Helden:
Tom Segev über Abie Nathan und die Zeit vor dem Sechstagekrieg
Aus dem Kapitel "Helden" aus Tom Segevs Buch
1967 - Israels zweite
Geburt
Abie (Teil 1/3)
Mitte der sechziger Jahre stellte sich der Staat Israel
als eine der beeindruckendsten Erfolgsgeschichten des zwanzigsten
Jahrhunderts heraus, und die meisten Israelis hatten gute Gründe, stolz auf
ihr Land zu sein und an seine Zukunft zu glauben.
Viele saugten eifrig den fortschrittlichen Geist der sechziger Jahre auf,
der vor allem in Tel Aviv zu spüren war. Die meisten Autos auf der
Dizengoff-Straße im Herzen Tel Avivs waren europäische und amerikanische
Modelle, aber jeder vierte Neuwagen wurde in Israel zusammengebaut.
Die Modelle trugen hebräische Namen – Carmel, Gilboa, Sussita –, und es gab
sogar den Sabra, einen auffälligen Sportwagen. In Israel montiert wurde auch
die Contessa, ein Familienauto, das von dem japanischen Unternehmen Hino
gefertigt wurde. Sein Design erinnerte an amerikanische Wagen, doch der
Motor war hinten. »Warum haben Sie noch keine Contessa?«, hieß es in der
Werbung, als sei der Besitz gleichsam eine gesellschaftliche Pflicht.
Der Botschafter der Vereinigten Staaten nannte die einheimische
Autoindustrie »eines der Wunder Israels«. Doch ob nun harmloser Wunschtraum
oder größenwahnsinniges Abenteuer – dem Industriezweig war keine Zukunft
beschieden. Solange er sich hielt, war er jedoch ein weiterer Ausdruck des
israelischen Traums, der in Tel Aviv, der »ersten hebräischen Stadt«, erbaut
um einen Platz mit einem Springbrunnen, Holzbänken und Palmen, seinen Anfang
genommen hatte.
Die dortige
Dizengoff war mehr als eine Straße: Sie war ein kulturelles und
gesellschaftliches Ideal, das die hebräische Sprache sogar um ein Verb
bereicherte, das von der beliebten Wochenzeitung "haOlam haseh" ("Diese
Welt", herausgeg. von
Uri
Avnery) geprägt wurde: Wenn es hieß, man gehe »dizengoffen«, dann
meinte man damit, auszugehen und in einem innovativen, weltlichen,
städtischen Milieu zu flanieren, um zu sehen und gesehen zu werden, während
man sich nach London und New York sehnte. Käufer von Luxusartikeln fanden
hier teure Boutiquen und Schuhläden, welche die neueste Mode aus Mailand und
Paris ausstellten.
Auf den Bürgersteigen wimmelte es nur so vor Cafétischen, an denen
Schriftsteller und Dichter, Journalisten, Schauspieler und andere Doyens der
einheimischen Kultur ihren Geschäften nachgingen. Sie brauchten nicht weit
zu laufen: Das kulturelle Treiben Israels spielt sich hier im Herzen Tel
Avivs ab. Theater und Konzertsäle, Museen und Zeitungen – sie alle waren
hier. Hier wurden die neuesten Filme gezeigt und subversive Ideen in Umlauf
gesetzt.
Nicht nur eine Straße: die Dizengoff
Tel Aviv strahlte eine mediterrane Ruhe aus, dabei
kamen viele Cafégäste, die in den zwanziger Jahren in die Stadt gezogen
waren, aus Osteuropa und unterhielten sich immer noch auf Russisch, Polnisch
und Jiddisch. In den dreißiger Jahren waren Flüchtlinge aus Mitteleuropa
eingetroffen, die häufig immer noch Deutsch sprachen. Gegen Abend wechselte
das Publikum, und die Cafes füllten sich mit jüngeren Menschen, die zumeist
in Israel geboren waren. Im Café Ravel konnte man junge Frauen und Gwarwarim
betrachten -eine weitere Wortschöpfung von haOlam haseh, die sich auf junge
Männer bezog, die herumprahlten, als wären sie doppelt so alt. Sie fuhren
Vespas und Lambrettas made in Italy. Der Schauspieler und Regisseur Uri
Sohar siedelte einige Szenen seines satirischen Films »A Hole in the Moon«
im Café Ravel an, ein Film, der sich als einer der ersten über die
zionistische Moralvorstellung lustig machte.
Im Kultcafe Kassit wurde derweil über umstürzlerische Ideen diskutiert. Hier
unterschrieben der Journalist Amos Kenan und der Bildhauer
Yigal
Tumarkin einen Brief an Ministerpräsident Eschkol, in dem sie ihm
mitteilten, dass sie beschlossen hatten, gegen das Gesetz zu verstoßen und
jene nicht öffentlichen Gebiete zu betreten, die unter Militärherrschaft
standen. Sie wollten sich so mit dem Kampf der israelischen Araber
identifizieren, die seit 1948 den verschiedensten Einschränkungen
unterlagen. Hier ging es um Bürgerrechte, ganz ähnlich wie in den
Vereinigten Staaten, wo damals gegen die Rassendiskriminierung gekämpft
wurde.
Unweit des Kassit lag ein Speiselokal, dessen Besitzer alle nur Abie
nannten. Das bei Politikern und Generälen sehr beliebte Restaurant hieß
»California« und bot die ersten israelischen Hamburger an. Abie Nathan war
allseits beliebt, und zwar zu Recht, denn er strebte danach, Gutes zu tun.
Die meisten Menschen nahmen ihn indes nicht ernst - ebenfalls mit gutem
Grund. Sie mochten ihn, weil er naiv war und anscheinend nicht erwachsen
werden wollte.
Der ursprünglich aus dem Iran stammende Abie war der Sohn eines wohlhabenden
Textilkaufmanns, der die jüdischen Bräuche beachtete und zu Hause Englisch
sprach. Im Alter von sechs Jahren wurde Abie an eine katholische Schule in
Bombay geschickt, der Rest der Familie zog später nach. Er wurde zum
kompromisslosen Zionisten erzogen. So brachte man ihm beispielsweise ein
hebräisches Lied von Ze'ev (Wladimir) Jabotinsky bei, der eine
rechtsgerichtete revisionistische Bewegung anführte, die der Überzeugung
anhing, das den Juden in der Bibel verheißene Land Israel erstrecke sich bis
zum Euphrat. »Zwei Ufer hat der Jordan«, heißt es in dem Lied, »eines ist
unser und das andere auch.« Niemand machte sich die Mühe, dem kleinen Abie
den Sinn dieser Worte zu erklären.
Nach dem Schulabschluss konnte Abie sich nicht entscheiden, ob er Anwalt
oder Schauspieler werden sollte. Am Ende beschloss er, Pilot zu werden, und
trat in die indische Luftwaffe ein...
>>>
Fortsetzung...
Tom
Segev: 1967 - Israels zweite Geburt
[BESTELLEN?]
Gebundenes Buch, 800 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
ISBN: 978-3-88680-767-3
Erscheinungstermin: Mai 2007 bei
Siedler
Tom Segev schildert Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des Sechstagekriegs,
den Israel im Juni 1967 mit seinen arabischen Nachbarstaaten führte.
Spannend und kenntnisreich zeigt er, wie dieser Krieg zu einer
folgenschweren weltpolitischen Auseinandersetzung wurde, die Israel
tiefgreifend verändert hat.
Der Sechstagekrieg jährt sich im Juni 2007 zum 40. Mal.
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