[…] Historisch ist die Kibbuzbewegung untrennbar
verbunden mit der nationalen Bewegung zur Errichtung einer Heimstätte des
jüdischen Volkes in Palästina/Israel; eine Geschichte der jüdischen
Staatswerdung ohne Berücksichtigung der kolonisatorischen Leistung der
Kibbuzim ist schlechterdings unmöglich. Es ist aber umgekehrt auch darauf
hinzuweisen, daß ohne die Unterstützung dieser ”kommunistischen Experimente”
durch die organisatorische und finanzielle Kraft der zionistischen Bewegung
die Kibbuzim aller Wahrscheinlichkeit nach ein recht peripheres Phänomen
geblieben wären.
Die
Aufgabe einer Avantgarde zionistischer Siedlungsarbeit erfüllten die
Kibbuzim insbesondere während der Zeit der englischen Mandatsverwaltung
(1920-1948). Sie verkörperten den Widerstand gegen die Beschränkungen, die
die englische Regierung in jener Zeit der zionistischen Bewegung bei
Bodenkauf und Einwanderung auferlegte, und errangen damit besonders hohes
Ansehen in der jüdischen Bevölkerung sowie Respekt auch in den arabischen
Nachbardörfern. Im Gefolge der Staatsgründung 1948 verloren die Kibbuzim an
Gewicht und Einfluß: nicht nur weil ein Teil ihrer Aufgaben nun von
staatlichen Institutionen übernommen wurde - zum Beispiel im militärischen,
kulturellen und erzieherischen Bereich -, sondern auch aus ideologischen
Gründen. Während die Mehrzahl der jüdischen Einwanderer vor 1948 aus
ideologischen Motiven ins Land gekommen waren, fehlte den in den Jahren
danach in Massen vorwiegend aus afrikanischen und asiatischen Ländern
einwandernden Juden eine solche Orientierung fast völlig; sie favorisierten
andere Siedlungsformen, wie etwa die im herkömmlichen Sinn
genossenschaftlich strukturierten ”Moshavim”, die die familiäre
Haushaltsgemeinschaft und Eigentumssphäre nicht kollektivieren. […]
Konstitutiv für den Kibbuz ist ein dreidimensionales Wertsystem; in ihm
verbindet sich die Zielsetzung der nationalen Wiedergeburt (Zionismus) und
einer radikalen Erneuerung gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens
(Sozialismus) mit humanistischen Idealen einer breiten individuellen
Selbstverwirklichung. […]
Der Gedanke der ”Eroberung der Arbeit” stand am Anfang aller jüdischen
Siedlungstätigkeit in Palästina im Sinne einer friedlichen Okkupierung aller
Berufszweige im Land durch jüdische Arbeit: Reaktion auf Jahrhunderte des
Ausschlusses der Juden von jeder landwirtschaftlichen und gewerblichen
Betätigung in der europäischen Diaspora. […]
Die Rolle der Arbeit als zentraler Wert und Medium der nationalen
Befreiung und Selbstfindung des jüdischen Volkes schloß für die jüdischen
Siedlungspioniere zugleich ein ganzheitliches Arbeitsideal und eine strenge
Betonung der Gleichberechtigung ein. Dabei wurde gerade die manuelle Arbeit
nicht nur als notwendiges Übel angesehen, sondern als ethischer Wert an
sich. […]
”Der Kibbuz stellt eine Kommune auf der Grundlage freiwilliger und
kündbarer Mitgliedschaft dar.” Diese Kennzeichnung des Kibbuz muß vorweg
ganz besonders herausgestellt werden - gerade im Gegensatz zum
”realsozialistischen” Kommunetyp, etwa der sowjetrussischen Kolchose. […]
”Die Ziele der Kibbuzim sind folgende:
a) Eine Siedlung zu errichten und zu unterhalten, die sich auf
Landwirtschaft, Industrie und Handwerk sowie jede andere Arbeit stützt
und zum ständigen Wohnort ausschließlich von Kibbuzniks und ihren
Angehörigen bestimmt ist; […]
c) für die ökonomischen, sozialen, kulturellen, individuellen und die
Ausbildung betreffenden Bedürfnisse der Kibbuzniks und ihrer Angehörigen
zu sorgen, Gesundheitsvorsorge zu betreiben und die dafür notwendigen
Dienstleistungen, Institutionen und Unternehmen einzurichten […]
f) die Persönlichkeit sowie die individuellen und die für die
Allgemeinheit einzusetzenden Fähigkeiten der Mitglieder sowohl im
sozialen als auch im ökonomischen, kulturellen, wissenschaftlichen und
künstlerischen Bereich zu fördern;
g) die weiblichen Kibbuzmitglieder zu fördern, so daß tatsächliche
Gleichheit auf ökonomischem und sozialem Gebiet wie auf dem Gebiet der
Bildung, bei öffentlichen Tätigkeiten und solchen im Rahmen der Bewegung
erreicht wird;
h) die Kinder des Kibbuz zu erziehen, das Niveau ihrer Erziehung und
ihren Wissensstand zu entwickeln und zu erweitern; […]
i) Neueinwanderer und -siedler zu integrieren; […]
m) Aufgaben zu erfüllen, die die Position, die Wirtschaft und die
Sicherheit des Staates Israel stärken, ebenso Aufgaben, die die Sache
der Arbeiterklasse und der Kibbuzbewegung als ganze stärken, so wie sie
von der Bewegung beschlossen und vom Kibbuz übernommen wurden.”
Bei allen politisch-ideologischen Nuancierungen […] ist es besonders
bemerkenswert, in welchem Maße die Kibbuzim ihren ursprünglichen
prinzipiellen Orientierungen bis heute treu geblieben sind, die sich wie
folgt zusammenfassen lassen:
- Das gesamte Kibbuz-Eigentum gehört der Gemeinschaft als
Kollektiveigentum; dies betrifft nicht nur alle Produktionsmittel,
sondern auch viele Konsumgüter, soweit sie sich in gemeinschaftlicher
Verfügung befinden (zum Beispiel Autos, Freizeitgüter und ähnlichem).
Teile der Konsumgüter des persönlichen Bedarfs werden aber auf die
Mitglieder verteilt (vom Teekessel in den fünfziger Jahren bis zum
Farbfernseher und Videogerät heute). Es herrscht das Prinzip der
”Gemeinschaftlichen Produktion, Konsumtion und Erziehung”.
- Der Kibbuz stellt mit seinen Mitgliedern einen geschlossenen
Arbeitsmarkt dar: Er beruht auf dem Prinzip der ”Selbstarbeit” seiner
Mitglieder; […]
- Die Arbeitskräfte des Kibbuz stehen der Gemeinschaft zur Verfügung.
Diese bestimmt durch ihre gewählten Organe die Zeiteinteilung zwischen
Arbeit, Ausbildung, Studium und Freizeit sowie über die Verteilung auf
die verschiedenen Beschäftigungen in den Produktions- und
Dienstleistungs-Branchen des Kibbuz; dabei werden individuelle Wünsche
und Neigungen aber nach Möglichkeit berücksichtigt.
Der vollen Arbeitstätigkeit der Frau entspricht im Kibbuz ihre Befreiung
von den Pflichten des privaten Haushalts und von der Pflege und
Erziehung der Kinder. Alle Haushalts- und Erziehungsfunktionen werden
grundsätzlich von kollektiven Institutionen erfüllt, gehören also zum
Dienstleistungsbereich des Kibbuz.
- Der Kibbuz praktiziert das Prinzip der Gleichheit der realen
Pro-Kopf-Einkommen; das bedeutet die konsequente Aufhebung des
Zusammenhangs zwischen individueller Arbeitsleistung, persönlichem
Beitrag zur Produktion und realer Einkommenssituation des einzelnen. Es
herrscht also - ohne jedes materielle Anreizsystem - das Prinzip: ”Jeder
nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” - im Rahmen der
Möglichkeiten der Gemeinschaft.
- Der Kibbuz ist als selbstverwaltetes Kollektiv nach
basisdemokratischen Ordnungsprinzipien verfaßt; diese Selbstverwaltung
wird getragen von zeitweiligen Amtsträgern ohne jede materielle
Vergünstigung, die nach einem im ganzen eingehaltenen Rotationssystem
nach zwei bis drei Jahren ausgetauscht werden.
Christiane Busch-Lüty, Leben und Arbeiten im Kibbuz, Bund-Verlag, Köln
1989, S. 31-48.