GOLEM
- ein europäisch jüdisches Magazin
Editorial
Ein zentrales Element in der Geschichte des jüdischen Volkes
ist das Leben in der Diaspora, der Zerstreuung oder dem Exil. "Wieviel
Diaspora erträgt der Mensch" fragen die Soziologen Daniel Levy und Natan
Sznaider in einem Beitrag dieser Ausgabe. Sie verstehen Diaspora als
identitätsstiftenden, positiven Begriff, der heutzutage den Erfahrungen
unterschiedlichster ethnischer oder religiöser Minderheiten entspricht.
Diaspora als Gegenkonzept zu einem exklusiven ethnischen Nationalismus. –
Paradiso Diaspora?
Die erste Zerstreuung von der uns die Bibel berichtet, ist
die Vertreibung aus dem Paradies. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels im
Jahre 70 wurde jüdische Geschichte endgültig zur Diaspora-Geschichte, auch in
Europa. Im Römischen Reich, entstanden die ersten jüdischen Gemeinden, im
antiken Rom lebten damals bereits 50.000 Juden.
Auf italienisch bestehen die Worte "Paradiso" und "Diaspora"
aus genau denselben Buchstaben, und die Beziehung zwischen Exil und Paradies
war auch Ausgangspunkt der Ausstellung "Paradiso@Diaspora", die im November
2000 von der Gruppe Meshulash sowie jüdischen Künstlern aus Italien konzipiert
wurde und in diesem Heft vorgestellt wird. Das Städtchen Pitigliano, in der
südlichen Toskana gelegen, taucht immer wieder in der Ausstellung auf. Einst
wurde es auch das "kleine Jerusalem" genannt, als fast die Hälfte der
Bevölkerung jüdisch war. Heute lebt dort nur noch eine einzige Jüdin, Elena
Servi, aber das "jüdische" Pitigliano wird von der Tourismusindustrie eifrig
vermarktet. Für Künstler der Gruppe Meshulash wurde Pitigliano zur Metapher
für künstliche, vermeintlich jüdische Touristenparadiese, voller Kitsch und
Kommerz, aber ohne jeglichen Bezug zur jüdischen Gegenwart. In ihrem Beitrag
"Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des Jüdischen", zeigt Iris
Weiss auf, dass es in Europa viele "Pitiglianos" gibt.
Wie modern und gegenwärtig das Erbe der italienischen Juden
der Renaissance dennoch sein kann, verdeutlicht Diana Pinto: Die – wenn auch
nur für eine kurze Periode – geglückte Balance zwischen Integration und
Bewahrung der jüdischen Identität kann als Inspiration für die Juden in der
Diaspora heute hilfreich sein. Vergessen wir nicht: Trotz der Existenz Israels
lebt die Mehrheit der Juden weiterhin freiwillig in der Diaspora.
Auch wenn sich der Schwerpunkt nach 1939 in die Vereinigten
Staaten verlagert hat – ohne die Entwicklungen der jüdische Diaspora in Europa
wäre das Judentum, wie wir es heute kennen, kaum denkbar: Jüdische
Religionsphilosophie, wichtige Strömungen jüdischer Mystik, die Ausgestaltung
der jüdischen Liturgie, Meisterwerke hebräischer Poesie, die jiddische Kultur
oder die Wissenschaft des Judentums sind Beispiele für die große
Hinterlassenschaft der Juden Europas. Die Offenheit für andere Kulturen, die
produktive, oft schmerzliche Wechselwirkung mit anderen Völkern hat eine
enorme Vielfalt an regionalen und lokalen jüdischen Kulturtraditionen
hervorgebracht, die in dieser Ausgabe exemplarisch illustriert wird: die
Sprache der Bergjuden jenseits des Kaukasus etwa, von der Igor Chalmiev in
seinem Beitrag erzählt, oder die Schnittstelle aschkenasischer, sephardischer
und ungarischer Musik, die Rudolf Németh mit Hilfe von ausgewählten
Musikbeispielen erläutert.
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Ort, an dem man
sich befindet, und dem verlorenen, ersehnten und imaginären Ort – Diaspora und
Paradiso – bezog das Judentum im Europa vor der Emanzipation seine Stärke und
Kreativität. Trotz aller lokalen Unterschiede war das europäische Judentum bis
ins 18. Jahrhundert, auch ohne institutionalisierten hierarchischen Rahmen,
durch wirtschaftliche, religiöse, kulturelle und soziale Netzwerke fest
miteinander verknüpft, es stellte eine Einheit dar. Wo steht das Judentum in
Europa heute? Kann man nach dem großen Bruch durch die Schoah im formal
vereinten Europa des 21. Jahrhunderts wieder von einem europäischen Judentum
sprechen?
Viele jüdische Gemeinschaften in Europa sind, wie Y. Michal
Bodemann in seinem Aufsatz am Beispiel der Berliner Jüdischen Gemeinde
veranschaulicht, trotz Globalisierung immer noch im nationalen Kontext
gefangen. Besonders in der größten jüdischen Gemeinschaft, in Frankreich,
öffnet man sich nur zögerlich den neuen Perspektiven eines jüdischen Dialogs
in Europa über nationale Grenzen hinweg. Die jüdische Diaspora in Europa mag
zwar gegenwärtig noch weit von ihren kosmopolitischen Traditionen entfernt
sein – dennoch entsteht in ganz Europa wieder eine lebendige jüdische Kultur,
die den Dialog und Austausch sucht. Entscheidend ist, dass jüdisches Leben in
all seiner Vielfalt gedeihen kann, sowohl in Israel als auch in der Diaspora,
denn nach der jüdischen Tradition ist die "Schechina", die göttliche Präsenz,
überall zu finden.
Michael Frajman
Für
Meshulash Berlin
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