In der ersten Klasse geht mit verstärktem Nachdruck weiter, was schon im
Kindergarten einsetzte: die Formung des Charakters. Der werdende junge
Staatsbürger wird in seinen Vorstellungen geprägt. Begriffe und
Weltanschauungen, und nicht nur das Alphabet und Einmaleins, werden ihm
tropfenweise eingetrichtert.In diesem Jahr ist
vieles anders als früher. Ein nationalreligiöser Unterrichts- und
Religionsminister, Sebulun Hammer, hat das Sagen. Er steht an der Spitze der
NRP, einer Partei, die heute meilenweit entfernt ist von dem, was ihm sein
Vorgänger, der 'jekkische', zwar orthodoxe, aber doch auch humanistisch
weltaufgeschlossenen Dr. Josef Burg aus Dresden hinterließ.
Dr. Burg wäre es nie im Leben eingefallen, Verordnungen zu
erlassen, wie sie nunmehr Swulun Hammer anbefahl.
Viele Neuerungen im staatlichen Schulwerk sind in diesem
Jahr zu vermerken. Das Hissen der Fahne ist nur eine davon. Außerdem wird
jede Schule, die es wünscht, einen Rabbi erhalten können. Er wird mit einem
''Viertelamt" also zeitweise, zur Veriügung stehen. Am Eingang zu jeder
Klasse werden Mesusot angebracht, die Klassen werden Ptlichtausflüge nach
Jerusalem unternehmen. Angesichts des "Fahnengesetzes" nahmen der
Ministerpräsident, Minister, hohe Polizei- und Armeeoffiziere wie auch
Oberrichter an den Feiern zum Beginn des Schuljahres teil. Das, so Minister
Hammer, versinnbildliche die Tendenz des Unterrichts, den er anstrebt. Er
soll nicht nur Wissen, sondern auch Traditionsbewußtsein und Wertgefühle
übermitteln. ''Die Schulen sollen nicht nur bilden, sondern auch erziehen,"
meint der Minister.
Patriotismus und Traditionsbewußtsein sind erstrebenswerte
Tendenzen. Aber kann man nicht auch des Guten zu viel tun? Es waren nicht
eben die aufgeklärtesten und besten Regime, die Dinge wie "Fahnenweihen"
erfanden. In der zutiefst demokratischen Tschechslowakei vor dem Zweiten
Weltkrieg mit ihren wahrhaft hervorragenden humanistischen Schulen gab es
keine tägliche Fahnenhissung. Eine Fahne wurde dort werktags überhaupt nicht
gesichtet, so begeistert man an Festtagen die Nationalhymne sang oder
stundeniang Spalier stand, um den greisen Präsidenten G. Thomas Masaryk zu
ehren. Auch ein Schulgebet war unüblich. Die Leute, die diesem
Unterrichtssystem entsprangen, waren gar nicht so übel.
Unterrichtsminister Hammer verspricht, es werde bei
alledem tolerant zugehen. Die Schüler würden zu den Werten des Judentums und
Zionismus erzogen, aber zu nichts gezwungen werden. Seine Absichten hatte
Hammer schon vor den Wahlen verkündet, mit erheblichem Erfolg. Von den zehn
Mandaten, die die NRP erhielt, kamen wenigstens zwei von nichtreligiösen
Juden. Darin sieht er die moralische Vollmacht für sein Vorgehen.
Prof.
Amnon Rubinstein, der frühere Unterrichtsminister von der linken
Merez-Partei glaubt, in diesem Unterrichtsprogramm eine Art
Missionärstätigkeit zu entdecken. Der nationalreligiöse Unterricht gewähre
den Lehrern nicht jene Autonomie, die erforderlich sei. Er benachteilige
deutlich die moderneren Strömungen im Judentum, Konservative und Reform, die
ohnehin in Israel schwer zu kämpfen haben.
Aber Hammer selbst hat zu kämpfen. Er wird rechts überholt
von den Haredim, die sich auf einem präzedenzlosen; scheinbar unauthaltsamen
Vormarsch befinden.
Reporter berichteten diese Woche, daß sie in vielen
staatlichen Schulen halbleere Klassenzimmer vorfanden. Wo sind die Schüler?
Sie sind zum Haredi-Schulwerk, insbesondere zu Schas-Schulen abgewandert!
Schas schwimmt in Geld, das es der Regierung für sein Mitwirken in
derKoalition abgepreßt hat. Dieses Geld wird in das Schulwerk und andere
"missionarisch"-philantropische Aktionen investiert.
Man muß es den Schas-Leuten lassen: Nur wenige Funktionäre
leben in Saus und Braus. Die meisten haben einen sehr bescheidenen
Lebensstandard. Wenn sie Geld brauchen, dann wegen ihres Kinderreichtums.
Manche sind geradezu arm. Aber von den reichlich fließenden staatlichen
Subventionen und Spendengeldern statten die Haredi-Politiker ihr Schulwerk
geradezu verschwenderisch aus. Sie bieten einen langen Schultag, wovon die
staatlichen Schulen vorläufig nur träumen können. Es gibt für jedes Kind
mittags eine warme Gratismahlzeit, Transport von und zur Schule und fast
gratis alle benötigten Lehrmittel. Nicht nur ultra-orthodoxe Familien machen
von diesem großzügigen Angebot Gebrauch. Auch minderbemittette
"Traditionsbewußte" oder sogar Säkulare, darunter nicht wenige
Neueinwanderer, senden, ihre Kinder in diese Schulen. In ihnen herrscht
natürlich strengste Geschlechtertrennung. Es wird nur die Weltanschauung der
Haredim gelehrt und der Unterricht der Naturwissenschaften und Realfächer
oft stark vernachläßigt. Das gesparte Geld lockt aber; und außerdem
ermöglicht der lange Schultag auch den Müttern die Arbeit. außer Haus. Und
die Haredim-Frauen müssen zum Unterhalt beisteuern, wenn ihn nicht völlig
bestreiten, damit der Mann sich den ganzen Tag lang ausschließlich dem
g'ttgefä1ligen Thora- und Talmudstudium widmen kann.
Dagegen wäre nichts einzuwenden, bestände nicht die
Befürchtung, daß die säkularen Kinder, die nichts andres kennenlernen,
gleichfalls zur strengen Observanz überlaufen. Sie werden dann nicht in der
Armee dienen, sondern überlassen es G'tt und den Säkularen, sie zu
verteidigen. Sie wissen meist, da viele von ihnen - siehe Deri - sehr
intelligent sind, sehr wohl um den Lauf der Welt da draußen. Manche können
auch ganz gut mitmischen. Aber sie sehen nicht fern, sie lassen das moderne
Leben und die Kultur des 20. Jahrhunderts links liegen, viele glauben an
Amulette und mystische Machinationen vom Bannfluch bis zum Heilbeten. Hätten
sie allein das Sagen im Staate, müßte man um seine Zukuft sehr besorgt sein.
Daß nicht dies dem eleganten und assimilierten Journalisten Theodor
Herzl aus Wien vorschwebte, diesem charismatischen Visionär und großen
Anführer, der die verschüttete Energie eines Volkes erstmals in aktive
politische Bahnen lenkte, liegt auf der Hand. Aber das ist vielleicht nur
von emotionaler Wichtigkeit und nur für unsereins.
Wichtig ist, daß die Säkularen sich durch den Vormarsch
der Haredim nicht verunsichert fühlen dürfen; daß man nicht im Namen G'ttes
Intoleranz gegen allen Andersdenkenden predigen darf. Das reicht von der
Erklärung eines schweren Schulbusuufalls mit 22 Toten als "Strafe G'ttes für
falsch geschriebene Mesusot an den Schulklassenzimmern" bis zur Verfluchung
Rabins. Und zu der bekannten Ankündigung eines großen Rabbi und Bekehrers
zum strengen Glauben, der zum Gedenken an die 74 Todesopfer des
Zahal-Hetikopter-Unglücks auf dem Flug nach Libanon zu einer "Veranstaltung
mit Humor und Überraschungen" einlud. Der betreffende Rabbi erklärte dann
auch noch, die Soldaten seien möglicherweise wegen eines Vergehens in einem
früheren Leben verunglückt. An Seelenwanderung und Bestrafung in einem
künftigen Leben - ohne Urteilsverkündung! - glaubt er auch.
"Du glaubst nicht an Rabbi Kaduri?!?!"
Nicht alle Haredim teilen diese Ansicht. Aber manche hegen
eigenartige Vorstellungen. Für viele fromme und naive Israelis ist eine
Gestalt wie die des Raw Kaduri, der mit seinen Amuletten der Schas-Partei
viele Mandate einbrachte, der Inbegriff der Heiligkeit.
Wer ihm die Hand küssen darf, ist beseligt. Die Frauen
küssen seiner Gemahlin die Hand. Über sie veröffentlichte die Zeitung
"Maariv" unlängst einen hochinteressanten Artikel. Die Rabbanit Dorit
Kaduri, 49, Aschkenasin, ist wenigstens 40 Jehre jünger als ihr Gemahl. Er
soll laut Gerüchten zwischen 97 und 106 Jahre alt sein. Sie ist eine
"Choseret be-Tschuwa", eine zum strengen Glauben zurückgekehrte. Mit ihrem
greisen Gemahl lebt sie hinter streng verschlossenen Stahltüren im großen,
prunkvollen Komplex der Jeschiwa "Nachlat Jitzchak" in Jerusalem. Sie lernte
den Rav durch einen Schiduch, eine Vermittlung, kennen, nachdem der
Verwitwete von seinen Söhnen selbst eine solche gefordert hatte. Denn ein
Unverheirateter sei "nur ein halber Mensch", seine Gebete daher nur halb so
wirksam.
Der Raw, dem große Weisheit zugeschrieben wird, lehnte
mehrere Kandidatinnen ab. Er ist mit seiner Wahl sehr zufrieden. Der Alte
bezeichnet seine Frau, die rührend um sein leibliches Wohl besorgt ist, als
eine "Gerechte". Sie führt nicht nur den Haushalt mit den vielen Gästen
allein, sondern liest sich auch täglich durch das gesamte Psalmenbuch durch.
Der Zeitung gelang eine seltene Aufnahme der Frau mit den feinen,
ungeschminkten Zügen im Kittel und Kopftuch, die in der entsagenden Pflege
und Verehrung eines fast Hundertjährigen ein g'ttgefälliges Lebenswerk
sieht. Der Raw ißt übrigens fast nur Obst und Gemüse, seitdem er in der
Zeitung - einer Haredi-Zeitung selbstredend, andere kommen nicht ins Haus -
von der radioaktiven Verseuchung des Meeres las.
Im übrigen beherrscht er die Heilige Sprache perfekt für
heilige Zwecke, aber Profanes und Politisches erzählt oder übersetzt man ihm
besser ins Arabische. Das ist schön und rührend, wenn man es als Folklore
betrachtet. Es scheint aber gefährlich, wenn ein moderner Staat nach solchen
Prinzipien gelenkt werden soll.
Die Ältesten von Safed erzählten nach dem Befreiungskrieg
angeblich, ihre Stadt, von einer überwältigenden Überzahl blutdürstiger
Araber belagert, sei durch zwei Umstände gerettet worden: einen natürlichen
und ein Wunder. Der natürliche Umstand für die Rettung war das Gebet. Das
Wunder war, daß die bewaffnete jüdische Widerstandstruppe Palmach
rechtzeitig eintraf.
Unter solchen Gegebenheiten verläßt man sich lieber auf
das "Wunder" als suf die "natürlichen Umstände". Finanzminister Ja'akov Ne
eman, selber ein Orthodoxer, aber nicht Ultra, hat die Sachlage begriffen.
Sein Vorschlag, die staatlich finanzierten Kultusräte abzuschaffen und vor
allem die separate Abteilung fiir Haredi-Erziehung im Unterrichtsministerium
aufzulösen, stieß denn auch auf empörten Haredi-Widerstand. Er will alle
diesbezüglichen Vollmachten den geldknappen Ortsverwaltungen übertragen. Und
er will die Geldzuweisungen für die Haredim auch neu regeln. Die
Jeschiwa-Studenten sollen seinem Wunsch nach 30 Tage Militärdienst leisten,
dafür aber nicht mehr zeitlebens die bisherige staatliche Unterstützung
erhalten. Das wäre ein Schritt, die Haredim wenigstens vom Wohlfahrtstropf
zu nehmen, der mit den Geldern der Säkularen gespeist wird. Sie müßten sich
endlich in die allgemeine Ökonomie eingliedern. Damit wäre zumindestens
vorläufig ein Rückzugsgefecht im Kampf um die Glaubensfreiheit gewonnen.
Von Alice Schwarz |