Mit ihrer Polemik gegen
die Rückkehr polnischer Juden zur Orthodoxie,
die in der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" erschien,
löste Shoshana Ronen, die seit 7 Jahren in Warschau lebt, heftige
Reaktionen aus:
JUDE SEIN IN POLEN
Shoshana Ronen, Warschau
"DIE JUDEN SIND KEIN HISTORISCHES
VOLK UND SOGAR KEIN ARCHÄOLOGISCHES;
DIE JUDEN SIND EIN GEOLOGISCHES VOLK MIT BRÜCHEN
UND EINBRÜCHEN UND GLÜHENDEN VULKANSCHICHTEN
DEREN GESCHICHTE MUSS MAN MIT EINEM ANDEREN MAßSTAB MESSEN".
(Yehuda Amichai, israelischer Dichter)
Einer der schlimmsten
Zusammenbrüche - wenn nicht gar der schrecklichste überhaupt - fand auf
Polens Boden statt. Nach ca. 50 Jahren des Verschweigens und der Verfolgung
durch ein kommunistisches Regime, sind wir in jüngster Zeit Zeugen eines
zaghaften und verwirrten Erwachens dieses Überbleibsels. Um es zu
beschreiben und zu beurteilen, bedarf es äußerster Vorsicht. Es ist gar
nicht schwer diesen verwirrten Versuch niederzumachen aber wie Amichai,
werde ich versuchen „den anderen Maßstab" zu finden, einen anderen Ton, eine
andere Schattierung als die der Kritik einer Israelin und Jüdin die dem
Anschein nach keine Identitätsprobleme hat.
Der Versuch einen
anderen Ton zu finden, während ich über die heutigen Juden in Polen
schreibe, ist auch das Ergebnis eines Vorfalls dessen Zeugin ich kürzlich
war. In der Krakowski-Strasse in Warschau habe ich Jugendliche beobachtet,
die den Arm zum Gruß hoben und Nazi-Parolen hinter einer schwarzen jungen
Frau mit Kind herriefen.
Wenn ich den Zustand der jüdischen Gemeinde in Warschau betrachte und vor
allem „die neuen Juden", stelle ich lächerliche, unnatürliche Erscheinungen
fest. Ich sehe Verwirrung, obwohl um ehrlich zu sein, darf ich diese
Erscheinung nicht nur kritisieren, sondern muß auch versuchen deren Ursprung
zu erklären.
Vielleicht ist der Zustand der Juden Polens heute ein Zustand der Verwirrung
und Lächerlichkeit, da die Gesellschaft, in deren Mitte sie leben, geboren
und erzogen wurden, verwirrt und krank ist ?
Um der Wahrheit willen, müssen wir uns die Frage stellen, in welcher
gesunden und fruchtenden Form könnten latente Juden aus der Nische ihres
Judentums heraustreten bzw. sich mit den entfernten und schwachen Wurzeln
irgendwelcher jüdischer Großeltern identifizieren, in einer Gesellschaft die
Judentum als Makel, Krankheit, Schimpfwort oder Schandfleck betrachtet, in
einer Gesellschaft deren Mehrheit ihre Nationalität als untrennbar von ihrer
Religion sieht und zwar: Ein Pole ist ein Katholik.
Für die, die glauben, daß Pole gleich Katholik bedeutet, wäre dann Pole
gleich Jude ein Widerspruch in sich. So eine Kreatur gibt es gar nicht,
würden sie sagen. Aber was tun wenn es sie doch gibt? Was tun, wenn im Land
eine sich verändernde jedoch kleine Anzahl menschlicher Wesen leben, die
sich als Polen-Juden betrachten? Eine kleine Gemeinde von Wegsuchern, die
ihre Identität entdecken und erfinden, in einer Gesellschaft die ihnen ihre
Identität und auch das Recht sich selbst zu definieren verweigert.
Über 50 Jahre versuchte ein Teil von ihnen seine jüdische Herkunft zu
verdecken, versuchte seine beschämende und gefährliche Behinderung zu
verstecken. Den meisten von ihnen ist es nicht gelungen aber die, die in
diesem Land nach März 68 geblieben sind, haben sich mit ihren Zähnen an ihre
adoptierte, ersehnte polnische Identität geklammert - in den Augen vieler
Polen eine gestohlene Identität.
Aber mit der Öffnung Polens zur westlichen Welt und dem Zerbrechen des
Glaubens an „eine Solidarität und menschliche Gleichheit" verschwand auch
„das Verbot" jeglichen Andersseins oder Einzigartigkeit. Die polnische
Gesellschaft begann, einerseits, einem vulgären, grausamen und auf
Wettbewerb orientierten Kapitalismus, dem Todfeind jeglicher
gesellschaftlicher Solidarität, andererseits einem liberalen Pluralismus und
einer postmodernen Vielfalt, in der wir nicht nur alle gleich, sondern auch
Menschen mit einer engeren persönlichen Identität sind (Hispanos, Afrikaner,
Frauen etc.), entgegenzuschreiten. In dieser veränderten Welt sind die
verkümmerten Wurzeln der Polen jüdischen Ursprungs wieder zum Leben erwacht,
und sie sind sich ihres Judentums bewußt geworden.
Vor diesem Hintergrund, der als Erklärung und vielleicht auch als Alibi so
wichtig ist, wird es möglich das Bild der jetzigen jüdischen Gemeinde in
Polen und vor allem das Bild derer, die jetzt zum Judentum erwachen, zu
zeichnen. Ein Alibi, weil meine Worte vielleicht als ein „Ich klage an" (Ani
Maashim oder j‘accuse) einer Israelin-Jüdin, deren Judentum für sie niemals
ein Identitätsproblem darstellte, verstanden werden könnte. Mein Judentum
war in meiner Identität begründet und daher so einfach und ohne Komplexe.
Bis heute kann ich mich mit Verwunderung an die Reaktionen erinnern, die
meine einfache Erklärung ich sei Jüdin hervorgerufen haben. Aufgeklärte, der
Inteligenzia angehörende Polen waren über meine Erklärung peinlich berührt,
als ob ich eine Behinderung oder irgendeine beschämende Tatsache, die man
besser verschweigen sollte, geradezu hervorheben würde. Denn alleine schon
das Wort „Jude" gilt in der polnischen Sprache als Makel.
Wozu eine säkulare
jüdische Identität?
Ich möchte den Juden
Polens etwas vorschlagen, wobei mir klar ist, daß sie es ablehnen werden und
zwar ein säkulares Judentum. Vielleicht ist es gar nicht verwunderlich, da
meine jIdentität ein Ergebnis meiner Reifung in einer Gesellschaft üdische,
säkulare und bodenfeste ist, in der Judentum keine Behinderung oder
Schandfleck ist. Es ist eine einfache Gegebenheit. In einer Gesellschaft wie
die polnische, in der Antisemitismus legitim ist (die Beispiele hierzu sind
unzund an die Rede von Pater ählbar, ich erinnere nur an die Wahlkampagne
1991 Jankowski zur Bildung der jetzigen Regierung). Die Juden die sich als
solche definieren wollen, sind nicht nur mutig sondern müssen auch in
gewisser Weise extravagant sein; ihre Entwicklung ist mit dem „outing"
Prozeß der Homosexuellen zu vergleichen. Sie dürfen das, was in der
Gesellschaft als Fluch und Behinderung betrachtet wird nicht leugnen.
Es ist daher kein Wunder, daß in der Liste der Not-Telefone für Aids-Kranke,
Alkoholiker und Alzheimer-Kranke sich auch ein Not-Telefon für Menschen
jüdischer Herkunft befindet. Die polnischen Juden haben sich das
antisemitische Stereotyp, daß Judentum Makel oder sogar Krankheit wäre und
man den daran Erkrankten helfen müßte, selbst aufgedrückt. Ein Mensch, der
plötzlich seine jüdischen Wurzeln entdeckt oder sie immer schon kannte und
nur verborgen hielt, muß sich nun mit diesem schrecklichen Trauma
auseinandersetzen, als wäre es eine Geisteskrankheit.
Neuere
gesellschaftliche Entwicklungen
In Anbetracht dieser
Situation, ist die Kenntnis des gesellschaftlich-kulturellen Hintergrundes
in dem sich das heutige Judentum in Polen entwickelt, wichtig. Sie hilft,
einige Erscheinungen innerhalb dieser Gruppe zu verstehen - Erscheinungen
die ich als Außenstehende und als Jüdin und Israelin entdecke. Da ich keine
Soziologin bin und keine wissenschaftliche Forschung betreibe, erhebe ich
bei meinen Betrachtungen keinen wissenschaftlichen Anspruch.
Die Merkmale die ich
entdecke sind folgende: Als erstes die Wahl der am wenigsten geeigneten
Alternative für ihren konkreten Zustand – nämlich die Orthodoxie. Da sie
sich, was ihr jüdisches Bewußtsein anbelangt, noch in den Windeln befinden,
neigen sie vielleicht nicht dazu die gesammte orthodoxe Lebensweise auf
einmal anzunehmen, sondern entscheiden sich langsam und stufenweise für
religiöse, jüdische Lebensweisen und Bereiche - ausgerechnet der jüdischen
Orthodoxie. Diejenigen Juden die sich für Rückkehrer zur Tradition und
Religion halten, mögen mir verzeihen, aber ich muß es ein für alle Mal offen
sagen: Nach der klaren und eindeutigen Beschreibung der jüdischen
Orthodoxie, ist nur der ein Jude, dessen Mutter Jüdin ist, oder derjenige,
der ordnungsgemäß übergetreten ist und ordnungsgemäß bedeutet, ein
orthodoxer Übertritt. Vielleicht ist es notwendig noch einmal zu betonen,
daß die Mutter nur dann Jüdin ist wenn ihre Mutter Jüdin war, oder wenn sie
selbst ordnungsgemäß übergetreten ist.
Alle neuen Juden sollen sich bitte selbst prüfen und offen zugeben, wieviele
von ihnen überhaupt diesen Anforderungen entsprechen und ob sie sich nicht
selbst einer Lüge strafen indem sie sich gerade der jüdischen Orthodoxie
anschließen. In Wahrheit versuchen sie sich doch eine jüdische Identität
aufzubauen mittels einer Richtung im Judentum, die sie gar nicht als Juden
akzeptiert. Wenn Sie es als Bedürfnis empfinden, daß ihre Rückkehr zum
Judentum einen religiösen Charakter tragen soll, und ich verstehe dieses
Bedürfnis, warum nicht freiere Strömungen im Judentum wählen, denen ich als
säkulare Jüdin zwar nicht angehöre, aber wegen ihrer Offenheit und Toleranz
mich ihnen sehr nah fühle.
Jude sein durch
Identifikation mit der Gruppe?
Meiner Definition nach,
ist der ein Jude, der sich frei und ehrlich dieser Gruppe zugehörig fühlt.
Es spielt für mich keine Rolle, ob seine Mutter Jüdin war oder nur sein
Vater oder vielleicht nur sein Großvater väterlicherseits oder ob, er
vielleicht gar keine jüdischen Wurzeln hat, möchte jedoch entschieden
dazugehören und sich mit dieser Gruppe identifizieren. Und er ist sogar
bereit irgendeine symbolische und feierliche Zeremonie der Aufnahme in diese
Gruppe mitzumachen. Ich lege gar keinen Wert auf einen langen, strengen und
beschwerlichen Übertritt im orthodoxen, sondern auf den leichten und mehr
menschlichen im konservativen oder Reformjudentum. Von mir aus muß er gar
nicht übertreten.
Hier möchte ich die Definition des israelischen Schrifstellers A.B.Jehoshua
vorschlagen, er sagt, daß „...ein Jude der ist, der sich als Jude
identifiziert.....". Weiter sagt Jehoshua, daß Jude sein bedeutet einer
nationalen Gemeinschaft anzugehören, die man jederzeit verlassen oder
beitreten kann, so wie jede andere nationale Gemeinschaft auch, und zahllose
Juden haben das jüdische Volk im Laufe der Jahrhunderte verlassen. Man muß
sich nicht unbedingt auf dem religiösen Wege aus dem Volk entfernen,
entscheidend ist, daß man sich mit dem jüdischen Volk nicht mehr
identifizieren will.
Ein jüdischer Atheist kann zum atheistischen Nicht-Juden mutieren. Ebenso
ist die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk eine Identitätsfrage. Der freie
Wille ist entscheidend und nicht der formale Übertritt, der bar jeglicher
Bedeutung ist, wenn der Übertretende ein ausgesprochener Atheist ist. Nach
dem Übertritt kann er sämtliche jüdische Inhalte ignorieren, ebenso wie
viele geborene Juden. Das Absurde dabei ist, daß sein Beitritt zum jüdischen
Volk diesen formalen und nicht relevanten Akt voraussetzt.
In unserer Welt, in der die säkulare jüdische Identität eine feste Tatsache
und eine jüdische Strömung legitim sind, sollte man über eine Alternative
zum religiösen Übertritt, entweder orthodox oder reform nachdenken. Ich
vermute jedoch, daß es sobald nicht zu einer Debatte darüber in der
jüdischen Welt kommen wird, da man einen Konflikt mit den religiösen
Strömungen im Judentum, in erster Linie in Israel, wo die Orthodoxie sehr
stark ist und großen politischen Einfluß hat, vermeiden möchte.
Jude zu sein ist für mich, wie für Jehoshua, eine Wahl. Daher meine
Verwunderung über die Juden in Polen, die ausgerechnet die Orthodoxie
gewählt haben, die nicht nur nicht erforderlich ist um dem jüdischen Volk
anzugehören, sondern daß sie im konkreten Fall gar nicht deren Hintergrund
entspricht.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Graciela Kittel
wird fortgesetzt >> Teil 2:
Zur Orthodoxie aus Minderwertigkeit?
Neue Orthodoxie als Sackgasse?
Säkulare jüdische Identität - eine Alternative?
aus dem europäisch-jüdischem Magazin
Golem, Nr. 1
herausgegeben von der Gruppe Meshulash-Berlin
[Meshulash]
[Jüdische Gemeinden in Europa]
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