Das Schtetl
Wirtschaftliche und soziale Strukturen 
der ostjüdischen Lebensweise 
											
											Andrea Ehrlich 
											
											Teil II 
 
											
												- 
												
												
												Einleitung
 
												- 
												Zur Bedeutung des 
												Begriffs "Ostjude"
 
												- 
												Der historische 
												Hintergrund
 
												- 
												Das Schtetl
												
 - 4.1. 
												
												Definition 
												- 4.2. 
												
												Das äußere Bild des 
												Schtetlech - 
												4.3. 
												
												Die wirtschaftliche 
												Situation - 4.4. 
												
												Soziale Strukturen im 
												Schtetl - 4.5. 
												Der Chassidismus 
												als religiöses Empfinden im 
												Schtetl 
												- 
												
												Kriminalität der Ostjuden
 
												- 
												
												Schlußgedanke
 
												- 
												
												Verwendete Literatur
 
											  
											2) Zur 
											Bedeutung des Begriffs 'Ostjude'
											
 Der 
											Begriff `Ostjude´ wird heute in der 
											Wissenschaft völlig 
											selbstverständlich benutzt, nur 
											wenige Autoren definieren diesen 
											Ausdruck. Was gemeint ist, scheint 
											klar zu sein, Juden aus dem 
											osteuropäischen Raum. Tatsächlich 
											birgt der Begriff eine gewisse 
											Problematik in sich, so daß er nicht 
											ohne vorhergehende Definition 
											erscheinen sollte.
											 
											Die Bezeichnung 
											`Ostjude´ tauchte erst Ende des 19. 
											Jahrhunderts auf, also etwa 900 
											Jahre nach den ersten jüdischen 
											Siedlungen in Osteuropa. Vorher 
											sprach man von `polnischen Juden´, 
											was aber aufgrund der polnischen 
											Teilungen nicht mehr konkret genug 
											ist. Der Ausdruck ist außerdem eine 
											rein geographische Bestimmung. Im 
											Laufe der Jahrhunderte hatten sich 
											die Juden in Osteuropa zu einer 
											Einheit im kulturellen Sinne 
											entwickelt. Heiko Haumann spricht 
											von der Formung des "Typus des 
											Ostjuden als in sich abgeschlossene 
											Kulturpersönlichkeit" während 
											des 18. Jahrhunderts. So hatten die 
											Juden, ob sie nun in Polen oder 
											Weißrußland, in der Ukraine oder in 
											den tschechischen Ländern lebten, 
											mehr als nur ihre Religion 
											gemeinsam. Sie waren durch ihre 
											eigene Sprache, das Jiddisch, das 
											bis zum Holocaust sogar zu den 
											sieben Weltsprachen gerechnet wurde, 
											ihr eigenes religiöses Empfinden, 
											den Chassidismus, ihr eigenes 
											Aussehen und Schönheitsideal und 
											ihre eigene Kultur und Lebensweise, 
											das Schtetl, verbunden. 
											Mit der Zeit 
											entwickelten sich auch 
											unterschiedliche Stereotypen von 
											westeuropäischen Juden und Ostjuden. 
											Letztere werden im allgemeinen mit 
											geringer Assimilation und orthodoxer 
											Religiosität in Verbindung gebracht. 
											Während im Westen der Großteil der 
											Juden zum Bürgertum aufgestiegen 
											war, gehörten die Ostjuden weiter 
											der Unterschicht oder der niederen 
											Mittelschicht an. Die Geburtenrate 
											war dort hoch, die Mischehenrate 
											sehr gering. Die klassisch 
											ökonomische Stellung war die des 
											Mittlers zwischen Stadt und Land. 
											Die jüdische Aufklärung, die 
											Haskala, setzte hier sehr spät und 
											zögerlich ein. Das Stereotyp des 
											Ostjuden hatte damit im Westen einen 
											eindeutig negativen Beiklang 
											bekommen, zumal man fürchtete, die 
											unzivilisierten Ostjuden könnten die 
											eigene Assimilation gefährden. Ein 
											Reisebericht Heinrich Heines aus dem 
											Jahr 1822 verdeutlicht sehr 
											anschaulich die Ansichten der 
											aufgeklärten Westeuropäer: "Das 
											Äußere des polnischen Juden ist 
											schrecklich. (...) Dennoch wurde der 
											Ekel bald verdrängt von Mitleid, 
											nachdem ich den Zustand dieser 
											Menschen näher betrachtete und die 
											schweinestallartigen Löcher sah, 
											worin sie wohnen, mauscheln, beten, 
											schachern und - elend sind. (...) 
											Dennoch, trotz der barbarischen 
											Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt, 
											und der noch barbarischeren Ideen, 
											die denselben füllen, schätze ich 
											den polnischen Juden weit höher als 
											so manchen deutschen Juden, der 
											seinen Bolivar auf dem Kopf, und 
											seinen Jean Paul im Kopfe trägt. In 
											der schroffen Abgeschlossenheit 
											wurde der Charakter des polnischen 
											Juden ein Ganzes; durch das Einatmen 
											toleranter Luft bekam dieser 
											Charakter den Stempel der Freiheit." 
											Heine zeigt zwar seine Bewunderung 
											für die Lebensweise der Ostjuden, 
											aber das oben erwähnte Stereotyp 
											wurde sehr deutlich gezeichnet: das 
											Bild des schmutzigen, ewig betenden 
											und ständig handelnden orthodoxen 
											Juden. Man muß auch bedenken, daß 
											Heine seine Bewunderung in einer 
											Zeit ausdrückt, als die Auswanderung 
											der Ostjuden nach Westen noch nicht 
											in umfangreichen Rahmen stattfand 
											und somit auch noch keine Bedrohung 
											für die Lebensweise der deutschen 
											Juden darstellte. 
											 
											Das Ostjudentum 
											bildete in jedem Fall die 
											zahlreichste, abgeschlossenste und 
											kulturell einheitlichste jüdische 
											Gemeinde in Europa.
											 
											3) Der 
											historische Hintergrund
											Jüdische Kaufleute 
											siedelten bereits seit dem 9. 
											Jahrhundert in Polen und Böhmen. 
											Bedeutung erhielten diese Siedlungen 
											allerdings erst nach den großen 
											Masseneinwanderungen aus dem Westen. 
											Die ersten Migrationswellen begannen 
											mit dem Wüten der Kreuzfahrer, die 
											mit der Bekämpfung der 
											Christusmörder schon vor der Abfahrt 
											begannen und der großen Pestwelle 
											von 1348/49, für die die Juden als 
											Schuldige bestimmt wurden. Über eine 
											Immigration von Osten her gibt es 
											nicht genug erforschte Quellen, so 
											daß man bis heute dazu keine 
											gesicherte Aussage machen kann. Die 
											Juden Osteuropas waren somit 
											großenteils aschkenasischer 
											Abstammung.  
											In Polen, ein 
											Land, das keine eigenständige 
											Mittelschicht besaß, wurden die 
											Juden von den Fürsten gerne 
											aufgenommen, da sie als günstiger 
											wirtschaftlicher Faktor angesehen 
											wurden, der das Bürgertum ersetzen 
											und die Entwicklung der Städte und 
											des Handels vorantreiben könne. 
											Boleslaw der Fromme erließ 1264 ein 
											Statut, das die Juden als 
											Kammerknechte des Herrschers unter 
											seinen persönlichen Schutz stellte. 
											Das Privileg umfaßte die Freiheit 
											des Handels mit allen Waren, ebenso 
											wurde den Juden der Geldverleih und 
											Grunderwerb gestattet. Dieses Statut 
											blieb bis zu den polnischen 
											Teilungen Grundlage der jüdischen 
											Rechtsposition. Auch der Druck der 
											katholischen Klerus konnte die 
											Fürsten von ihrer Einstellung zu den 
											Juden nicht abbringen. Wichtiger 
											Verbündete der Kirche war das 
											deutsche Bürgertum in Polen, das die 
											jüdische Konkurrenz fürchtete und 
											die eigene wirtschaftliche Stellung 
											durch zahlreiche Pogrome und 
											Ritualmordbeschuldigungen zu 
											behaupten versuchte.  
											In der zweiten 
											Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es 
											erneut zu großen Vertreibungen aus 
											dem Westen, vor allem infolge der 
											spanische Inquisition. Die jüdische 
											Ansiedlung innerhalb Polens schritt 
											von Westen nach Osten voran.  
											1483 erlangte 
											Warschau das Privileg "de non 
											tolerandis Judaeis". Überall dort, 
											wo die Juden vertrieben wurden, 
											versuchten sie in unmittelbarer Nähe 
											zu siedeln, um weiterhin in den 
											Städten handeln zu können. So 
											entstanden neben nichtjüdischen 
											Großstädten oft jüdische 
											Kleinstädte, wie beispielsweise 
											Kazimierz neben Krakau. Kazimierz 
											erhielt 1568 das Privileg "de non 
											tolerandis christianis", 1633 wurde 
											dieses Recht an die Gemeinde in 
											Poszen und 1645 an fast alle 
											litauischen Gemeinden vergeben. 
											Aufgrund ihrer großen Anzahl konnten 
											die Juden in Polen unter sich 
											bleiben und eigenständige, völlig 
											autonom lebende Gemeinden, die 
											Schtetlech bilden. Tamar Somogyi 
											stellt fest, daß sich hier "(...) 
											zum ersten Mal seit der spanischen 
											Blüte eine eigene, selbständige 
											jüdische Kultur in Werken und 
											Werten" entfaltete. Polen galt 
											als Paradies der Juden, im 16. 
											Jahrhundert gab es dazu sogar ein 
											Sprichwort : "Die Republik Polen 
											ist des Bauern Hölle, des Städters 
											Fegefeuer, des Edelmanns Himmel und 
											des Juden Paradies." 
											Voraussetzung für diese kulturelle 
											Hochblüte war unter anderem auch die 
											Selbstverwaltung, die den Juden in 
											den verschiedenen fürstlichen 
											Privilegien zugesprochen wurde. 
											"Es gab eine Zeit, da die autonome 
											Verfassung der jüdischen Gemeinden 
											in Polen es jedem einzelnen Juden 
											möglich machte," so Simon 
											Dubnow, "sich als Bürger eines 
											eigenen, mitten in das christliche 
											Königreich eingefügten "Staates" zu 
											betrachten und aus diesem Bewußtsein 
											Kraft zur Abwehr des von der Umwelt 
											ausgeübten Druckes zu schöpfen." 
											Die Kahal, ein Rat, der sich aus den 
											Rabbinern und der von der Gemeinde 
											gewählten Ältesten zusammensetzte, 
											sorgte für Ordnung in der Gemeinde 
											und lieferte die Steuerabgaben an 
											den Staat. Weiterhin war die Kahal 
											für die verschiedenen öffentlichen 
											Organisationen, sowie für das 
											Erziehungswesen zuständig. Auf diese 
											Weise konnte die Gemeinde völlig 
											unabhängig vom Staat existieren, die 
											Traditionen gewahrt und die Kinder 
											nach jüdischen Grundsätzen erzogen 
											werden. Diese Organe der einzelnen 
											Gemeinden unterstanden der zentralen 
											Institution des `Vielländer-Sejm´ 
											oder auch Wa´ad, benannt nach den 
											vier Bezirken Groß- und Kleinpolen, 
											Litauen und Weißrußland. Der Wa´ad 
											diente der polnischen Regierung in 
											der Judenfrage als Ansprechpartner.  
											Ein Wendepunkt kam 
											mit dem Jahr 1648. Der 
											Kosakenaufstand, dem sich die 
											ukrainische Bauern anschlossen, 
											führte zu Metzeleien unter 
											polnischen Adeligen und Juden als 
											deren angeblichen Handlangern, denen 
											Hunderttausende zum Opfer fielen. 
											Zum ersten Mal war die Existenz der 
											Juden auch in Polen bedroht. Der 
											Strom der Migration begann sich zu 
											drehen, vom Osten zurück nach 
											Westeuropa.  
											Diese Zeit ist 
											auch der Beginn des Verfalls in der 
											polnischen Geschichte, vor allem 
											durch den ökonomischen Ruin infolge 
											des polnisch-schwedischen Krieges. 
											Die Juden stellten fest, daß sie von 
											der territorialen Integrität Polens 
											abhängig waren. Mit dem Zerfall 
											Polens, verfiel auch die jüdische 
											Selbstverwaltung, die 
											Kahalorganisation wurde mehr und 
											mehr zu einem Instrument 
											innerjüdischer Ausbeutung.
  											Es war die Zeit von großen Miseren 
											und Armut, eine Blütezeit radikaler 
											Bewegungen.  
											Mit der 
											Verbreitung der Konterreformation 
											durch die Kirche wurden Juden 
											zunehmend diskriminiert, Polen 
											verlor seine Anziehungskraft auf den 
											Westen, denn auch die jüdische 
											Kultur und Wissenschaft verfielen. 
											Durch die Schwäche der polnischen 
											Zentralgewalt breitete sich 
											politische Anarchie aus. Die Arbeit 
											der jüdischen Institutionen wurde 
											erschwert, die Steuern mußten 
											zunehmend für Bestechung der 
											Behörden gebraucht werden, was den 
											Unmut gegen die jüdische 
											Gemeindeverwaltung steigerte. 1764 
											wurde der Vierländersejm abgeschafft 
											und eine Kopfsteuer von 2 Sloty 
											eingeführt.  
											Durch die 
											Polnischen Teilungen wurden die 
											Juden drei verschiedenen Regierungen 
											unterworfen. Die wichtigsten Teile 
											Polens, Litauen, Zentral- und 
											Ostpolen, erhielt Rußland. Das 
											Siedlungsrecht der Juden innerhalb 
											dieser Gebiete und Rußlands wurde 
											zunächst auf verschiedene Provinzen 
											und nach den übrigen polnischen 
											Teilungen auf das sogenannte 
											Ansiedlungsrayon begrenzt. In diesem 
											Gebiet lebten 4,9 der 5,2 Millionen 
											russisch-polnischen Juden wie in 
											einem riesigen Ghetto eingepfercht. 
											Zudem gab es auch innerhalb des 
											Streifens Städte mit 
											Niederlassungsverbot für Juden, zum 
											Beispiel Kiew und Sevastopol, 
											Provinzen mit Niederlassungsverbot 
											in Dörfern und einen 50-Werst 
											Streifen entlang der Westgrenze mit 
											Neuansiedlungsverbot für Juden.  
											Die folgenden 
											Jahrzehnte waren durch die Versuche 
											der osteuropäischen Regierungen 
											gekennzeichnet, 
											"durch Gesetze und drakonische 
											Verwaltungsmaßnahmen, die jüdische 
											Bevölkerung zur Assimilation zu 
											zwingen."  
 
 
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1996© Andrea Ehrlich 
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