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Judentum und Israel
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Erinnerungen an Leo Perutz:
Das Haus mit den zwei Fenstern

Von Schalom Ben-Chorin

Der Dichter Leo Perutz (Prag, 2. November 1882 - Bad Ischl, 25. August 1957), der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in Tel Aviv verbrachte, wünschte sich einmal ein Haus mit zwei Fenstern. Das eine sollte auf den Tempelplatz in Jerusalem führen, das andere auf den Wolfgangsee.

In diesem utopischen Wunsch zeigt sich der Bogen des Lebens eines begnadeten Erzählers, dem ich oft im literarischen Salon von Nadja Taussig in Tel Aviv begegnen durfte. Dieser Kreis war eine letzte Stätte der fast versunkenen Domäne deutschsprachiger Literatur in Israel. Die Gründung des Salons ging zurück auf Ernst F. Taussig, den Schwager von Max Brod, welcher bis zu seinem Tode 1968 dessen geistiger Mittelpunkt war. Perutz bemerkte einmal mit der ihm eigenen scharfen Ironie: "Franz Kafka ist die beste Romangestalt Max Brods." Vielleicht war es ihm gar nicht bewußt, daß Brod in seinem frühen Werk "Zauberreich der Liebe" (1928) die Gestalt Kafkas unter dem Namen Samuel Garta dargestellt hatte, lange bevor er eine Biographie des großen Mannes verfaßte.

In seinem nachgelassenen Renaissance-Roman um Leonardo da Vinci führt Perutz die Gestalt eines namenlosen Dichters und Bänkelsängers ein. Sie ist namenlos in einem absoluten Sinne, da die Person selbst das Bewußtsein ihrer Identität verloren hat und sich ihres Vorlebens nicht mehr zu erinnern vermag. Im Nachwort zu dieser seiner vielleicht bedeutendsten Schöpfung läßt Leo Perutz die Möglichkeit offen, den französischen Vaganten Franc.ois Villon in dem fahrenden Sänger zu erkennen.
Er trägt in einer Kneipe in Mailand ein Gedicht vor, das mit folgendem Vierzeiler endet: "Ihr guten Leut', ich kenn' der Dinge Lauf, Ich kenn' den Tod, den wilden Wüterich. Ich kenn' des ganzen Lebens Ab und Auf. Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich".

Die Worte "Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich" könnten gleichsam als Leitmotiv über dem Leben und Werk von Leo Perutz stehen. Perutz war ein geborener Erzähler, der, zusammen mit Max Brod und Lion Feuchtwanger, in unserer Zeit die Gattung des historischen Romans wieder belebt hat. Der historische Roman, der im Umkreis der deutschen Sprache durch Felix Dahn an literarischem Gewicht so sehr verloren hatte, wurde gerade durch jüdische Autoren zu neuer Bedeutung erhoben. Perutz aber unterschied sich von den meisten jüdischen Romanciers dadurch, daß er ein objektiver Erzähler war, in dessen Werk kein Raum für intellektuelle Meditation und persönliche Konfession bestand. Er meditierte nicht, sondern bildete und schuf seine Welt und ihre Gestalten so, daß in ihnen die Ideen im platonischen Sinne nur indirekt sichtbar wurden. Ihm war die Fabel nicht ein Vorwand, um philosophische Gedanken zu demonstrieren, sondern sie bildete für ihn den künstlerischen Eigenwert, der sich aus sich selbst zu erweisen hat.

Diese gewissermaßen objektive Art des Erzählens ließ für die Entfaltung des eigenen Ich keinen Raum, und so mögen die Verse Villons ihren autobiographischen Anklang in einem Werke haben, das wohl besonders frei von autobiographischen Hinweisen ist. Wenn wir sagten, daß Perutz nicht um der Ideen willen erzählte, so will das nicht heißen, daß seine epischen Werke arm an diesen gewesen sind. Vielmehr verhält es sich so, daß Ideen erst sichtbar und erkennbar werden, wenn wir gleichsam aus dem Rausch erwachen, in den uns die bunte Welt seiner Dichtung versetzt hat. Im Falle des Romans um Leonardo da Vinci ist es die Erkenntnis, daß der Stolz des menschlichen Herzens die Liebe tötet. Die Frage, warum Judas Ischarioth seinen Herrn und Meister verraten hat, eine Frage, die die Christenheit jahrhundertelang bewegte und die mannigfache Antwort fand, wird durch Perutz, soweit ich sehe, wohl mit am tiefsten beantwortet: Nicht um der Silberlinge willen verrät Judas seinen Herren, sondern weil er ihn zu tief geliebt hat. Der Stolz seines ungebändigten Herzens läßt die Liebe nicht zu. Die Erkenntnis von Leo Perutz berührt sich hier mit der Oscar Wildes, dessen berühmtes Wort aus der "Ballade vom Zuchthaus zu Reading" anklingt: "...denn jeder tötet, was er liebt". Perutz geht einen Schritt weiter und fragt: Warum tötet jeder, was er liebt? Und identifiziert den Stolz als Widersacher der Liebe. Erkenntnisse von solchem Tiefgang vermittelt er niemals direkt, sondern nur indirekt durch das Medium seiner Dichtung.

Perutz war ein Romancier, der insbesondere geschichtliche Vergangenheit in seinen Romanen neu belebte. Aber die Welt des historischen Geschehens wurde bei ihm transparent, und man spürt die mystische Welt hinter den Erscheinungen des Tages. Das Wort von Görres "Es ist ein Geheimnis hinter der Welt" könnte als Motto über den Dichtungen von Leo Perutz stehen. In seinem Roman aus dem Dreißigjährigen Krieg "Der schwedische Reiter" und in seinem zu einem Roman verdichteten Novellenzyklus aus der Prager Judenstadt "Nachts unter der steinernen Brücke" wird dieses Zwischenreich aus Bewußtsein und Traum besonders sichtbar.

Der schwedische Reiter tummelt sich auf den Schlachtfeldern Gustav Adolfs und ist zugleich der eigenen Tochter Maria Christine von Tornfeld auf ihrem abgelegenen Gehöft nahe. In "Nachts unter der steinernen Brücke" pflanzt der Hohe Rabbi Loew als ein Magier, der an den Hintergrund der Welt zu rühren vermag, Rosmarin und Rose und webt die Seelen des alchimistischen Kaisers Rudolf und der schönen Jüdin, der Frau des reichen Meisel, in diese Sträucher hinein, um sie wieder auszureißen und in die Moldau zu werfen, nachdem die Sünde aus solchem Zauber erwachsen ist. Der Kaiser und seine jüdische Geliebte leben ebenfalls in diesem Zwischenreich zwischen Traum und Tag, ohne zu wissen,ob ihr Traum ein Leben oder ihr Leben ein Traum ist. Leo Perutz selbst war solch ein Magier, der an die Hintergründe und Untergründe unseres Bewußtseins rührt.

Zu diesem Werk schrieb mir Perutz in einem Brief vom 15. August 1953 aus St. Wolfgang: "Es ist kein Geschichtenbuch oder Novellencyklus. Es ist ein in sich geschlossener Roman, eine Rabbi-Loew-Legende mit novellistisch anmutenden Kapiteln, deren jedes ein Stück der Romanhandlung in sich trägt. Keines dieser Kapitel könnte fortbleiben, ohne die Harmonie des Ganzen zu beeinträchtigen - ja, auch eine Änderung ihrer Reihenfolge, etwa im Sinn des chronologischen Geschehens, aber auch jede andere, würde das Buch um seine Wirkung bringen..."

Ein gemeinsamer Freund meinte einmal, daß Perutz seine Bücher gar nicht selbst schreibe, sondern ein "Dämon" sich seiner bemächtige und ihm die wunderlichen Erzählungen diktiere. Wer Leo Perutz nahegekommen ist, der mochte diese scherzhafte Formulierung wohl ein wenig ernst nehmen. Nichts verriet an dem stillen und bescheidenen Manne die elementare Urgewalt seines Schöpfertums. Es ist nun wohl eben so, daß die Hand der echten Dichter von einer größeren Hand geführt wird und sie mehr schreiben läßt, als sie selbst zu schreiben beabsichtigen.

Leo Perutz hat den eigentlichen Sachverhalt seines Schöpfertums in etwas andere Worte gekleidet. Nach Erscheinen seines Prager jüdischen Romans bescheinigte ich ihm in einer Rezension "tiefes jüdisches Empfinden", und das löste gewissermaßen den Widerspruch des wahrheitsliebenden Autors aus. Er schrieb mir: "Sie rühmen mir tief jüdisches Empfinden nach - leider nicht ganz mit Recht. Denn sonst müßten Sie beim Schwedischen Reiter' tief schwedisches, beim ,Marques de Bolivar' tief spanisches Empfinden feststellen. Die Wahrheit ist, daß ich bei jedem Eintritt in eine mir fremde Welt in die Haut eines mir fremden Menschen krieche und mir's dort wohl sein lasse. Einmal war es ein deutscher Landsknecht, einmal ein sizilianischer Schuster, einmal ein Dieb, einmal ein spanischer Aristokrat, und diesmal war es eben ein Prager Bänkeljud, in den ich mich einfühlte." Hier bekennt der Dichter selbst den Vorgang der Metamorphose, dem er jeweils ausgesetzt war, um sozusagen von innen her die Welt seiner Erzählungen gestalten zu können.

Leo Perutz wurde in Prag geboren, und wenn er auch seine Studienjahre und die ersten Jahrzehnte seiner schriftstellerischen Laufbahn in Wien verlebt hat, so traten ihm die Türme und Gestalten seiner Jugendstadt doch gerade wieder im Alter lebendig vor das Auge der Seele. Oft lebt er in den Jahren seines Aufenthalts in Tel Aviv mehr im Alchimistengäßchen "An der Kleinseite" in Prag als in der Gottliebstraße, wo er nun irdischerweise zu Hause war. Das Zwischenreich zwischen Traum und Wahrheit war eben sein Reich. Leo Perutz trat hinter seinem Werke zurück. Hunderttausende, die seinen Roman aus der russischen Revolution "Wohin rollst du, Äpfelchen?" in der "Berliner Illustrierten" gelesen hatten, erinnern sich dieser abenteuerlichen Geschichte und ihres melancholischen Kehrreimes:

"Wohin rollst du, Äpfelchen,
kehrst nicht mehr zurück
"...

und erinnern sich nicht mehr des Namens Leo Perutz. Seine Bücher "Die Dritte Kugel", "Zwischen Neun und Neun", "Der Meister des Jüngsten Tages" und vor allem "Das Mangobaumwunder", "St. Petri-Schnee" und "Gott erbarme dich meiner" fanden weiteste Verbreitung. Zwei Motive sind es wohl, die den Dichter hinter seinem Werke oft verschwinden lassen: Die eingangs erwähnte objektive Haltung des Oeuvre, die für das Autobiographische kaum Raum ließ, und die persönliche Zurückhaltung und Bescheidenheit des Autors, der nur durch sein Werk wirken wollte.

Leo Perutz war Mathematiker und fand selbst die "Perutz'sche Formel" für die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Synthese von mathematischer und literarischer Begabung ist höchst selten und in dieser Ausprägung wohl fast einmalig. Zunächst mag es scheinen, als ob hier ein innerer Widerspruch walte zwischen exakter Wissenschaft und traumhaftem Fabulieren, und doch erweist sich bei näherem Zusehen, daß ein innerer Zusammenhang besteht. Mit mathematischer Logik löst Perutz die verwirrenden Anfänge seiner Erzählungen endlich auf, jedes Teil derselben in die richtigen Proportionen rückend. Das Mathematische wird hier freilich ins gleichsam Architektonische transponiert, und so entsteht der logische Bau seiner Romane.

Leo Perutz lebte in Israel, ohne hier wohl ganz heimisch werden zu können. Denn seine eigentliche Heimat war jeweils die Welt seiner Erzählungen. Aber mit dem ihm eigenen Spürsinn wußte er, daß die Wurzeln unserer Existenz in Israel tief unten in den Schächten der Vergangenheit ruhen, und so erwachte seine Liebe zur Archäologie des Landes und machte ihn zu einem der verständnisvollsten Sammler antiker Funde in Israel.

Das Wort, mit dem wir unserer Toten gedenken, erhält im Falle von Leo Perutz eine besondere Bedeutung: Er schuf so viele Personen und Seelen, und in allen von ihnen ist etwas von seiner eigenen Seele verborgen, so daß wir hier in einem unmittelbaren Sinne sagen können, seine Seele möge mit eingebunden sein in den Bund der vielen Leben, die er selbst im epischen Werke geschaffen hat: "Wejizror bizror ha-Chajim eth Nischmato."

hagalil.com 17-10-04


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