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Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 



Vladimir Vertlib
Namen

Ein dichter Nadelwald. Sumpfiger Grund. Im Frühjahr und Herbst versinken die Wagen auf der ungeteerten Straße im Schlamm. Auf dem einzigen Hügel weit und breit die Ruine des Herrenhauses, ein beliebter Spielplatz für Kinder. Hinter einer scharfen Biegung erscheint plötzlich das Dorf am Fluß. Felder. Brachland. Holzhäuser, die sich um die Kirche, den kleinen Hafen und die Bahnstation gruppieren. Etwas abseits die Synagoge und gleich dahinter unser Haus mit dem Schuppen, wo das Eis im Sommer gelagert wird, den Gemüsebeeten und den beiden Apfelbäumen im Garten. Seit den großen Umbrüchen hat sich hier wenig geändert. Sogar Kirche und Synagoge stehen den Gläubigen noch zur Verfügung. Im dreißig Kilometer entfernten Nachbarort ist in der Synagoge nun ein Schweinestall und in der Kirche ein Club für Atheismus – geleitet vom Juden Raikin. Sie haben schon Humor, diese Kommunisten. Und sie haben Wort gehalten, zumindest was die Elektrifizierung des Landes betrifft. Entlang der Bahnlinie, am Fluß, haben sie Masten aufgestellt, glänzende Drähte gezogen. In jedem Haus hängt jetzt ein Glühbirnchen von der Decke. Fünf Laternen beleuchten die Hauptstraße, so daß man an mondlosen Nächten nicht mehr im Schlamm ausrutscht oder in Pfützen steigt. Bald wird nichts mehr so sein wie früher. Große Zeiten stehen uns bevor.

Nur daß in unserem Dorf viele Bauern die Lichtschalter nicht anrühren, denn was in der Nacht ohne Feuer leuchtet, kommt vom Teufel, sagen sie, und die Vorsitzende der örtlichen kommunistischen Jugendorganisation "Komsomol" weigert sich am Samstag zu den Versammlungen zu kommen, weil Schabbat ist. Ich kann darüber nur lachen. Ich bin klug und gebildet, gehe schon in die neunte Klasse der Friedrich-Engels-Mittelschule, nicht irgendwo, sondern in Gomel, wo man in der großen Halle der Hauptpost telephonieren kann, wo es eine Forstwirtschaftliche Hochschule gibt und wo bald sogar Straßenbahnen fahren werden.

Mein Vater hat es geschafft. Mit der neuen Macht ist er aufgeblüht, ist selbstsicherer geworden, sieht seine große Zeit gekommen. Wer früher unter den Verhältnissen gelitten und es zu nichts gebracht hatte, der steht heute auf der Seite der Sieger. Seit 1922 ist Vater Sekretär des Dorfsowjets, obwohl ihn seine Arbeit in der Regionalen Forstkooperative, wo er ebenfalls eine fixe Anstellung hat, genügend in Anspruch nimmt. Deshalb hilft ihm meine Schwester, den nötigen Papierkram für das Sekretariat zu erledigen. In den Sommerferien, wenn ich von Gomel nach Hause komme, löse ich sie ab.

Die Arbeit ist anstrengend, aber nicht schwer. Zur Zeit wird ein wichtiges Allunionsdekret umgesetzt. Jedem Staatsbürger des Landes muß ein Personalausweis ausgestellt werden. Aus den umliegenden kleineren Dörfern und Weilern kommen die Leute in unser Gemeindeamt, wo ich hinter einem Schreibtisch sitze und mit schwarzer Tinte ein Formular nach dem anderen ausfülle, bis mir die Finger schmerzen. Leschtschenko, Sachar Kirilowitsch, wohnhaft im Weiler Bolotkino, verheiratet, Landarbeiter, geboren am ... Der junge Bauer kratzt sich am Kinn. "Achtzehn Jahre werden es wohl schon sein, daß mich meine Mutter geboren hat", sagt er, überlegt noch einen Augenblick. "Vielleicht auch neunzehn." Ich schüttle den Kopf. "Haben Sie eine Geburtsurkunde?" frage ich. Er denkt nach. "Ich hatte eine, glaube ich. Aber die ist sicher verbrannt mit dem alten Haus. Als ich auf die Welt gekommen bin, hat sich jedenfalls Antoschka, der alte Schmied, das Genick gebrochen. Das weiß ich von meiner Mutter, Gott hab sie selig."

"Ich habe nie von einem Antoschka gehört." "Hm." Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, die Stirn furcht sich zu einem Dreizack. "Es hat damals diesen furchtbaren Hagel gegeben, der die Tiere erschlagen hat, sogar Pferde." Vom großen Hagel haben mir schon andere erzählt. Das Geburtsjahr 1905 steht demnach fest. "Kennen Sie den Tag Ihrer Geburt?" frage ich. Was weiß ich. Mein Gott, Mädchen, es gibt Wichtigeres im Leben." Zum wiederholten Male weise ich auf den Stuhl. Aber er bleibt stehen, umklammert mit beiden Händen die Lehne. "Es war im Frühjahr", sagt er. "Ein paar Wochen nach der Schneeschmelze." Nach einigem Zögern trage ich den Fünften Mai in die vorgesehene Rubrik ein. 5.5.1905 – ein schönes Geburtsdatum. Für Juden ist die Fünf eine magische Zahl. Obwohl der Bauer kein Jude ist, soll er, wenn es nach mir geht, Glück haben im Leben. Er hat ein sympathisches Gesicht mit Grübchen in den Wangen und kräftige Arme. Wenn ich ihn anschaue, überkommt mich ein eigentümliches Gefühl, angenehm und beängstigend zugleich, so daß ich schnell den Blick senke.

Ein anderer Bauer legt mir eine Geburtsurkunde mit Doppeladler und ausgebleichtem Stempel vor. "Wie unser Erlöser", sagt er stolz und zeigt mit dem Finger auf das Datum. Es ist der 24. Dezember 1887. Schnell rechne ich nach und schreibe: "6. Januar 1888". Er blickt mir über die Schulter. "Aber Mädchen!!!" Ich zucke zusammen. Ein häßlicher Farbklecks breitet sich über das Blatt, verwandelt sich zuerst in einen Käfer, dann in eine Spinne. Ich taste nach dem Stofftuch in der Tasche meines Kleides.

"Der neue Kalender", murmele ich. "Der Gregorianische. Nach der Reform von 1918. Wir müssen die Geburtsdaten nach dem Kalender neuen Stils eintragen." "Ich möchte aber meinen richtigen Geburtstag behalten!" bleibt der Bauer stur. "Die Sowjetmacht hat dekretiert, daß..." Ich springe auf und schreie. Mit einer heftigen Bewegung hat der Bauer das Tintenfaß vom Tisch gefegt. Die Tinte spritzt mir auf Schuhe und Strümpfe. "Zum Teufel mit deiner Sowjetmacht, du Judengör!" brüllt der Mann und fuchtelt mit der Faust vor meinem Gesicht. "Zuerst requiriert sie mein Getreide, bis es meinen Kindern die Bäuche aufbläht, weil sie nichts zu fressen haben. Und dann nimmt sie mir nicht nur den Tag, sondern auch das Jahr. Gib mir mein Geburtsjahr zurück! Gib es mir zurück!" Ich verstehe, daß wir von den großen Zeiten noch weit entfernt sind. Der Bauer erhält, wonach er verlangt.

An den Abenden kommen mein Vater und der Vorsitzende des Dorfsowjets, um die Pässe zu unterschreiben. Links unten, auf dem Blatt mit den Personalien, setzt Vater, der Sekretär, seine Unterschrift, rechts der Vorsitzende, Iwan Murtschenko, genannt der Rote Wanjka. Im Weltkrieg hochdekoriert, im Bürgerkrieg Kommandant einer Roten Eliteeinheit, ist er für mich aufgrund seiner Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit der einzige wahre Kommunist unter den Bolschewiken. Doch an der Papierfront strauchelt er schnell. Angesichts der bereitliegenden Pässe hat er Schweißausbrüche. Er krempelt die Ärmel hoch und seufzt: "Ach! So viel Arbeit!" Wenn er schreibt, streckt er die Zunge aus, mit der er jeden mühsam gesetzten Strich auf seinem Oberlippenbart nachzuzeichnen scheint. Ein schiefes I, ein buckliges M. Am nächsten Tag werden die solcherart amtlich beglaubigten Dokumente ihren Inhabern ausgehändigt.

Eines Tages betritt eine junge Frau, sie ist vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich, die Amtsstube. Nichts in ihren Bewegungen verrät jene Mischung aus Mißtrauen, unterdrückter Angst und Ehrfurcht, die ich sonst meist erleben muß. Sie legt das Photo, das sie wohl wie alle anderen beim alten Isaak in seinem kleinen Atelier neben dem Bahnhof machen ließ, auf den Tisch und setzt sich unaufgefordert auf den Stuhl. Ihr Gesicht mit dem schmalen Mund und dem breiten Kinn kommt mir bekannt vor, aber ich denke vorerst nicht weiter darüber nach, breite mit einer über Wochen erworbenen Routine ein Formular auf dem Tisch aus, streiche über die leicht gerippte Oberfläche des breitkörnigen Papiers.

"Name?"
"Rabinowitsch. Rivka Mowschewna."
Die Stahlfeder kratzt leise und gleichmäßig. Meine O’s sind rund wie Mühlsteine, die A’s wie flinke Äffchen mit langen Schwänzen. Und plötzlich fällt mir ein, woher ich das Gesicht der Frau kenne. Aus der Mühle stromabwärts, dort wo der Bach in den Fluß mündet. Die Mühle gehörte früher der Witwe Sakodower, die 1920 während eines Pogroms ermordet wurde. Nun ist der Betrieb in den Besitz der staatlichen Kooperative übergegangen und beschäftigt drei oder vier Arbeiter. Mowsche Rabinowitsch wurde nach der Übernahme als provisorischer Leiter bestellt. Doch das Mädchen, das mir gegenübersitzt, ist nicht seine Tochter. Sie heißt Jewdokija und ist Ukrainerin. Vor zwanzig Jahren ist ihr Vater als Arbeiter am Bahnbau in unsere Region gekommen und hier geblieben. Jewdokija ist mir aufgefallen, weil sie kräftig ist wie ein Mann und die Getreide- und Mehlsäcke mit einer so verbissenen Miene schleppt, als führte sie einen ganz persönlichen Krieg gegen sich selbst und die Welt. Ich lege die Feder weg.
"Karastschuk", sage ich. "Jewdokija, eh..., Isajewna, wenn ich mich nicht irre."
Ich schaue sie an und sie mich.
"Hast du nicht gehört? Schreib, was ich dir gesagt habe!"
Keine von uns senkt die Augen.
"Geburtsurkunde", flüstere ich. Mund und Gaumen fühlen sich plötzlich so trocken an.
"Hab ich nicht", sagt sie. "Verloren, verbrannt, gestohlen... Bin ich die Hüterin der Papiere meiner Eltern?"

Die letzten Sonnenstrahlen eines spätsommerlichen Tages fallen durch das offene Fenster der Amtsstube. Die über dem Tisch an einem ungesicherten Draht hängende Glühbirne schaukelt leicht. Ein ovaler Schatten tanzt über das Gesicht meines Gegenübers. In der Dämmerung wirken ihre Augen wie hinter einem Schleier, matt und unwirklich.
"Sonst irgendwelche Dokumente? Zaristische? Deutsche? Polnische?"
"Da! Schau her! Das ist mein Dokument!" Sie macht ein unanständiges Zeichen mit den Fingern und gibt einen jener langen, komplizierten und phantasievollen russischen Flüche von sich, die mit der Mutter oder Großmutter des Adressaten beginnen und mit seinen Kindeskindern enden.
Als hätte man mich mit Exkrementen beworfen.
"Du, hör auf damit!" höre ich mich sagen. Meine Stimme ist heiser und tief. "Hör auf, sonst hau ich dir eine runter! Hör auf!"

Alles muß ich mir auch nicht gefallen lassen von diesem Luder, das kaum älter ist als ich. Ich bin nicht irgendwer. (Trotzdem haben meine letzten Worte mehr als Bitte, denn als Drohung geklungen.) Ich bin eine Amtsperson. Ich erfülle eine wichtige Aufgabe. (Sie erschlägt mich, ganz ohne Zweifel!) In der Schule in Gomel bin ich die beste der Klasse. Sogar der Direktor hat mich gelobt. (Dieser dumme Bauerntrampel ist stärker als ich!) Meine Freundinnen schätzen mich. (Sie haßt mich, gleich schlägt sie zu!)

Sie steht auf, beugt sich zu mir über den Tisch. Etwas zieht sich mir im Magen zusammen. Meine Hände drehen den Holzstiel der Feder, schneller, immer schneller. Wenn ich doch nur aufstehen könnte, um mir aus der anderen Ecke des Zimmers ein Glas Wasser zu holen. Reflexartig drehe ich den Kopf zur Seite. "Schlag mich! Versuch es!" Sie hat leise gesprochen, beinahe geflüstert. Es klingt fröhlich. Ein leichtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie setzt sich wieder, kreuzt die Arme auf der Brust, schlägt die Beine übereinander. "Ich bin nicht lebensmüde", sage ich und lächle nun ebenfalls, kann wieder durchatmen. "Was mußt du noch wissen?" fragt sie. "Geburtsdatum!" "12. Oktober 1906."

Ich spüre, wie ihr spöttischer Blick auf mir lastet. Als würden kleine Nadeln in meinen Körper dringen. Ich springe auf, laufe zur Wand, zum Lichtschalter. Die 60 Watt Glühbirne verströmt ein sattes, kaltes Licht. Das Mädchen wendet mir die milchig-bleiche Maske ihres Gesichts zu – undurchsichtig, undeutbar, wie zuvor, als sie eingetreten war. Mit den gespreizten Fingern ihrer rechten Hand fährt sie durch ihr zerzaustes, blondes Haar. Diese Geste hat etwas Beruhigendes.
"Ich mache es so, wie du willst, die Sowjetmacht ist großzügig", sage ich und frage nun doch: "Aber wozu der falsche Name? Und ein jüdischer noch dazu. Die Leute wissen ja ohnehin, wer du wirklich bist."

"Kümmer du dich um deine eigenen Angelegenheiten", antwortet sie schroff, doch habe ich das Gefühl, daß sie es mir trotzdem erzählen wird. Sie zögert einen Augenblick, mustert mich prüfend.
"Es ist nämlich so. Ich möchte in diesem elenden Kaff nicht bleiben. Meine Eltern sind sowieso tot, ich habe niemanden. Ich will was erreichen in meinem Leben. Ich geh nach Minsk oder sogar nach Moskau oder Leningrad." "Aber wozu..."

"Wozu? Gerade du solltest es besser wissen. Wer geht denn in der Stadt zur Schule, wo man all die klugen Dinge lernt, die man braucht, um irgendwann anderen anzuschaffen, anstatt Mehlsäcke zu schleppen? Du tust es und Chaim und Rahel, die Tochter des Kesselflickers, nicht Jewdokija. Wie erreicht man am besten seine Ziele in einem Land, wo die Krummnasigen regieren? Also! Schreib! Schreib! Und vergiß den Stempel nicht."

Es fällt mir schwer zu beschreiben, wie ich mich nach diesen Worten fühle. Wie mir das Blut ins Gesicht schießt, wie ich zittere, wie ich mich hasse, weil ich nichts erwidern kann. Ich habe Angst. Ich bin verwirrt. Ich bin ein kleines Mädchen. Ich hasse meinen Vater, der mir diese Arbeit aufgebürdet hat, der nicht bei mir ist und mich gelehrt hat zu schweigen. Ich hasse die großen Zeiten, die uns Glück bringen werden und die unser aller Sehnsucht sind. Ich schaue dem Mädchen nach, wie es festen Schrittes aus dem Zimmer geht und die Tür hinter sich schließt.

Jahrzehnte später sehe ich Jewdokija in Leningrad wieder. Ich habe studiert, gearbeitet, habe geheiratet, zwei Kinder geboren, habe meinen Mann verloren, seit einigen Jahren bin ich Großmutter. Der Krieg hat die alte Welt hinweggefegt, in meinem Geburtsort – zwei Dutzend dunkelgrauer Betonbauten, die sich um eine Industrieanlage gruppieren - gibt es keine Juden mehr, und seit mein Vater tot ist, habe ich meine Muttersprache Jiddisch fast vergessen. Stalin wuchs heran zum Gott und ist ganz ungöttlich gestorben. Die Ängste und schlaflosen Nächte ließ er uns zurück. Chrustschow hat alles verändert und ist vom Sockel gefallen, sein Nachfolger kriecht schnaufend auf das Mausoleum des großen Initiators, steht dort jahraus, jahrein als Symbol der Unverrückbarkeit und Sicherheit unseres Lebens.

Der Alltag ist ereignislos, die interessantesten Menschen trifft man in der Schlange vor dem Metzgerladen. Was für Gespräche habe ich dort geführt! Sie ist schon eine wunderbare Erfindung, die Mangelwirtschaft. Wann hat man sonst Zeit füreinander, außer in der Schlange, welche, einer großen Raupe gleich, vorwärts kriecht, den Kopf verliert, sich selbst regeneriert, bis die Tür des Ladens krachend ins Schloß fällt. Trippelfüßchen, Geborgenheit, Neugierde, Überraschung, Herzlichkeit und der Ellbogenchek unter die Rippen, daß du glaubst, du hauchst das Leben aus, und kommst dann meist doch noch irgendwie ans Ziel. Ein Pfund knochigen Schweinefleisches als Trophäe.

Nach so vielen Jahren erkenne ich Jewdokija, nein – ich müßte doch Rivka sagen -, sofort, obwohl beinahe alles anders geworden ist in diesem Gesicht, das mit ihrem Körper aufgegangen ist wie eine Teigmasse. Sie steht vor mir. Etwas auf der Straße erregt ihre Aufmerksamkeit, sie dreht sich um, schaut mich an, zieht die Augenbrauen hoch.
"Jewdokija?!" "Es ist ein Menschenalter her, daß mich jemand so genannt hat", murmelt sie und zwingt sich ein Lächeln ab. "Vor dem Krieg war ich Rivka Mowschewna. Heute sagen alle Raissa Markowna zu mir." Ein Augenblick des Schweigens für fünf Jahrzehnte. Reglos stehen wir einander gegenüber. "Graschdane (Bürger), schließt auf, haltet die Schlange nicht auf!" tönt es von hinten.

Eine Stunde später bin ich bei ihr zu Hause. Sie schenkt mir Tee ein. In der Erdgeschoßwohnung müssen sich mehrere Familien vier Räume teilen. Ihr Zimmer ist groß, in früheren Zeiten ist es wohl ein großbürgerlicher Salon gewesen. Trotzdem kann man sich kaum bewegen, muß sich zwischen den Möbelstücken durchzwängen, als vollführe man einen neumodischen Tanz. Das monotone Rauschen hinter der Wand komme aus der Toilette, erklärt sie mir. Seit Jahren schon sei die Spülung defekt. Ihr Mann, ein hinkender Kriegsveteran, begrüßt mich mürrisch und zieht sich in die Küche zurück. Der Sohn hält ein kleines Kind in den Armen, schaukelt es sanft. Die Schwiegertochter hat Abendschicht und ist deshalb nicht zuhause.

"Mein Jaschenka hat zwei Tage frei", erzählt mir Rivka, "ab morgen hat er wieder achtundvierzig Stunden Dienst. Er ist nämlich Krankenpfleger im Städtischen Altersheim."
"Altersheim ist gut", sagt Jascha, während er sein Kind, das in seinen Armen eingeschlafen ist, vorsichtig ins Gitterbett legt. "Ein Hundezwinger ist ein Sanatorium dagegen."
"Dabei wollte er Arzt werden." Rivka seufzt. "Er hat einen klugen Kopf, mein Jascha, fast so als wäre er ein richtiger Jude. Aber man hat ihn nicht genommen, eben weil man glaubte, er sei ein richtiger Jude."
"Jetzt fängt Mama wieder mit der Legende an, daß ich kein Jude bin." In Jaschas Stimme schwingt die Verärgerung eines Menschen mit, der es leid ist, über ein altes, längst abgehandeltes Thema zu diskutieren.
"Sie kann es bestätigen!" Die Mutter macht eine Kopfbewegung in meine Richtung. "Das ist nämlich die kleine Jüdin, die mir damals den Ausweis ausgestellt hat, du kennst doch die Geschichte..."
"Jetzt hör endlich auf!" Jascha fällt ihr ins Wort, wird laut und befreit mich von der unangenehmen Verpflichtung, als Zeugin aufzutreten. "Du mußt endlich lernen, dazu zu stehen, was du bist. Zu lange hat man auf unserem leidgeprüften Volk herumgetrampelt."
"Hörst du das! Hörst du das!" schreit die Mutter. "Ein richtiger Zionist. Gut, daß sein seliger Großvater so etwas nicht miterleben muß. Er war Sohn eines Popen."

"Mama, schau mich an!" Jascha ist aufgestanden, wendet sich aber nicht seiner Mutter, sondern mir zu. Die Arme breitet er unnatürlich nach Außen, so daß sein Oberkörper an ein Dreieck erinnert. "Wenn ich kein vollblütiger Jude bin, dann bin ich der Kaiser von Japan."
"Sehr erfreut, Eure Majestät", murmelt die Mutter.
In der Tat sieht Jascha aus, als wäre er eine lebendig gewordene Stürmerkarikatur. Die Nase wie der Hauptkamm des Kauskasus. Die Lippen sinnlich, rot wie die Fahnen bei den Aufmärschen am 1. Mai. Das schon etwas lichte Haar kraus und schwarz wie Teer, unterbrochen von einzelnen weißen Strähnen. Und in den dunkelbraunen, glänzenden Augen spiegelt sich jene altbekannte Traurigkeit - der Schmerz eines seit zweitausend Jahren unterdrückten und getretenen Volkes...
"Und der Vater...?"

"Wassjka? Kommt aus dem Dorf Peripitjulkino bei Orenburg. Der hat soviel Jüdisches in sich wie unser heißgeliebter Parteivorsitzender von einem Professor für Nuklearphysik."
Ein höchst interessantes Phänomen, denke ich. Mein Sohn Kostik hat schon recht, wenn er sagt, wir lebten im Land der begrenzten Unmöglichkeiten.
"Aber da waren doch sicher andere", frage ich schüchtern. "Ich meine, außer Wassjka."
"Was glaubst du, weshalb ich seit vierzig Jahren fast tagtäglich mit meinem Mann streite... Lauter Vorwürfe und Bezichtigungen! ... Aber nein, es geht sich in keinem einzigen Fall aus. Nur Wassjka kann der Vater sein."

Der Augenblick erscheint mir günstig, weitere Fragen zu stellen. Bereitwillig erzählt sie mir ihre Lebensgeschichte, darüber wie sie in Minsk in einer Fabrik gearbeitet, eine Abendschule und danach die Abenduniversität für Arbeiter absolviert hat, wie sie nach Leningrad übersiedelt und sich zur leitenden Angestellten eines Maschinenbaukombinats emporgearbeitet hat, wie sie zu Kriegsbeginn mit der gesamten Belegschaft der Fabrik auf den Ural evakuiert worden ist. "Wir waren Helden an der Arbeitsfront. Zehn Tage Arbeit, ein Tag frei, zwölf Stunden jeden Tag." Ende der Vierziger Jahre änderte sich plötzlich alles. Raissa Markowna – für ihre Vorgesetzten plötzlich wieder Rivka Mowschwna – verlor, des Kosmopolitismus verdächtigt, ihre leitende Position, mußte das Kombinat verlassen und sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Der Sohn durfte nicht studieren, und sogar jene fernen Verwandten in der Ukraine, an die sie sich wandte, damit sie ihr Nichtjudentum bestätigten, wollten nichts von ihr wissen.

"Laß uns in Ruhe, haben sie mir gesagt. Wenn man erfährt, daß wir mit einer Jüdin verwandt sind, vielleicht sogar selber Juden sind, dann Gnade und Gott. Du weißt ja, wie das ist. Alle sagen, du bist ein Kamel, und dann beweis einmal, daß du keines bist..."
Sie atmet schnell und laut, so als wäre sie im Laufschritt drei Treppen hinaufgelaufen. "Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, dich zu suchen, damit du meine Version bestätigen kannst. Aber dann habe ich mir gedacht – wozu sollst du für meine Dummheit geradestehen und womöglich Schwierigkeiten bekommen!"

Nach Stalins Tod war die unmittelbare Bedrohung durch Deportation und Tod für die Juden der Sowjetunion nicht mehr gegeben, die Diskriminierung aber blieb. "Diese verdammten Saujuden", schimpft Jewdokija-Rivka. "Zuerst erobern sie das Land, krempeln es um, zerschlagen alles und dann können sie nicht einmal die Macht halten und lassen sich wieder verfolgen. Der einfache Mensch kann sich auf nichts mehr verlassen. Ständig wird er von den Juden betrogen. Ein mieses Volk ist das. Entschuldige, du persönlich bist nicht gemeint." Aber ich bin nicht beleidigt.
"Du hast sicher recht, Rivka Mowschewna", sage ich.

Für einen Augenblick blitzt Wut in ihren Augen auf. Das Teeglas in ihrer Hand beginnt zu zittern, und auf ihrer hellen Bluse sehe ich braune Punkte gleichförmig wachsen. Sie stellt das Glas auf den Tisch und bedeckt - eine nutzlose Verlegenheitsgeste - mit den Händen den beschmutzten Teil der Bluse. Ich sollte aufstehen und sie in die Arme nehmen, ihr von mir und ähnliche und noch viel schlimmere Geschichten erzählen, etwas Banales sagen, das alles viel leichter und gleichzeitig viel schwerer macht. Ich bleibe sitzen.

"Und nun möchte Jaschenka nach Israel auswandern. Von ein paar Wochen hat er die Dokumente eingereicht."
"Ich will so schnell wie möglich weg von hier", sagt Jascha, der während der Erzählung seiner Mutter geschwiegen hatte. "Wir Juden haben nun endlich ein Land, wo wir uns zuhause fühlen können."
"Da hörst du es selbst." Rivka-Jewdokijas Stimme klingt kraftlos. "Jaschenka möchte uns, Wassja und mich, in seinen Judenstaat mitnehmen. Wassja wäre ja nicht abgeneigt. Er träumt von einer Wohnung am Meer. Mit Balkon. Und einer Palme im Blickfeld. Ich selbst weiß ja nicht mehr, was ich will."
"Na ja, vielleicht findest du doch noch das Glück... Dort wo die Krummnasigen regieren", sage ich. Sie schweigt und schenkt mir wieder Tee ein.

Vladimir Vertlib, geb. 1966 in Leningrad, emigrierte 1971 mit seiner Familie nach Israel. Von 1971 bis 1981 "Odysee" durch Europa, Israel und die USA, seit 1981 ständiger wohnsitz in Österreich. Österreichischer Staatsbürger seit 1986. Studium der Volkswirtschaftslehre in Wien. Lebt seit 1993 als freischaffender Schriftsteller, Sozialwissenschaftler und Übersetzer in Wien und Salzburg.

 

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Juedisches Leben in Berlin


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