Ein überwältigendes Erlebnis:
Amos Gitais "Kadosh"
Die
ultra-orthodoxe Gemeinschaft der Haredim ist Gegenstand endloser
Debatten in Israel. Die Haredim widersetzen sich jeglicher
Modernisierung und halten an einer jahrhundertealten Lebensweise fest.
Das drückt sich selbst in ihrer Kleidung aus.
Physisch und kulturell sind sie isoliert von der israelischen
Gesellschaft. An zentralen Institutionen des Staates sind sie nicht
beteiligt. Sie weichen den Medien aus und organisieren ihr ganzes
Gemeinwesen um das Studium der Bibel und die Einhaltung der
jüdisch-religiösen Gesetze (Halacha). Andererseits haben sie immensen
Einfluß auf das politische und gesellschaftliche Leben des Landes.
Dieser steht in keinem Verhältnis zu ihrer Anzahl.
Ihre Interpretation des Judentums wirkt sich in allen Bereich der
israelischen Gesellschaft aus. Das Verhältnis säkularer Israelis zu den
Haredim ist ambivalent: der Faszination auf der einen Seite stehen Ärger
und Argwohn auf der anderen Seite gegenüber. Viele Israelis schätzen die
jüdische Tradition, aber lehnen die puristischen, anti-modernen
Auffassungen und den Ausschließlichkeitsanspruch der Orthodoxen ab.
Diesem komplizierten und komplexen Thema ist "Kadosh" (Holy), der neue
Film von Amos Gitai, gewidmet. Es braucht einen klugen und sensiblen
Regisseur, um sich dieser Herausforderung zu stellen, und Gitai bringt
die nötigen Voraussetzungen mit. Er ist ein Filmemacher, der im In- und
Ausland große Anerkennung genießt. Sein Film "Day by Day" ist in Israel
sehr gelobt worden.
In "Kadosh" zeichnet Gitai ein Portrait der Konflikte zwischen Familie,
Tradition, verschiedenen Generationen und Liebenden – universale
Elemente, mit denen das Publikum etwas anfangen kann. Auf diese Art
schafft es der Regisseur, die Erfahrung des orthodoxen Lebens mit
menschlicher Tiefe darzustellen. Gitai behandelt sein Thema aus der
Sicht der ultra-orthodoxen Tradition und gibt auf diese Weise Einblick
in eine Welt, die uns fremd ist, obwohl sie direkt vor unserer Haustür
liegt.
Die Geschichte des Films dreht sich um die zwei Schwestern Malka und
Rivka sowie ihre Eltern. Rivka ist seit zehn Jahren verheiratet, aber
hat noch immer keine Kinder. Ihr Arzt ist sicher, daß sie fruchtbar ist
und das Problem auf der Seite ihres Mannes liegt. Aber in der
Gesellschaft, in der sie lebt, steht es außer Frage, daß die Schuld an
diesem Mangel die Frau trifft. Undenkbar, daß ihr Mann sich untersuchen
ließe. So verfügt der Rabbiner schließlich, daß das Paar sich trennen
muß. Das einzige Problem dabei ist, daß Rivka und ihr Mann sich aus
tiefstem Herzen lieben (ein Umstand, den der Regisseur als ungewöhnlich
darstellt.) Aber obwohl Rivkas Mutter interveniert und gegen die
Entscheidung des Rabbis protestiert, bleibt dieser unnachgiebig. Rivkas
Ehemann ist zerrissen zwischen seiner Liebe und seiner Ergebenheit in
die religiösen Gesetze, die ihm vorschreiben, fruchtbar zu sein und sich
zu vermehren.
Auch
die Geschichte Malkas, der Schwester Rivkas, setzt Liebe in Widerspruch
zu den Regeln des Gemeinschaftslebens. Malka liebt einen jungen Mann aus
der ultra-orthodoxen Nachbarschaft, der die restriktiven Regeln seiner
Umgebung nicht länger akzeptiert. Er lebt in seiner eigenen Subkultur
gemeinsam mit jugendlichen Revoluzzern und besucht seine alte Welt nur,
um seine Liebste zu sehen. Die aber ist entsprechend der Tradition schon
lange einem anderen versprochen. Malkas Hochzeit ist bereits arrangiert,
und trotz ihres hartnäckigen Widerstands kann sie ihrem Schicksal nicht
entkommen. Ihr Ehemann erscheint zunächst als eine komische Figur, als
ein seinen religiösen Studien fanatisch ergebener Gelehrter, der in
fieberhaftem Geschrei seine Gebete zu Gott herausstößt. Aber als Ehemann
erweist er sich als ein Monster und symbolisiert so etwas, das der Autor
als kriminelle Heuchelei innerhalb dieser abgeschlossenen Gesellschaft
sieht.
Gitais Film ist langsam und nachdenklich. Möglicherweise war es die
Absicht des Regisseurs, den Geist der Gemeinschaft deutlich zu machen
und eine moralische Grundhaltung zu zeigen, die ganz und gar auf das
Studium der Bibel ausgerichtet ist. Aber auch was Gitai wegläßt, spricht
für sich. Es gibt wenig Freude im Film, und man kann glauben, daß Gitai
im Leben der ultra-orthodoxen Juden Freude kaum gefunden hat. Selbst die
Atmosphäre auf Malkas Hochzeit paßt eher zu einem Begräbnis. Diese Sicht
des Regisseurs ist nicht zufällig und hat ihre Berechtigung. Und dennoch
ist das Bild des Judentums unvollständig ohne die festlichen Elemente,
die untrennbar mit ihm verbunden sind. Trotzdem hat der Film für viele
Zuschauer große Bedeutung als ein erster Kontakt mit der Welt der
Haredim. Die große dramatische Kunst Gitais und die tiefen
zwischenmenschlichen Gefühle garantieren dem Zuschauer ein
überwältigendes Erlebnis.
(Aus dem Tarbuton, Kulturabt. des isr.
Außenministeriums)
Diskussion:
forum.hagalil.com
[BESTELLEN?]
Amos Gitai, Frankreich/Israel 1999, 110 min, OmU
Das "Paket 2000" der israelischen Außenministeriums
enthielt als besonders empfehlenswerte Werke des israelischen
Filmschaffens beispielsweise die Filme "Kadosh", "Saint Clara",
"Under Western Eyes" (ein tragikomisches Roadmovie), "The Dybbuk" (eine
Adaption der berühmten Geschichte), "Passover Fever” und "Urban Feel"... |