Michael Karpin und Ina Friedman:
Der Tod des Jitzhak Rabin
- Anatomie einer Verschwörung
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Din Rodef
Teil 1
Das Herz des Landes in unserer Hand
Michael Karpin und Ina
Friedman
Das merkwürdige Zusammentreffen ließ Rabbiner Yoel Bin-Nun
noch nach Jahren erschauern. Er erinnerte sich sogar noch an den
Tag, an dem sein Mentor, Rabbiner Zvi Yehudah Kook, die kämpferische
Rede in der Jeschiwath Merkas haRaw gehalten hatte. Es war
Sonntagabend, der 14. Mai 1967; draußen, auf den Straßen Jerusalems,
begann man den neunzehnten Unabhängigkeitstag des Landes zu feiern.
Eine Stunde zuvor hatten die Sirenen geheult und das Ende des
jährlichen Gedenktags für die Gefallenen in Israels Kriegen und den
Beginn der Unabhängigkeitsfeiern verkündet.
Allmählich füllten sich die Straßen mit Menschen, die sich auf
den einzigen neuzeitlichen und nichtreligiösen Feiertag im
israelischen Kalender freuten. Sie drängten sich um rasch
zusammengezimmerte Bühnen für die Sänger und Volkstanzgruppen oder
machten sich auf den Weg an die Strände, auf die Hügel im Umland
oder einfach zu einem Stück Grün, wo sie, um Lagerfeuer geschart,
bis spät in die Nacht wehmütige Erinnerungslieder sangen. Für den
nächsten Tag war eine schlichte Militärparade in Jerusalem angesagt,
ohne Panzer oder andere schwere Waffen, um die jordanischen
Herrscher der östlichen Hälfte der geteilten Stadt nicht vor den
Kopf zu stoßen. So feierte Israel seine Unabhängigkeit in jenen noch
unschuldigen Jahren: Man sang Volkslieder, tanzte die Hora und
blickte mit patriotischem Stolz auf die zackig im Gleichschritt
marschierenden Soldaten «der ersten jüdischen Armee seit 2000
Jahren».
Rabbiner Kook jedoch beging diesen Tag auf seine eigene Art und
Weise. Alljährlich, am Vorabend des Unabhängigkeitstages,
versammelte er seine Studenten in der großen Mittelhalle der
Jeschiwa zu einer Stunde ganz persönlicher Reflexionen. Yoel Bin-Nun
freute sich auf diese ungezwungenen Abende.
Als der sechsundsiebzigjährige Kook zu sprechen begann, kaum lauter
als ein Flüstern, verstummten mit einem Schlag alle Studenten, die
kein Wort verpassen wollten. Kook spickte seinen Vortrag mit
Anspielungen auf die Bibel und den Talmud, als wollte er seine
Studenten mit Knobeleien herausfordern, und manchmal sprach er in
Parabeln, deren Sinn ihnen erst lange danach mit einem Schlag klar
wurde. An jenem Abend erinnerte Kook an einen anderen Freudentag der
Nation, der ihn freilich in tiefe Trauer gestürzt hatte.
Es war zwanzig Jahre zuvor gewesen, am
29. November
1947, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen darüber
abgestimmt hatte, ob Palästina in einen jüdischen und einen
arabischen Staat aufgeteilt werden solle. Während die Frage reihum
ging, saßen die 660.000 Juden in Palästina vor ihren Radios und
folgten jedem Wort der Live-Übertragung (radio/uno-1947.rm).
Sie notierten sich die Antworten jedes einzelnen Landes: Ja, Nein,
Enthaltung. Am Schluß drangen Freudenschreie aus den Häusern. Die
Vereinten Nationen hatten die Teilung gebilligt. Endlich besaßen die
Juden die Unabhängigkeit. Ebenfalls an jenem Tag, so erinnerte sich
Rabbiner Kook mit gedämpfter Wehmut, hatten sich die Straßen mit
Menschen gefüllt, die begeistert ihren Triumph im erbitterten
politischen Kampf gegen die britische Mandatsherrschaft feierten.
Kook wollte sich ihnen anschließen, doch habe ihn die Trauer über
den Preis dieses Sieges überwältigt: Das Herz des Landes Israel
sollte in fremde Hand fallen. Als würde er noch einmal jene
bittersüßen Stunden durchleben, verstummte Rabbiner Kook. Der
kleine, gebrechliche Rabbiner richtete die Augen gen Himmel und
stieß ein schreckliches Wehklagen aus: «Wo ist unser Sichem?* Können
wir es vergessen?» rief er. «Wo ist unser Hebron? Können wir es
vergessen? Wo ist unser Jericho? Können wir es vergessen? Und wo ist
unser Transjordanien**? Können wir es vergessen?»
* Sch'chem, biblischer Name von Nablus.
** Ostufer des Jordan, wo die Stämme Rubens, Gads und Teile des
Stammes von Manasse im zwölften Jahrhundert v. Chr. siedelten.
I m Mai 1967 drehten sich
jedoch die Räder der Geschichte in eine
andere Richtung. Während in Jerusalem die Truppen salutierend an
Generalstabschef Jitzhak Rabin vorbeiparadierten, erhielt er die
Nachricht, Ägypten habe seine Armee mobilisiert und die Soldaten
durch die Wüste Sinai zur israelischen Grenze geschickt. Sofort
versetzte Rabin seine Truppen in Alarmbereitschaft, und in den
folgenden drei Wochen schlitterte der Nahe Osten unaufhaltsam in
einen Krieg hinein, der überraschende Antworten auf Kooks
angsterfüllte Fragen liefern würde.
Am Morgen des 5. Juni brach der Krieg aus, und innerhalb von vier
Tagen besetzte die israelische Armee (IDF) Sichem und Hebron,
Jericho und Bethlehem sowie die Osthälfte Jerusalems.
Am 7. Juni drang Yoel Bin-Nuns Fallschirmjäger-Reservebataillon in
die Altstadt vor. Nach erbitterten Kämpfen fand sich Bin-Nun vor der
Westmauer wieder, dem einzigen Relikt des von den Römern zwei
Jahrtausende zuvor zerstörten zweiten Tempelkomplexes. Es war ein
beeindruckender Augenblick, als sein Brigadekommandeur Mordechai
(Motta) Gur über Funk verkündete: «Der Tempelberg ist in unserer
Hand.»
Der Oberrabbiner der IDF, Shlomo Goren, blies wie einst Josua in ein
Widderhorn, um das Ereignis angemessen zu würdigen.* Zitternd und
mit Tränen in den Augen glaubte Bin-Nun, eine Erscheinung zu
erleben. «Wir waren von dieser Begegnung mit der jüdischen
Geschichte überwältigt - vom Tempelberg, der Westmauer, von der
ungeheuren Fülle der jüdischen Geschichte, die auf jedem von uns zu
lasten schien, wie wir politisch auch denken mochten. Hinzu kam das
Erlebnis des Krieges und des Grauens der Schlacht.»
* General Uzi Narkiss, Chef des Oberkommandos Mitte der IDF
während des Sechstagekrieges, enthüllte in einem Interview mit dem
Ha'aretz-Journalisten Nadav Shagrai, das kurz nach seinem Tod
1997 veröffentlicht wurde, daß Goren ihn sogar aufgefordert habe,
die dortigen Moscheen zu sprengen. Goren stritt dies später ab
(obwohl Shagrai in der Folge Belege dafür fand) und sagte, selbst
wenn es zur Sprengung gekommen wäre, hätte die israelische Regierung
schon am nächsten Tag begonnen, bei den Juden rund um den Globus
Spenden zu sammeln, um die [Omar-Moschee] wiederaufzubauen.
Neunundzwanzig Jahre später schilderte Rabbiner
Bin-Nun immer noch mit ehrfurchtsvoller Stimme, wie Rabbiner Kook am
Unabhängigkeitstag 1967 zornig über den
Verlust des Landes geklagt hatte und sich die Ereignisse bald darauf
überschlugen. Für den damals einundzwanzigjährigen
Jeschiwa-Studenten war diese Wende keine zufällige Fügung des
Schicksals. Gott hatte seine Hand beim Sieg der wenigen über die
vielen im Spiel, das lehrte Rabbiner Kook seine Studenten und rief
sie auf, in das Land der Vorväter zurückzukehren. Bin-Nun gründete
die Siedlung Ofra, nördlich der Stadt Ramallah, und wurde ein
eifriger und engagierter Anführer der Siedlerbewegung. Seine Freunde
nannten ihn den «Ideologen», und der "Gush Emunim", der Block der
Getreuen, wurde in seinem Wohnzimmer gegründet.
Dennoch unterschied er sich von den anderen...
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26-10-04 |