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Judentum und Israel
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Aus Auswanderern werden Einwanderer

Itzhak Artzi

Vorwort

Wanderungsfragen nehmen heute auf der internationalen Tagesordnung breiten Raum ein. Die Kluft zwischen der Dritten Welt Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und den Wohlstandsländern Nordamerikas und Westeuropas, die Verletzung von Menschenrechten in verschiedenen Teilen unserer Welt, ethnische Auseinandersetzungen, vor allem aber der Zusammenbruch der Sowjetunion mit den nationalen Spannungen zwischen den Bestandteilen des früheren Imperiums und den Schwierigkeiten beim Übergang vom kommunistischen System zur freien Marktwirtschaft, all das hat den Prozeß enormer Wanderungsbewegungen beschleunigt. Diese moderne Völkerwanderung zwingt die Bestimmungsländer, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen und es politisch, administrativ, wirtschaftlich und gesetzgeberisch in den Griff zu bekommen, um die Wellen der Einwanderer zu absorbieren.

Es ist keineswegs ausgemacht, daß diese Wanderungen vor ihrem Abschluß stehen. Alles deutet vielmehr darauf hin, daß sie den Beginn des 21. Jahrhunderts begleiten werden. Die Öffnung der Sowjetunion für die Auswanderung von Juden und deren massenweise Ausreise nach Israel hat das kleine Land zu einem wichtigen Faktor in diesem Drama unserer Zeit gemacht. Nie zuvor hat ein Staat innerhalb von drei Jahren seine bisherige Bevölkerung um zehn Prozent durch Neueinwanderer vermehrt.

Die Beendigung der Dienstzeit von Botschafter Niels Hansen in Israel fiel etwa mit dem Beginn dieses Prozesses zusammen. Damals begannen die Beratungen, Abwägungen und technischen Vorbereitungen für die Eingliederung der bevorstehenden Einwanderungswelle. Hansen nahm an diesen Fragen lebhaftes Interesse. Mehrfach trafen wir uns, um über die Probleme und ihre Lösungen zu sprechen. Kraft meines Amts als Leiter des städtischen Eingliederungsdienstes im Auftrag des Stadtrats von Tel Aviv-Jaffa war ich aktiv und unmittelbar in die Bemühungen involviert, 40000 Immigranten aus der Sowjetunion in der Stadt zu integrieren, die deren Bevölkerung um 11% vermehrten. Im Rahmen dieser Aufgabe war ich von Beginn an dabei, und ich wirkte an den Beratungen und Gewissenserforschungen mit, wie die Integrierung am besten zu bewerkstelligen sei, kümmerte mich um die Schaffung der erforderlichen Instrumente und wurde mit den Erfolgen und Mißerfolgen eng vertraut.

Besondere Aufmerksamkeit widmete ich dem Problem der persönlichen Integrierung und der gesellschaftlichen Eingliederung. Ich bemühte mich um enge Fühlungnahmen, und ich verfolgte die dramatischen Situationen, die sich aus der Übersiedlung vom kommunistischen Planeten auf den unsrigen, Israel, ergaben, gekennzeichnet durch eine Mischung von Restsozialismus und kapitalistischer Marktwirtschaft.

Die Erfahrung im Mikrokosmos Tel Aviv dient als Lehre für den Makrokosmos: Für den Jubilar dieser Festschrift soll von dieser meiner Erfahrung die Rede sein, in einer Verbindung von objektiver Wissenschaftlichkeit, gestützt auf amtliche Daten, und subjektiver Reflexion.

Das System der direkten Eingliederung

Die formellen Beratungen darüber, wie die Integrierung der Einwanderer aus der Sowjetunion zu verwirklichen sei, wurden in der Knesset und in ihren Ausschüssen auf der Grundlage professioneller Referate und Arbeitspapiere geführt, die von Absorptionsminister Jaakov Tsur und seinen Beamten vorbereitet wurden.

Bei diesen Beratungen kristallisierte sich die Auffassung heraus, daß es bei der Absorbierung einer in einem Zug erfolgenden Masseneinwanderung keinesfalls möglich sein werde, das bisherige klassische Integrierungssystem weiterzuführen, nämlich die Einwanderer in Absorptionszentren zusammenzufassen. Bei allen damit verbundenen Risiken entschied man sich mehrheitlich für das Modell der direkten Integrierung: vom Flugzeug ins eigene Leben. Allen waren die besonderen Schwierigkeiten gewärtig, denen ein Immigrant ausgesetzt ist, der innerhalb weniger Stunden von der kommunistischen in die kapitalistische Wirklichkeit springt.

Trotz aller Probleme und Risiken war klar, daß es keine andere Wahl gab. Man mußte den Einwanderer ins Wasser werfen und ihm zurufen: "jetzt schwimme". Die These war, daß er letztendlich den sicheren Hafen erreichen und sich in die israelische Gesellschaft einpassen werde.

Das war der Ausgangspunkt, von dem aus mit der Strukturierung des Ministeriums und seiner Aufgabenstellung begonnen wurde. Die Integrierung der Neuankömmlinge ist Aufgabe der Regierung. Das Absorptionsministerium hat sich um das Budget zu kümmern, die einschlägige Gesetzgebung einzuleiten, die sich aus der Integration ergebende interministerielle Zusammenarbeit zu koordinieren, für ein Höchstmaß von Rechten für den Einwanderer Sorge zu tragen und nicht zuletzt um eine positive Atmosphäre gegenüber einer solchen Masseneinwanderung besorgt zu sein, bei der sich hinter allem zur Schau getragenen Pflichtbewußtsein gefährliche soziale Spannungen zwischen den Alteingesessenen und den Immigranten verbergen. Wie sieht die Durchführung aus?

Die Zeiten sind vorbei, in denen die Einwanderer von den Beamten nach deren Gutdünken mit Hilfe von besonderen Eingliederungskarten geographisch verteilt wurden. Heute praktiziert man auf dem Flugplatz ein System, das es dem Neuankömmling ermöglicht, sich am Ort seiner persönlichen Wahl direkt integrieren zu lassen. Im Flughafen wird er mit einer Geldsumme ausgestattet, einem "Eingliederungskorb", der alle seine Ausgaben für eine bestimmte kurze Zeit deckt. Der Betrag schließt auch die Normalmiete für eine Wohnung ein.

Dem Einwanderer obliegt es, sich um diese allein zu kümmern, die ersten Arrangements zu treffen, zum Beispiel für die Krankenversicherung, die Schulregistrierung der Kinder und die Beschäftigungssuche über das Arbeitsamt. Dieses System besitzt zwei herausragende Vorteile:

- Es stellt einen Anreiz für den Einwanderer dar, mit den ihm zugewiesenen Mitteln sparsam umzugehen und hauszuhalten. Je weniger er für die Miete ausgibt, desto mehr bleibt ihm für die Deckung zusätzlicher, nicht im "Korb" enthaltener Bedürfnisse.

- Die willkommene Folge ist, daß der Neubürger sich von vorneherein als eigener Herr fühlen kann und daß er nicht mehr von der Gnade der Beamten abhängt. Wenn er irrt, lernt er aus seinen Fehlern.

Das System fördert Unabhängigkeit, persönliche Verantwortlichkeit und Initiative. Diese Eigenschaften sind besonders wichtig für Menschen, die aus einem zentral gesteuerten Staat kommen, in dem sie daran gewöhnt waren, daß er sich um alles und jedes kümmert. So gesehen ist das Modell ein ausgezeichnetes Mittel, den Einwanderer zu einer neuen Mentalität und zu neuen Verhaltensweisen zu befähigen. Er gewöhnt sich damit an einen Staat mit freier, kapitalistisch geprägter Marktwirtschaft, der sich so sehr vom zentralistischen System der Sowjetunion unterscheidet.

Für den Ankömmling bedeutet der in wenigen Stunden zu bewältigende Übergang von den Existenzgewohnheiten der Sowjetunion zu einer neuen Lebensart eine Art Schock. Mittels eines kurzen Flugs wechselt der Auswanderer aus einer Welt zentraler Sicherheit, Obhut und Anlehnung und einem alles bestimmenden Staat in eine grundlegend andersartige Realität. Auf einmal besitzt er Geld, doch fehlen ihm Verbindungen. Er beherrscht nicht die Sprache. Er weiß nicht, wie man eine Wohnung findet: Wo und zu welcher vernünftigen Miete? Was steht in dem Vertrag, den er unterschreiben muß? Wie findet er heraus, welche Krankenversicherung auf der Liste vieler konkurrierender Gesellschaften für ihn paßt? Welche Schule wählt er für seine Kinder?

Und wohin wendet er sich im Falle besonderer Probleme? Die Einwanderung steckt voller Ausnahmen: Mischehen, Alleinerziehende, Problemkinder, pflegebedürftige Alte als Teil der Familie, frühere Soldaten oder Invaliden der Roten Armee, Überlebende des Holocaust, chronisch Hinfällige, Gemütskranke. In diesem Stadium des Integrierungsprozesses tritt der ehrenamtliche Helfer in Aktion. Der Ankömmling, der keine Verwandten oder Freunde hat, die ihn von Anfang an betreuen, wird auf Rechnung seines "Korbs" zeitweise in einem Einwandererheim untergebracht, das als Übergangsstation zu gelten hat. Dort findet er Freiwillige, meist Frauen, die zur Mithilfe bereit sind. Sie tun dies aus persönlichem Engagement, mit dem Willen, bei der zentralen nationalen Aufgabe der Absorbierung von Neueinwanderern mitzuwirken. Die Freiwilligen bringen ihn mit Wohnungsvermittlern in Verbindung, sie dringen auf eine angemessene Miete und helfen beim Vertrag. Sie beraten ihn bei der Lösung seiner vielfältigen Probleme, bei denen er nicht weiterweiß. Natürlich hat es derjenige leichter, der über Verwandte verfügt.

Der jetzigen massenweisen Einwanderungswelle ging eine solche aus der Sowjetunion in den siebziger Jahren voraus. Diese vergleichsweise wenigen Neuankömmlinge konnten zufriedenstellend integriert werden. Jetzt sind aus den damals Eingegliederten Eingliederer geworden. Sie halfen ihren Verwandten, nahmen sie für eine gewisse Zeit in ihre Wohnungen auf oder kümmerten sich rechtzeitig im voraus um die Höhe der Miete. Auf dem Höhepunkt der Welle entwickelte sich so ein Prozeß gegenseitiger Hilfe. Der alte Einwanderer hilft bei den ersten Schritten des neueren. Angesichts der steigenden Mietpreise waren viele Neueinwanderer daran interessiert, die Immigranten bei sich in den neuen Wohnungen wohnen zu lassen, um mit ihnen die Miete teilen zu können. Und natürlich zog man da Verwandte und Freunde vor. Es ergab sich also das schöne, einmalige Phänomen einer massenhaften enormen gegenseitigen Hilfe, welche die Kümmernisse der Eingliederung erheblich milderte.

Das System der direkten Integration ließ die örtlichen Dienststellen in der Eingliederungskette besonders wichtig werden. Ausgestattet mit gewissen Vorrechten und einem persönlichen Budget, kommt der Einwanderer in die Stadt, in den Ort. Dort muß er die sofortige Lösung für zwei Probleme finden, Wohnung und Arbeit. Deshalb ist jede Gemeinde verpflichtet, sich auf die Aufnahme von Neubürgern einzurichten, ihnen bei der schnellstmöglichen Akklimatisierung an die neuen Lebensumstände, in die sie verschlagen wurden, behilflich zu sein.

Es war klar, daß Tel Aviv-Jaffa die Pflicht hatte, als Stadt zur Absorbierung der Masseneinwanderung ihren Teil beizutragen. Dabei sahen wir die Chance, ein grundlegendes ernstes Problem der Stadt zu lösen: ihre demographische Krise. Obwohl Tel Aviv als sprudelnde Stadt, als Stadt ständigen Fortschritts gilt, litt sie seit drei Jahrzehnten unter einer Bevölkerungskrise, die zweierlei ernste Aspekte aufweist: die immer stärkere Überalterung kommt mit dem Prozentsatz der über 65jährigen nahe an 20% heran, gegenüber 9% landesweit. Parallel dazu verminderte sich die Einwohnerzahl von 360000 (bei Nacht) auf 320000, wobei es sich bei den Wegziehenden vor allem um junge Menschen handelte. Die Entwicklung wirkte sich auf den Lebensstil ganzer Stadtteile aus. Worin kommt diese Änderung zum Ausdruck? In den überalterten Vierteln geht der Verbrauch zurück. Die Leute kommen weniger auf die Straße, abends verschließen sie sich im Haus. Schulen und Kindergärten leeren sich, und vielerorts mußte man sie schließen oder anderen Funktionen zuführen. Die Folge war eine enorme Verschwendung von in den Unterbau investierten Mitteln.

Gefühlsmäßig sowohl wie durch Nachdenken merkten wir, daß die Einwanderung eine einmalige Gelegenheit bieten könnte, dieser Entwicklung zu begegnen. Und wirklich vermochten wir nach vier Jahren in Tel Aviv-Jaffa 40000 Neubürger zu absorbieren, was eine Steigerung von 11% der bestehenden Bevölkerung ausmachte. Tatsächlich brachten wir die Bürgerschaft auf die Rekordzahl zurück, welche die Stadt in den sechziger Jahren erreicht hatte. Kindergärten und Schulen füllten sich wieder. Zum ersten Mal nach vielen Jahren ergab sich das Bedürfnis, bestehende Schulen zu vergrößern oder neue zu bauen. Diese demographische Revolution gab der Stadt ihre Lebenskraft auch dadurch zurück, daß verschiedene Stadtteile sich mit Menschen von hohem Niveau bevölkerten.

Wegen der Mietpreise, die in der Peripherie niedriger als im Zentrum und im Norden der Stadt sind, zogen es viele Einwanderer vor, sich in Quartieren mit sozio-ökonomisch schwächeren Schichten niederzulassen. Die Begegnung zwischen der ansässigen und der neu hinzukommenden Bevölkerung, bei der viele einen hohen Bildungsstand und ein fortgeschrittenes Sozialniveau besaßen, hatte eine positive Änderung der Lebensumstände zur Folge. Die Schüler aus der Sowjetunion, die sich durch einen hohen Standard in den technischen Disziplinen auszeichnet, verbesserten in vielen Stadtteilen die Qualität des Schulunterrichts.

Dank dieses Systems integrierten sich die Einwanderer ebenso wie ihre Kinder in die Gemeinschaft. In diesen Vierteln bestanden auch Kultur- und Jugendhäuser, "Gemeindezentren", d. h. von der Stadt geschaffene Sozial- und Bildungsstätten. Außer Information und umfassender direkter Hilfe dienen die Zentren Studium und Spiel, und sie tragen ebenfalls zur Lösung von Freizeitproblemen bei - mit Chören, Tanzgruppen, Schwimmbädern sowie Bibliotheken auch mit russischen Zeitungen und Büchern. Im Gemeindezentrum erhält der Schüler auch Nachhilfeunterricht für die Schule. Der Immigrant aus der Sowjetunion ist ein reges kulturelles und künstlerisches Leben gewöhnt, und das Gemeindezentrum bietet alle Möglichkeiten hierzu. Mit seiner Hilfe wird sogleich eine Verbindung zur Gemeinde geschaffen, zu ihren Führern und sonst. Dies mildert Reibungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen und erleichtert es dem Einwanderer, die sozialen und psychologischen Beschwernisse der Integration zu meistern. Es ermöglicht ihm, sich schnell zu Hause zu fühlen.

Die Arbeitsbeschaffung

Das grundlegende Problem der Einwanderung beim Integrierungsprozeß ist die Arbeitsbeschaffung. Untersuchungen zeigen, daß dieses Thema in den Augen des Neubürgers sogar vor der Wohnungssuche Vorrang besitzt. Hier zunächst ein paar statistische Daten in diesem Bereich der Eingliederung der Neuankömmlinge aus der UdSSR oder deren Nachfolgestaaten. Die Arbeitssuche beginnt bei vielen Einwanderern sogleich nach der Ankunft in Israel. Der erste Schritt ist das Erlernen der Sprache. Der Staat und die Städte richteten für sie Iwrithschulen (Ulpanim) ein, die ihnen ein Schnellstudium des Hebräischen ermöglichen, Voraussetzung für die Verwurzelung und gute Integrierung im Lande. Viele Ankömmlinge verzichten jedoch aus einem guten Grund darauf: Das System der unmittelbaren Integration weist dem Einwanderer die Verantwortung für seinen Lebensunterhalt zu. Das spornt ihn zur sofortigen Arbeitssuche, sogar von ungelernter oder Schwarzarbeit mit dem Ziel an, die Einkünfte zu steigern, damit sein Lebensstandard nicht ausschließlich von dem ihm seitens der Regierung gewährten bescheidenen "Eingliederungskorb" abhängt.

Weiterer Grund für die prompte Arbeitssuche ist folgender: Nach Jahren des Mangels in der Sowjetunion trifft der Immigrant plötzlich auf die Fülle der westlichen Gesellschaft, und er möchte das Gute und Reiche sogleich genießen. Deshalb liegt ihm daran, schnell zu verdienen, selbst auf Kosten der Erlernung der hebräischen Sprache. Nach einer im Auftrag des Instituts für wirtschaftliche und soziale Studien der Histadrut von Ronni Bar-Zuri und Schuki Handels angestellten Untersuchung über die "Bedürfnisse und Vorlieben von Neueinwanderern aus Sowjetunion und GUS im Bereich von Gesundheit und Beschäftigung" begannen 50% von ihnen, sich innerhalb von drei Monaten nach dem Eintreffen in Israel um Arbeit zu bemühen, und weitere 35% nach vier bis sechs Monaten. 58% der Immigranten fanden (zum ersten Mal) Arbeit einen Monat nach Beginn der Suche. Parallel dazu fing ein recht hoher Prozentsatz gar nicht erst zu suchen an, obwohl sie vorher gearbeitet hatten; sie werden als "Ablehner" definiert, und ihnen werden keine Aussichten eingeräumt, Arbeit in Israel zu finden. Zu letzterer Gruppe gehören oft über 45jährige sowie Frauen, die in ihrem Herkunftsland in Dauerstellungen tätig waren und die als chancenlos gelten, hier ständig beschäftigt zu werden.

Die Neubürger erscheinen in bedenklichem Umfang in den Arbeitslosenstatistiken. Je länger sie hier leben, desto niedriger ihr Anteil innerhalb der Immigranten: Die Untersuchung weist aus, daß bei den Einwanderern, die unter 18 Monaten im Lande sind, der Prozentsatz der Arbeitslosen 35 erreicht und daß er später auf 28 absinkt. Bei den Neubürgern mit Arbeit ist die Quote der Teilzeitbeschäftigten höher als innerhalb der Gesamtbevölkerung; 54% gehören zu dieser Kategorie, zwei Jahre nach der Ankunft ist der Anteil auf 39% zurückgegangen. 42% üben ihre ursprüngliche oder weitgehend ursprüngliche Arbeit aus. 62% der Beschäftigten erleiden einen beruflichen Statusverlust, und vom subjektiven Standpunkt aus erklären sogar 71%, daß dies ihrer Meinung nach für sie zutreffe.

Die Neubürger beklagen sich über eine Benachteiligung hinsichtlich des Ver-diensts. Der Arbeitgeber nutzt ihre Lage aus, bezahlt sie niedriger oder beschneidet sie in ihren sozialen Rechten. Und der Einwanderer, der sich vor dem Verlust des Arbeitsplatzes fürchtet, beschwert sich weniger. Die meisten der Beschäftigten sind Angestellte, und nur 7% wurden als Selbständige integriert. Der Grund für diesen geringen Anteil liegt nicht nur in den allgemeinen Schwierigkeiten der Absorption in Israel. Er bringt auch den Mangel an Selbstsicherheit und die Orientierungslosigkeit gegenüber den Komplexitäten der Wirtschaft für Immigranten zum Ausdruck, die aus einem totalitären, zentralisti-schen Staat kommen, der lediglich Lohnempfänger kennt. Zum Glück für die mit der Absorbierung Betrauten beweisen die Neuankömmlinge viel Elastizität: Intellektuelle mit Diplomen begannen als Straßenkehrer und erfahrene Ökonomen als Altenpfleger. Die Einwanderer sind bereit, das als Übergangsphase anzusehen, doch wenn diese sich übermäßig hinzieht, erzeugt es Frustrierungen, Bitterkeit, Depressionen und Passivität gegenüber einer Gesellschaft, die sie benachteiligt, Verlust von Lebensfreude und Hoffnung. Man begreift unsere Analyse in der Tat besser, wenn man sie um die Problematik des massiven Zustroms von Immigranten vertieft, die in ihrem bisherigen Umfeld einen Status besaßen und die nun in das soziale Gewebe und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirklichkeit des Staates Israel eintreten. Die Einwanderung aus der Sowjetunion war nicht das Resultat einer politischen Vereinbarung, mit der von den beiden Staaten eine vorherige Koordinierung vorgenommen wurde. Mit dem Voranschreiten von Perestroika und Glasnost ergab sie sich von selbst, als Geschenk an die Juden, in ein westliches Land wegzuziehen, nach Israel. Die Juden der Sowjetunion wurden nicht über Nacht Zionisten. Nach mehr als siebzig Jahren Kommunismus mit der vollständigen Leugnung aller nationalen und religiösen jüdischen Werte war die neue Situation nicht vorhersehbar. Für die sowjetischen Juden ergab sich ein wichtiger Vorteil: Sie durften gehen, wohin sie wollten. Und Israel wartete auf die Einwanderung und war bereit, sie aufzunehmen. In der UdSSR gab es keinerlei Projekt oder Instrument, das eine vorherige berufliche Ausbildung der Auswanderer hätte ermöglichen können. Das ist der Grund für die Schwierigkeiten der arbeitsmäßigen Eingliederung in Israel. Mit der Öffnung der Sowjetunion standen die Juden vor folgendem Dilemma: Entweder ihr Schicksal an den mit Perestroika und Glasnost zu erwartenden Wandel zu knüpfen und zu bleiben - oder ins Unbekannte wegzuziehen. Im Lauf von drei Jahren wählten mehr als eine halbe Million Juden das schicksalhafte Abenteuer der Einwanderung nach Israel. Sogar 1993, das als "mageres Jahr" galt, kamen 77000 aus den Nachfolgestaaten der UdSSR zu uns.

Die Einwanderung brachte indessen Probleme mit sich, die wir in dieser Weise in der Vergangenheit nicht gekannt hatten. Hier einige typische Beispiele: Bis heute kamen 56000 Ingenieure gegenüber insgesamt 50000, die es vorher in Israel gab, d. h. die Angehörigen dieser Berufssparte haben sich mehr als verdoppelt. Das gleiche gilt für die Ärzte. Deren Zahl ist in Israel pro Kopf der Bevölkerung ohnehin hoch, und innerhalb von drei Jahren verdoppelte sie sich aufgrund der Ärztewelle aus dem Osten. Hinzu kam die Überschwemmung mit Ökonomen, Musikern und Künstlern aller Art. Ich erinnere mich an die Begegnung mit einer Gruppe von Zirkuskünstlern - Jongleuren, Akrobaten, Dompteuren, alle Juden. Sie wollten in Israel einen jüdischen Zirkus gründen. Sogar in diesem Beruf waren die Juden stark vertreten.

Von Beginn der Eingliederung an ergab sich ein zusätzliches Problem, auf das wir vorher nicht geachtet hatten: Die Niveauunterschiede im selben Beruf. Der Arzt aus einer abgelegenen Gegend, der nie etwas von einer modernen Ausstattung gehört oder gesehen hat, unterscheidet sich von einem Arzt aus einer Großstadt wie St. Petersburg, Moskau oder Kiew. Ein Tänzer der Oper von Taschkent besitzt nicht das Format und die Übung seines Berufskollegen vom Bolschoitheater. In formaler Hinsicht kann der Staat Israel die Angehörigen der einzelnen Berufe nicht nach örtlichen Kriterien einstufen. Sie sind alle gleich, und die Betroffenen werden keine unterschiedliche Behandlung erfahren, was sie auch nicht verstehen würden.

In allen intellektuellen Berufen entstand ein Angebotsüberschuß gegenüber der begrenzten Nachfrage. Es braucht Zeit, um hier einen Rahmen von Ausbildungsmöglichkeiten, Kursen und Prüfungen zu schaffen, womit die Lage der Einwanderer gebessert und eine minimale Gleichheit zwischen den Angehörigen eines Berufes mit dem Ziel hergestellt wird, ihre Chancen einander anzunähern.

Ein ernstes Problem stellt das Alter dar. Die Masseneinwanderung bringt Junge und Ältere, unter ihnen viele auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Aus dem Altersabstand ergeben sich persönliche Tragödien. Der Arbeitgeber zieht einen jungen Ingenieur vor, der auch bereit ist, sich an die Erfordernisse des Betriebs anzupassen, als Techniker oder einfach als gewöhnlicher Arbeiter tätig zu sein, um in den früheren Beruf langsam aufzusteigen - anstatt eines älteren, der physisch und moralisch nicht fähig ist, einen solchen Wettbewerb zu bestehen. Es entstand die soziale Kategorie der Fünfzigjährigen plus. Wenige von ihnen finden eine Arbeit in ihrem früheren Beruf. Es fällt ihnen körperlich und seelisch schwer, sich von den Jahren beruflichen Erfolgs zu verabschieden. In diesem Alter ist der Stellungssuchende schon nicht mehr zu körperlicher Arbeit fähig. In einer solchen Lage bleiben ihm - bestenfalls - einige wenige Beschäftigungsmöglichkeiten wie z. B. Wachdienste, Altenpflege und Gelegenheitsarbeiten -wobei man ihn in relativ jungem Alter fühlen läßt, daß er bereits nicht mehr als gleichwertig gilt, daß er zum Schrott gehört und daß die ihm angemessene Lösung ein Leben auf Kosten der Sozialhilfe ist.

Ich erinnere mich an den Besuch eines älteren Ingenieurs, Leiter eines Elektrizitätskombinats in einer ukrainischen Stadt. Der Mann beeindruckte mich durch seine Erscheinung. Er suchte Arbeit in seinem Beruf. Als ich mich mit einem geeigneten Betrieb in Verbindung setzte, erklärte mir mein Gesprächspartner, ein hochrangiger Direktor: "Ihr Mann paßt für eine Führungsposition, doch ist dafür keine Stelle frei. Aber selbst wenn es eine Vakanz gäbe, würde ich einem Neuling im Land eine so hochrangige Aufgabe nicht anvertrauen. Subalterne Stellen habe ich aber nicht, und auch wenn ich sie hätte: wie könnte ich einem so dienstalten Direktor den Posten eines Ingenieurs der Eingangsstufe anbieten?"

Jetzt, nachdem die Immigration abgenommen hat, entwickelt man Vorhaben für die über Fünfzigjährigen, um dieser Einwandererkategorie zu helfen. Das Absorptionsministerium erweiterte das Gutscheinsystem: Es begleicht während eines begrenzten Zeitraums das Gehalt des Einwanderers unter der Voraussetzung, daß der infragestehende Betrieb diesen im Lauf der ein oder zwei Jahre der regierungsseitig finanzierten Arbeit instandsetzt, sich dort als normaler Angestellter zu integrieren. Von Zeit zu Zeit hält man Börsen zur Arbeitsvermittlung dieser Altersgruppe ab, wo sich Arbeitnehmer und Arbeitssuchende treffen, und einige finden auf diese Weise eine Anstellung. Was die Ärzte anbelangt, so versuchte man sie in Berufen zu absorbieren, für welche sich die medizinische Ausbildung als vorteilhaft erweist. Auch in Israel verschärfte sich in den letzten Jahren das Problem der Altenpflege. Das Gesetz über entsprechende staatliche Unterstützung, mit dem alten Menschen häusliche Hilfe zur Vermeidung der Heimüberführung vermittelt wird, verstärkt das Erfordernis, in diesem Bereich erfahrene Arbeitskräfte zu beschäftigen. Umschulungskurse für Ärzte und Schwestern erbrachten für Hunderte von beruflich bisher noch nicht eingegliederten Medizinern eine akzeptable Lösung.

Der Druck der Musiker verursachte ein Phänomen, das budgetäre Probleme auf wirft, aber in kultureller Hinsicht durchaus positiv zu werten ist, nämlich die Einrichtung von Immigrantenorchestern. In Tel Aviv schuf man ein Symphonieorchester, das sich lediglich aus Einwanderern zusammensetzt. Diese bekommen ein Grundgehalt, mit dem sie von der Musik leben können. In kleineren Orten ist es eine Teilbeschäftigung, aber auch dies besitzt den wichtigen Vorzug der Eingliederung im eigenen Beruf. Selbst wenn der Einwanderer sich damit nicht den ganzen Lebensunterhalt zu verdienen vermag und er zusätzliche Arbeit annehmen muß, bleibt ihm die Hoffnung, daß er eines Tages ganz in sein Metier zurückkehren kann.

Es war klar, daß es nicht anging, das mächtige Potential von Tausenden von Wissenschaftlern zu vergeuden, die in den zivilen und militärischen Forschungsinstituten der UdSSR beschäftigt gewesen waren. Unter ihnen gab es viele, die im neuen, westlichen Klima Initiativen und Erfindungen voranbringen konnten, die auf den von ihnen mitgebrachten Fachkenntnissen und Erfahrungen beruhten. Manche wurden in bereits bestehende Einrichtungen integriert. Ähnlich wie bei den Ärzten bemühte man sich um eine berufliche Ausbildung zwecks Anpassung an die hiesigen Bedürfnisse. Für in der Forschung spezialisierte Wissenschaftler wurden "Wissenschafts-Treibhäuser" geschaffen, für sie bestimmte Zentren, in denen sie Bezüge und Forschungsmittel erhalten. Diese Zusammenführung steigert ihr Wissenschafts- und Forschungspotential und die Anwendungsmöglichkeiten ihrer Untersuchungsergebnisse.

Jede Art von auf nationaler Ebene durchgeführten Eingliederungsvorhaben wurden auch in Tel Aviv versucht.

Probleme der Wohnungsbeschaffung in Tel Aviv

Das System der direkten Eingliederung übte besonderen Druck auf Tel Aviv aus. Viele Einwanderer entschieden sich für eine Niederlassung in dieser Stadt. Sie ist bekannt und zog in erster Linie Immigranten aus den Großstädten an, die deren Lebensweise und Möglichkeiten im Bereich von Gesellschaft und Unterhaltung gewohnt waren. Tel Aviv stellt auch einen großen Arbeitsmarkt dar. Arbeitslosigkeit ist kaum spürbar, und wer Arbeit sucht, findet sie dort.

Im Gegensatz zur Beschäftigungssuche gilt dies jedoch nicht für den Wohnungsmarkt. Seit dem nationalen Regierungswechsel von 1977 unterblieb in Tel Aviv jede öffentlich geförderte Bautätigkeit. Alle Regierungen handelten nach der politischen Linie, daß die zum Wohnungsbau bestimmten Steuermittel sämtlich in der Peripherie zu investieren sind, in entfernten und in Entwicklungsregionen. Tel Aviv wurde Opfer der These, derzufolge die Entwicklung der Stadtzentren nicht mehr ermutigt werden sollte.

Bei dieser Sachlage gab es für den Einwanderer in Städten wie Tel Aviv keine andere Lösung des Wohnungsproblems als die der privat finanzierten Mietwohnung. Die verstärkte Nachfrage nach Wohnungen führte zu drastischen Mietpreiserhöhungen. Die Befreiung der Mieteinnahmen von der Einkommensteuer steigerte das Angebot von privaten Mietwohnungen, wobei deutlich wurde, daß es in Tel Aviv eine Reserve von Tausenden nicht vermieteter Wohnungen gab. Auf dem Höhepunkt der Nachfrage änderte sich demnach die Situation.

1993 mieteten die Neueinwanderer in Tel Aviv 6748 Wohnungen an, in denen sich jeweils durchschnittlich 5,7 Personen zusammendrängten. Diese große Dichte war auch das Ergebnis der hohen Mieten. War der Neubürger nicht imstande, den Mietpreis zu bezahlen, der sich um 500 Dollar im Monat bewegte, nahm er in seiner Wohnung Untermieter auf, mit denen man sich die Miete teilte. Auf Dauer sind die Immigranten so oder so den hohen Mietpreisen nicht gewachsen, die sich auf 50% und mehr ihrer durchschnittlichen Einkünfte belaufen.

Das löste einen Wegzug von Tel Aviv in Orte im Süden mit niedrigen Mietpreisen aus. Dort hatte das Wohnungsbauministerium Tausende von Wohnungen errichtet, die jedoch, in Regionen hoher Arbeitslosigkeit und ohne Beschäftigungsmöglichkeiten gelegen, leer blieben. Verkaufsaktionen und freigiebige Hypotheken bestimmten die Einwanderer dazu, in diesen Regionen Wohnungen zu erwerben. Immer mehr Neubürger verlassen Tel Aviv wegen billiger Wohnungen im Süden, doch behalten sie ihre bisherigen Arbeitsplätze bei und pendeln täglich hin und her. Dieser Prozeß schwächt die Stadt Tel Aviv. Er macht in der Tat ihre Bemühungen zunichte, die sie in die Integration investiert hatte, und wirkt sich ungünstig auf ihre demographische Entwicklung aus. Sie hat es nicht verkraftet, daß sich die Regierung ihren Erfordernissen verschloß. Ihre Führung unternahm erhebliche Anstrengungen, um die Regierungen des Likud und des Maarach zu einer Änderung ihrer Politik zu bestimmen und in Tel Aviv wieder zu bauen. Damit würde die Verwurzelung der Einwanderer erleichtert, die sich für Tel Aviv entschieden haben und dort leben und wohnen wollen. Bis heute haben die Bemühungen keine Früchte getragen.

Der gesellschaftliche Eingliederungsprozeß

Für den Staat Israel ist es Tradition, sich in die gesellschaftlichen Entwicklungen einzuschalten. Diese Haltung ergibt sich aus unserem zionistischen Erbe. Zur Zeit der Blüte der zionistischen Bewegung glaubten viele daran, daß es möglich sei, den Menschen zu ändern und ihn Lebensumständen anzupassen, die auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Ideale gegründet sind. Kibbuz und Moschaw sind dafür klassische Beispiele. Wer meint, daß diese Werte für die Eingliederung maßgeblich sind, wird stets der Bemühung Wichtigkeit beimessen, dem Neueinwanderer aktiv dabei zu helfen, sich auf das Leben im Staat Israel einzustellen und hier so schnell wie möglich auch gesellschaftlich Wurzeln zu schlagen. Wenn Israel, das etwa hundert jüdische Stämme aus der ganzen Welt aufgenommen hat, heute ein geordneter demokratischer Staat und eine auskristallisierte Gesellschaft ist, die mit innerer Disziplin solidarisch um ihre Existenz ringt, so ist dies das Ergebnis eines ständigen gesellschaftlichen Erziehungsprozesses.

Israel entwickelte für Information und Bildung Werkzeuge, die es dem Emigranten erleichtern, zum Immigranten zu werden. Es ist natürlich, daß die Frage der gesellschaftlichen Eingliederung bei der Einwanderung aus der Sowjetunion einen wichtigen Platz einnimmt. Rußland war zwar die Heimat des Zionismus und der Wiederbelebung der hebräischen Sprache. Indessen trachtete das kommunistische Regime seit 1917 systematisch danach, die Juden der Sowjetunion in jeder Hinsicht der Judenheit der sonstigen Welt, seiner Religion und seinem Erbe zu entfremden. Die zionistische Idee unterlag einem Prozeß der Delegiti-mierung und Verleumdung, und der Zionismus wurde als imperialistisch, destruktiv, sozusagen als Bewegung pervertierter nationalistischer Instinkte dargestellt. Bei dieser antizionistischen Kampagne wurde alles getan, um das Ideal der Rückkehr unseres Volkes in seine historische Heimat als ein Übel zu verunglimpfen, das den Weltfrieden bedrohe und den Menschheitsidealen zuwiderlaufe.

Nach dieser Gehirnwäsche über Generationen galt es dem Einwanderer, der durch solche Greuelpropaganda vergiftet war, das wahre Israel, das Wesen der nationalen Wiedergeburt, den Aufbau des einen Volkes aus den Überresten von Gruppen und Stämmen, die Menschheitsidealen verpflichtete Nation darzustellen. Der Existenzkampf der jüdischen Gemeinschaft im Lande Israel, der Terrorismus, das Phänomen der Intifada - sie mußten dem Neuankömmling erläutert werden, womit all das, was er zu wissen glaubte und gehört hatte, widerlegt wurde. Eine zentrale Aufgabe der gesellschaftlichen Eingliederung war auch, die Immigranten mit dem jüdischen Erbe und mit den Werten des Judentums vertraut zu machen, ihnen die Einsicht in die politischen Ereignisse und Abläufe hierzulande, in die Phänomene der Demokratie, die ihnen manchmal mit den Augen der totalitären Propagandisten als unwirksames und verwerfliches System galt, zu erleichtern.

Aufklärung und Erziehung zum freiheitlichen Leben in Israel beginnen bereits im Ulpan. Dort werden Vorträge gehalten, man begeht gemeinsam die Feiertage, unternimmt Ausflüge zum Kennenlernen des Landes, ermutigt Zusammentreffen zwischen Alt- und Neubürgern. Am wichtigsten ist es, den Einwanderer unserem Gemeinwesen näherzubringen, in dem er nun lebt. Zusätzlich zu dieser geistigen Dimension kommt es darauf an, die Immigranten einfach in die Gegebenheiten des täglichen Lebens der Gemeinschaft zu integrieren. Er muß unsere Einrichtungen, Akteure, Lebensweise, Lebensregeln kennenlernen und wissen, wie alles läuft.

Wie stets beim Strom der Einwanderung kommt auch heute der jungen Generation eine wichtige Rolle bei der Integrierung der Eltern zu. Bei den Schülern in den Schulen geht der Absorptionsprozeß schneller vonstatten als bei den Erwachsenen. Es ist deshalb in einem fortgeschritteneren Stadium natürlich, daß die Jungen nach der eigenen Eingliederung diese nun ihrerseits praktizieren. Von der Regierung wurde ein Radioprogramm auf russisch eingerichtet. Es trug ebenso wie die wachsende Zahl hiesiger russischsprachiger Zeitungen und Zeitschriften für die nach freier Presse dürstenden Einwanderer wesentlich dazu bei, daß diese mit den Realitäten des Landes Israel vertraut wurden. In Tel Aviv schalteten wir den Privatsender "Stimme des Friedens" von Abi Nathan ein, und täglich verbreiteten wir damit Informationen und Tips, die für die Immigranten in der Stadt und im ganzen Land von Interesse waren. Das füllte besonders vor Schaffung des erwähnten Rundfunkprogramms der Regierung eine wesentliche Lücke.

Die Ankunft der Einwanderer aus der Sowjetunion war zu Beginn von einer mächtigen Welle von Sympathie und Solidarität der Bürger begleitet. Es war eine Zeit der Euphorie. Wir wurden Zeuge einer massiven Mobilisierung von Menschen, die etwas für die Neuankömmlinge tun wollten: Einladung nach Hause, Spenden von Möbeln und Kleidern, Aufnahme während der Feiertage, Begleitung zu den Behörden usw. Noch nie zuvor hatte ein Immigrationsprozeß in der Öffentlichkeit so viel Sympathie ausgelöst wie der aus der Sowjetunion. Wie bei jedem gewaltigen, historischen Ereignis solcher Art schwächten sich diese Auswirkungen dann ab. Heute ist die Einwanderung aus dem früheren Sowjetimperium zu einer alltäglichen, banalen Begebenheit geworden. Auch jetzt sind noch Freiwillige engagiert, doch hat diese Hilfe den Charakter eines Ausbruchs, von spontaner Begeisterung verloren. Sie erfolgt vor allem über öffentliche Organisationen des Establishments. Die Einwanderer von 1989, die ältesten innerhalb der Welle, haben sich bereits selbst aktiv in den Eingliederungsprozeß eingereiht. Sie stellen heute ein Element der Stabilität dar, das nach und nach seinen Platz im Lande findet, das sich als Teil des Landes und der israelischen Gesellschaft zu fühlen beginnt und das bereits zur Integrierung derjenigen einen Beitrag leistet, die dieses Stadium noch nicht erreicht haben. Die halbe Million von Immigranten, die seit 1989 Israel überfluteten, sind heute Teil der israelischen Gesellschaft geworden - im Guten wie im Schlechten, im Freudigen wie im Traurigen. Die Einwanderer haben noch nicht zur Gänze integriert werden können. Noch gibt es Probleme mit der Sprache und der Mentalität. Viele warten noch auf die berufliche Eingliederung. Die Lösungen bei den über Fünfzigjährigen, von denen die meisten außerhalb des Integrationskreises stehen, sind kein Anlaß zur Beruhigung. Das Eingliederungsnetz steckt noch voll ungelöster böser Probleme. Doch der Absorptionsprozeß macht Fortschritte und verbessert sich. Angesichts der Unsicherheiten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und der Bereitschaft Israels, die dortigen Juden mit offenen Armen aufzunehmen, ist mit einem Fortgang der Einwanderung in relevantem Ausmaß zu rechnen.

Die Integrierung hinsichtlich der politischen Parteien

Die Einwanderer aus der Sowjetunion spielen in der Demokratie Israels eine wachsende Rolle. Sie sind für neun Mandate (von 120) in der Knesset gut, und angesichts des geringen Abstands zwischen dem rechten und dem linken Lager meint man, daß sie bei den letzten Wahlen den Ausschlag gaben und den Likud aus der Macht verdrängten. Zwei Drittel ihrer Stimmen gingen zur Linken, und nur ein Drittel wurden den vom Likud angeführten rechten Parteien gegeben. Das war keine ideologische Entscheidung, sondern eher ein Protest. Die Immigranten brachten damit die Gegnerschaft zu einer Regierung zum Ausdruck, die, wie sie glaubten, bei ihrer Integrierung versagt hatte. Ideologisch gesehen waren die Einwanderer mit ihrer Ankunft im Staat Israel noch nicht zu Anhängern unseres kapitalistischen Systems geworden. Trotz der Entfernung wurden sie von den Geschehnissen in ihrem Herkunftsland beeinflußt. Das Scheitern der Liberalisierungsversuche in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bestärkte sie in der Einschätzung, daß das dortige System auch für den Staat Israel nicht tauge. Aus Analysen wird klar, daß sie sich im Verlauf ihrer Verwurzelung im Lande politisch zunehmend nach rechts orientierten, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern vor allem in außenpolitischer Hinsicht. Der Neueinwanderer glaubt eher an eine Politik der Stärke als an Bemühungen um Frieden. Aus einer Ende 1993 angestellten Untersuchung geht hervor, daß die Wahlen, wären sie erst im Dezember 1993 abgehalten worden, für die Linksparteien nur einen Anteil von 20%, für das rechte Lager dagegen einen solchen von mehr als 40% ihrer Stimmen erbracht hätten. Anstelle von fünf Mandaten hätte die Linke seitens der Einwanderer nicht mehr als zwei oder drei errungen. Die Immigranten mögen auch nicht den Kompromiß der Arbeiterpartei mit den orthodoxen und religiösen Parteien. Drei Viertel der Neubürger sind gegen die entsprechende Gesetzgebung eingestellt und nehmen laizistische Positionen ein. Es ist anzunehmen, daß beide Lager mit lebhafter Aufmerksamkeit die politischen Entwicklungen bei den Einwanderern verfolgen, von denen die Machtverteilung in Israel künftig zunehmend abhängt.

Nachwort

Mit der Einwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten hat Israel an die große Zeit des Zionismus anknüpfen können. Jede Nacht landeten Flugzeuge mit Menschenmassen aus allen Teilen des riesigen Imperiums. Wer hätte vor der Perestroika träumen können, daß es ihnen eines Tages vergönnt sein würde, dessen hermetisch verschlossene Grenzen zu überschreiten? Der Kampf Israels, das von seinem treuen Bundesgenossen, der Judenheit der ganzen Welt, sowie von all den anderen unterstützt wurde, die auf eine Öffnung der gesperrten Tore drängten, hatte Früchte getragen. Diese breite Front zwang das kommunistische Reich in die Knie. Die Juden riefen nach Repatriierung, nach der Rückkehr in ihre Heimat.

In jedem Einwanderungsland bewirkt eine Welle dieses Ausmaßes Spannungen und Differenzen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen vor dem Hintergrund des Wettbewerbs um Arbeit, Wohnung und Studienplatz. Die Reibungsflächen sind groß. Das kommt in Demonstrationen und offenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen zum Ausdruck. Die Einwanderung aus der Sowjetunion erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem Israel sich mit Arbeitslosigkeit und Intifada in einer schwierigen Lage befand. Es gab viele Altbürger, die unzufrieden darüber waren, daß sie einen Arbeitsplatz suchten und dabei mehr als einmal einem Neueinwanderer weichen mußten. Es ist selbstverständlich, daß sich vor diesem Hintergrund Spannungen einstellten. Doch gab es keine eigentlichen Demonstrationen gegen Immigranten. Und es gab keine Organisation, die es für richtig hielt, unsere Grenzen vor diesen oft als fremd und seltsam empfundenen Einwanderern zu schließen. Mehr noch: Die Welle, die zur Zeit des Ausbruchs des Terrors und der Intifada anlangte, wirkte sich günstig auf die Moral des Landes aus. Sie ist ein Beweis dafür, daß Israel trotz allem Anziehungskraft besitzt, und für die Hoffnung, daß noch Hunderttausende kommen werden, um die Bevölkerung unseres Staats einmal auf über fünf oder sechs Millionen anwachsen zu lassen.

Seit zwei Jahren hat der Umfang der Einwanderung abgenommen. Die Eingliederungsschwierigkeiten im Lande schreckten viele vom Kommen ab. Doch hat sich die Einwanderungspolitik Israels nicht geändert. Wir sind ein Staat, dessen Tore für jeden Juden, der zu uns will, offen sind. Im Zeitalter der Auswanderung und Flucht aus dem Osten Europas, die sich aus der dortigen Lage nach dem Zusammenbruch des Regimes ergab, in den Westen und in seine stabileren Staaten hat Israel das Konzept der Immigration gehütet. Es hat Auswanderer, die ein neues Haus wählten und suchten, zu Einwanderern gemacht, die eine Heimat gefunden haben. Die Einwanderung ist eine nationale Aufgabe, und sie hat bewiesen, daß die israelische Gesellschaft trotz aller Änderungen, der sie unterworfen war, in ihrem Wesen eine vom zionistischen Geist geprägte Gesellschaft geblieben ist, getreu dem höchsten Gebot der Bewegung zur Auferstehung des jüdischen Volkes: Das Land Israel ist Heimat jedes Juden, der dort leben will.

Aus der "Festschrift aus Israel", herausgegeben 1994 zum 70. Geburtstag von Niels Hansen, ehemals deutscher Botschafter in Israel: Recht und Wahrheit bringen Frieden.

hagalil.com 22-10-2004


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