit und lösten hitzige Debatten aus. Jetzt sind die
veralteten Begriffe Rodef
und
Moser in aller Munde.»
Tatsächlich gingen seit Anfang 1995 die Begriffe Rodef und
Moser vielen in Israel und im Ausland leicht von der Zunge,
und ihre Verbreitung nährte in den religiösen Zirkeln den Glauben,
die Überlegung, ob sie auf Rabin angewandt werden könnten, sei
legitim. Jeschiwa-Studenten baten ihre Lehrer, die Gebote zu
erläutern. Gläubige verlangten von ihren Rabbinern Erklärungen.
Nicht lange, und die orthodoxen Rabbiner in Israel und den
Vereinigten Staaten zogen sich gegenseitig schriftlich oder mündlich
zu Rate, ob Rabin als Rodef oder als Moser einzuordnen
sei.
In den Vereinigten Staaten unterzeichneten
Hunderte von orthodoxen Rabbinern eine Erklärung, in der sie ihn
unumwunden verurteilten. In Israel wurde das Thema nur flüsternd und
hinter verschlossenen Türen verhandelt, damit sich der Klerus nicht
dem Vorwurf der Anstiftung zum Mord aussetzte. Manche verkündeten
auf die Frage nach ihrem Urteil, Rabin erfülle eindeutig die
Definition eines Rodef. Andere erklärten, die beiden Gesetze
seien veraltet, so daß Rabin, der zwar als Rodef oder
Moser betrachtet werden könne, von der Vorsehung und nicht
von Sterblichen bestraft werden würde. Einige wenige Rabbiner
schlugen vor, ein rabbinisches Richterkollegium solle ihm den Prozeß
machen; ein oder zwei wollten ihn vor einem Zivilgericht sehen. Doch
immer ging es um das eine Ziel: Der Ministerpräsident sollte
eingeschüchtert werden, bis er den Friedensprozeß abbrach.
Wieviel Gewicht besaßen die Urteile der Rabbiner, die den Mord am
Ministerpräsidenten guthießen, bei den religiösen Juden in Israel?
Die Antwort ist keineswegs eindeutig. Der heutige Judaismus besitzt
keine zentrale rabbinische Institution, die das religiöse Gesetz
festlegt oder deutet; auch gibt es keine rabbinische Oberhoheit, der
alle gläubigen Juden gehorchen müssen. Diese Rollen hatten bis zur
Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. in der Zeit des ersten
Tempels (elftes bis sechstes Jahrhundert v. Chr.) der Hohepriester
und eine Art gesetzgebender Rat mit Hohem Gericht inne, die Knesset
Gedolah («Große Versammlung»), und in der Zeit des zweiten Tempels
(viertes Jahrhundert v.Chr. bis erstes Jahrhundert n.Chr.) der
Sanhedrin. Doch nachdem die byzantinischen Herrscher Palästinas im
fünften Jahrhundert n. Chr. den Sanhedrin aufgelöst hatten, war
keine jüdische Autorität mehr an seine Stelle getreten. Die letzte
halachische Autorität, die von allen jüdischen Gemeinden der
Diaspora anerkannt wurde, war Maimonides (1135-1204), dessen
Talmudkommentar, die Mischne Thora, den Stellenwert eines jüdischen
Gesetzeskodex erlangte. Nach der Gründung Israels schlugen einige
Rabbiner vor, den Sanhedrin als obersten Deuter des religiösen
Gesetzes wieder
einzuführen. Doch inzwischen hatte sich die
Spaltung zwischen der orthodoxen, der konservativen und der
reformerischen Strömung des Judentums derart verfestigt, daß diese
Initiative fruchtlos blieb. Was einem obersten Gremium rabbinischer
Autoritäten heutzutage am nächsten kommt, ist eine
Ad-hoc-Versammlung halachischer Gelehrter, die Poskim
(«Entscheider»), an die sich die Rabbiner vieler Gemeinden wenden,
um Urteile in besonderen Streitfragen der Halacha einzuholen...
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26-10-04 |