Moral und Realpolitik:
Zum Verhältnis zwischen Deutschland und
Israel
Eine Besprechung von
Benyamin Neuberger
in
"Die politische Meinung", Monatsschrift
zu Fragen der Zeit / Februar 2004
Moral und Realpolitik im Verhältnis
zwischen Deutschland und Israel
Niels Hansen,
Aus dem
Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen
Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Verlag
Droste, Düsseldorf 2002, 891 Seiten, 49,80 Euro.
In den ersten Jahren nach der Schoah
sah die
Mehrheit des jüdischen Volkes - in Israel und in der Tat in den
Vereinigten Staaten - den Bruch in den Beziehungen mit Deutschland
als endgültig und ewig. 1949 rief der Herausgeber der Zeitung Ha'aretz, Gershon Schocken, dazu auf, allen gesellschaftlichen
Kontakt mit Deutschen abzubrechen sowie noch in Deutschland lebenden
Juden die Einwanderung nach Israel zu versagen.
Jede Einfuhr von
Büchern, Zeitschriften und Zeitungen aus Deutschland (aber nicht aus
Österreich!) war absolut verboten. In die israelischen Pässe wurde
ein Vermerk gestempelt, dass der Inhaber nicht befugt sei,
Deutschland zu besuchen (wieder im Gegensatz zu Österreich). Bei der
Sozialistischen Internationale weigerten sich Mitglieder der MAPAI
(der Arbeiterpartei) sogar, Kontakt mit Deutschen aufzunehmen, die
jahrelang in Konzentrationslagern der Nazis oder politische
Flüchtlinge gewesen waren. Es bestand totaler Boykott gegen deutsche
Produkte, und alle sprachen vom "Volk der Mörder".
Deutscherseits gab es in diesen Jahren
keine intensive Auseinandersetzung mit der Schoah. Alle waren mit
dem Wiederaufbau Deutschlands beschäftigt und nicht mit dem
Völkermord an den Juden. Die Umfragen wiesen aus, dass ein
beträchtlicher Teil der Bevölkerung noch antisemitisch war (1952
34%!), das Wort "Jude" war tabu, und auf die Schoah nahm man auf
indirekte und abgeschwächte Weise Bezug (als "Unrecht", das "im
Namen des deutschen Volkes" geschehen sei).
Geschichtsbewusstsein
In den Jahren 1951 /52 begannen die
Dinge sich zu ändern - hauptsächlich dank Adenauer und Ben Gurion.
Beide bewiesen Mut, Führungsstärke, Grundsatztreue und taktisches
Geschick, Entschlossenheit und historisches
Verantwortungsbewusstsein. Fesselnd ist es vor allem, in dem Buch zu
verfolgen, wie ein jüdischzionistischer Arbeiterführer, welcher "der
Alte" genannt wurde, und ein bürgerlicher, deutsch-katholischer
Politiker, der ebenfalls "der Alte" hieß, in ähnlicher Weise Moral
und Realpolitik, Wertvorstellungen und staatsmännische Logik
miteinander verbanden.
Die Verknüpfung von Moral und
Realpolitik bei Ben Gurion und Adenauer ist wahrlich das zentrale
Thema des Buches. Zweifellos war die Realpolitik für Ben Gurion
wichtig bei seinem Entschluss, Beziehungen mit Deutschland zu
etablieren. Er vermutete, dass sich Deutschland zu einer
europäischen Macht und zum Schlüsselstaat in NATO und Gemeinsamem
Markt entwickeln und als solche auch eine wichtige Rolle im
Mittleren Osten spielen werde. In einer Zeit, als Großbritannien
(dem Ben Gurion stets misstraute) sich aus der Region zurückzog und
die USA Eisenhowers und Dulles' ein westlich-arabisches Bündnis
gegen die Sowjetunion (Bagdadpakt) anstrebten, wäre es nach Meinung
des "Alten" töricht gewesen, Deutschland in die Arme der Araber zu
stoßen. Ben Gurion sah in Deutschland auch eine Sicherheitsstütze
"für einen regnerischen Tag" (der sich anscheinend schon bald
einstellte, was der Verkauf von Uzis an Deutschland, die Lieferung
amerikanischer Tanks und Helikopter mit deutschen Mitteln sowie der
Bau von U-Booten für Israel in Deutschland bewiesen). Das Denken in
Realpolitik brachte ihn sogar dazu anzunehmen, die Beziehungen mit
Deutschland würden den Israelis die Türen zusätzlicher Staaten (wie
zum Beispiel das Spanien Francos!) öffnen, an deren Schwelle Israel
anklopfte. Am wichtigsten waren aber wirtschaftliche Erwägungen, die
sich aus dem Entschädigungsabkommen ergaben. Der Staat befand sich
zu Beginn der fünfziger Jahre in einer Wirtschaftskrise, die so weit
ging, dass die Schulden nicht bedient werden konnten und die
staatliche Ölversorgung nicht mehr gewährleistet war. Der Gouverneur
der Bank von Israel, David Horowitz, hielt in dieser Zeit die
Shilumim für die einzige Möglichkeit, den Zusammenbruch zu
verhindern.
"Das andere Deutschland"
Ben Gurion forderte immer wieder, der
Staat müsse gemäß staatlicher Logik handeln und sich nicht von
"unrationalen Gefühlen" leiten lassen. Sie lehnten deshalb den
Vergleich der Opposition mit dem von der Weltjudenheit nach der
Inquisition über Spanien verhängten Boykott ab, denn diese Judenheit
sei ja ein Volk ohne Staat gewesen, das nicht nach "staatlicher
Logik" gehandelt habe. Trotz der Realpolitik, die er nicht
verheimlichte, war die Einstellung Ben Gurions auch verankert in der
Überzeugung von Werten, Moral und Gerechtigkeit. Nach Ansicht Ben
Gurions galt es, die Schuldigen zu hassen und zu bestrafen, die
Nazis. Aber nicht ihre Kinder und auch nicht diejenigen der
Generation der Täter, die sich nichts hatten zu Schulden kommen
lassen. Wieder und wieder zitierte er die Bibel: "Die Väter sollen
nicht für die Kinder noch die Kinder für die Väter sterben, sondern
ein jeglicher soll für seine Sünde sterben" (5. Buch Mose, Kapitel
24,16). Und: "In selbigen Tagen wird man nicht mehr sprechen: Die
Väter haben Heringe gegessen, und die Zähne der Kinder sind stumpf
geworden. Denn der Mensch wird für seine Sünde sterben" (Jeremias,
Kapitel 31,28-29). Er wandte sich gegen den Ausdruck "Volk der
Mörder" und widersprach damit nachdrücklich der "Kollektivschuld".
Immer wieder sagte er: "Adenauer ist nicht Hitler. Wenn er Hitler
wäre, dann hätte er sich so verhalten wie Hitler." (Er sah dafür in
Nasser "Hitler" und erbat gegen ihn die Hilfe Adenauers, "der nicht
Hitler ist".)
"Das andere Deutschland" war die
Devise, die dank seiner Politik die fünfziger Jahre bestimmte. Durch
Hansen wird klar, dass Ben Gurion bereits im März 1933 (!), zwei
Monate nach dem Machtantritt Hitlers, auf die Feststellung Wert
legte, dass das Deutschland Hitlers nicht alle Deutschen
repräsentierte, dass es "ein anderes Deutschland" gab.
In der Tat, es bestand bei Ben Gurion zufolge Hansen eine Synthese
zwischen Moral und Realpolitik, die manchmal schwer zu trennen ist.
So ist "das andere Deutschland" das Deutschland, das für die Welt
keine Gefahr mehr darstellt (Realpolitik), aber auch dasjenige, das
aus seiner historischen Erfahrung gelernt hat (Moral). Die
Beziehungen zu Deutschland werden nach Auffassung Ben Gurions zur
Stellung Israels beitragen (Realpolitik) und seine Existenz sichern
(Moral). Eine Politik, die Deutschland in die Arme der arabischen
Welt triebe, würde eine "Dummheit" darstellen (Realpolitik), und ein
"Verbrechen", weil sie die Überlebenden der Schoah gefährdete
(Moral).
Ben Gurion und diejenigen, die ihn in
seiner Deutschlandpolitik unterstützten (in erster Linie Sharett und
Goldmann), hatten die Politik Frankreichs gegenüber Deutschland nach
dem Zweiten Weltkrieg vor Augen, die sich ebenfalls aus Realpolitik
und Moral speiste.
Hansen sieht eine ähnliche Mischung
von Realpolitik und Moral auf Seiten Adenauers. Adenauer betonte
bestimmt, dass Beziehungen mit Israel die Wiederaufnahme
Deutschlands in die Völkerfamilie erleichterten, zum Verhältnis zu
den USA beitrügen und den Gesprächen mit den Siegermächten über die
Entschädigungsregelungen förderlich seien. Adenauer bediente sich
auch manchmal in der Sache scheinbar antisemitischer Motive, wenn er
mit der wirtschaftlichen Macht der Juden in den Vereinigten Staaten
und weltweit bei den Banken die Eliten seiner Partei und die
deutsche Öffentlichkeit davon überzeugen wollte, dass sich das
Shilumimabkommen für Deutschland "lohne". Während er für den
Hausgebrauch den realpolitischen Aspekt hervorkehrte, versuchte er
ihn gegenüber dem Ausland zu verheimlichen. Trotzdem hat Hansen
offensichtlich Recht damit, dass die Aufnahme Deutschlands in die
"Weltfamilie" - im neuen Europa, im Gemeinsamen Markt, in der NATO,
in den USA - faktisch bereits schon vor den Beziehungen zu Israel
akzeptiert war. Und er sagt zudem, dass die Siegermächte erst recht
keine Begeisterung über das Shilumimabkommen an den Tag legten. Denn
sie befürchteten, dass es erneut auf Kosten des deutschen
Rüstungsbudgets im Rahmen der NATO und der antisowjetischen Allianz
gehen werde.
Adenauers Vergangenheit
Hansen überzeugt mit seiner
Argumentation, dass der moralische Aspekt bei Adenauer viel
wichtiger als der realpolitische war, und vielleicht diente die
Betonung der Realpolitik in Wirklichkeit als Tarnung für eine
Politik, die hauptsächlich von Grundsätzen und Moral bestimmt war.
Sehr wichtig in diesem Zusammenhang ist es, sich die Vergangenheit
Adenauers und seine Beziehungen zu den Juden zu vergegenwärtigen.
Als Oberbürgermeister von Köln in den
Jahren 1917 bis 1933 und Mitglied des Preußischen Staatsrates von
1921 bis 1933 tat sich Adenauer durch seine engen Beziehungen zu den
Juden hervor, die er wegen ihrer Beiträge zu Wirtschaft,
Wissenschaft und Kultur sehr schätzte. Schon in den zwanziger Jahren
wurde er deshalb von der Nazipresse angegriffen. So attackierte zum
Beispiel am 23. Juni 1928 der nationalsozialistische "Westdeutsche
Beobachter" Adenauer wegen seiner Beziehungen zum jüdischen Bankier
Louis Hagen und nannte ihn einen "Verbündeten des negroiden
Rassejuden". In anderen Veröffentlichungen wurde Adenauer selbst als
"Blutjude" bezeichnet. In den Zwanzigern gehörte Adenauer in Köln
dem prozionistischen Pro Palästina-Komitee an, und in seinen Reden
würdigte er die zionistische Unternehmung als Werk der Erneuerung
und des Friedens.
Nach dem Machtantritt der Nazis wurde
er (im März 1933) seines Amtes als Oberbürgermeister enthoben, als
er sich (im Februar 1933) geweigert hatte, Hitler in Köln persönlich
zu empfangen. 1934 wurde er verhaftet, 1944 erneut eingesperrt und
beinahe von der Gestapo ermordet. Seine Frau, die ebenfalls
festgesetzt wurde, versuchte im Gefängnis Selbstmord zu begehen und
starb 1948 an den Folgen der Haft. Und Hansen berichtet weiter, dass
Adenauer, als er 1945 von den Engländern wieder als
Oberbürgermeister von Köln berufen wurde, sogleich die Rückkehr
überlebender Juden in die Stadt ermutigte und begann, sie von den
Nazis zu säubern, ein Unterfangen, das den Briten übertrieben
schien, weswegen sie ihn nach ein paar Monaten wieder entließen.
Hansen vertritt den Standpunkt, dass
die moralischen Motive auch bei Adenauers Politik gegenüber Israel
ausschlaggebend waren. Im Gegensatz zu vielen, die behaupteten, die
Verbrechen seien von wenigen begangen worden, zögerte er nicht, von
der Schuld "des deutschen Volkes" oder "eines großen Teils des
deutschen Volkes" zu sprechen. Er erinnerte daran, dass nicht nur
die Gestapo und die SS, sondern auch das Militär an den Untaten
beteiligt war. Als gläubiger Katholik übte er auch Kritik am
Verhalten der Kirche. Immer wieder sprach er von einer "moralischen
Schuld" und von einer "kollektiven Verantwortung" des deutschen
Volkes (doch lehnte auch er natürlich eine allgemeine kriminelle
Kollektivschuld ab). Er zögerte nicht zu sagen, dass "ich mich nach
1933 manchmal sehr geschämt habe, Deutscher zu sein". Wiederholt
sprach er von der "moralischen Verpflichtung gegenüber dem jüdischen
Volk und Israel" und von seiner Pflicht und der Pflicht des
deutschen Volkes, für das Verbrechen zu sühnen.
Unter den härtesten Gegnern seiner
Israelpolitik befanden sich Verfechter der Realpolitik im
Außenministerium, die eine Beeinträchtigung der Stellung
Deutschlands in der arabischen Welt befürchteten; sie befanden sich
ebenfalls im Finanzministerium, wo sie von den erheblichen
finanziellen Engagements wenig erbaut waren, und in der Industrie,
wo sie sich angesichts der damals besonders nachdrücklichen
arabischen Boykottdrohungen um ihre Geschäfte in der arabischen Welt
Sorgen machten.
Diese Tatsache beweist, dass die
alleinige realpolitische Auslegung seiner Politik also nicht zu
überzeugen vermag. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf
hinzuweisen, dass Adenauer sich in seiner Politik nur auf etwa die
Hälfte seiner Partei, der Christdemokraten, der Deutschen Partei und
der Flüchtlingspartei zu stützen vermochte. Sein Erfolg wurde nur
dadurch gesichert, dass sich die Führung der sozialdemokratischen
Opposition eindeutig auf seine Seite schlug. Die
Parlamentsabgeordneten der sozialdemokratischen Opposition waren in
den fünfziger Jahren ganz überwiegend ehemalige Inhaftierte oder
Emigranten, und niemand zweifelte daran, dass ihre Motive
ausschließlich moralischer und nicht realpolitischer Natur waren.
Es ist also fesselnd zu sehen, wie
sich sowohl bei Ben Gurion als auch bei Adenauer Realpolitik und
Moral miteinander verbanden. Bei beiden Führern ist offenkundig,
dass die von ihnen über die Ströme von Blut gebaute Brücke ihre
historische Größe mit geprägt hat. Beide waren demokratische Führer
autoritären Stils, beide gebildet und Kenner der Bibel, beide
bestimmt von riefen historischen Überzeugungen. Sie trafen sich nur
zweimal -einmal als Regierungschefs in New York 1960, ein zweites
Mal nach ihrem Rücktritt beim Besuch Adenauers in Sde Boker 1966.
Bei ihren Begegnungen stechen die Hochachtung, die sie sich
gegenseitig bezeugten, der Respekt vor den Leistungen des anderen
und die menschliche Empathie hervor.
Hansen hat ein fesselndes Buch geschrieben, ein Buch, das für die
israelisch-deutsche Geschichte nach der Schoah viele Jahre lang ein
klassisches Buch sein wird. Es wäre angezeigt, dass sich ein
Forschungsinstitut oder ein akademischer Verlag findet, der für eine
hebräische Übersetzung sorgt.
Hebräische Erstveröffentlichung in:
Gescher, Zeitschrift für jüdische Fragen, Nr. 147/2003
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Entschädigungsabkommen mit Deutschland unterzeichnet werden, um die
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Quelle: "Festschrift aus Israel",
herausgegeben 1994 von Shmuel Bahagon, zum 70. Geburtstag von
Niels Hansen, ehemals deutscher Botschafter in Israel:
Recht und Wahrheit bringen Frieden.
hagalil.com
20-03-2008 |