Die Geschichte der Juden in Osterholz-Scharmbeck
Der Auftakt zu den Verbrechen der Judenverfolgung
Die Wirtschaftslage verschlechterte sich von Jahr zu Jahr,
die mangelnde Stabilität der Weimarer Republik schien keine Lösungen bereit
zu haben und politische Extreme formierten sich, Kommunisten auf der einen
Seite, Nationalsozialisten auf der anderen. Beide Seiten sahen die Lösung
der anstehenden Probleme in einer grundlegenden Änderung des Staatssystems
und fanden unter den Notleidenden ihre Anhänger. Aus dieser Situation heraus
entstand auch in Osterholz-Scharmbeck eine NSDAP-Ortsgruppe. Sie wurde am 1.
März 1930 mit sechs Mitgliedern gegründet. Am 20. März 1930 fand die erste
Parteiversammlung im "Tivoli" statt. Noch brauchte die kleine Gruppe
Verstärkung, um sich gegen mögliche Gegner verteidigen zu können. Der
Kreisleiter aus Blumenthal übernahm mit seinem Saalschutz diese Aufgabe.
Bereits 1930/31 taten die ersten SS-Männer ihren "Dienst"
in Vegesack. Im Lauf des Jahres 1931 stieg die Mitgliederzahl der NSDAP auf
51 - nach "schwerem Aufbau", wie Segelken es im "Heimatbuch" formulierte. Am
10. Dezember wurde durch die Wahl eines Osterholz-Scharmbeckers zum
Kreisleiter die NS-Kreisleitung nach Osterholz-Scharmbeck verlegt. Während
dieser Zeit kam die Torfschiffahrt zum Erliegen und die Firma Frerichs & Co.
mußte den Betrieb einstellen, ebenso die Mühle am Osterholzer Hafen. Im
Bereich Osterholz-Scharmbeck/ Vegesack bildete sich die erste SS-Gruppe mit
8 Mitgliedern. Die NSDAP hatte in der Stadt nun 66 Mitglieder. Kommunisten,
die sich mit Sozialisten und Gewerkschaftlern vorwiegend in der gleich neben
dem "Tivoli" liegenden "Centralhalle" trafen, versuchten, gewaltsam gegen
die faschistische Gefahr vorzugehen. Sie scheiterten aber auch hier am
Widerstand der immer stärker geschützten Versammlungen der Faschisten.
1933, zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die NSDAP
lebten noch etwa 40 Juden in Osterholz-Scharmbeck. Im gleichen Jahr wurde
der Reichsluftschutzbund gegründet, gleich im Januar bildete sich am Ort die
NS-Frauenschaft mit zunächst 9 Mitgliedern - am Jahresende waren es schon
71. Im März 1933 hatte die NSDAP 76 Mitglieder, nach dem 6. März stieg diese
Zahl sprunghaft auf 229.
Es dauerte nicht lange, bis die neuen Machthaber ihre
schon Jahre zuvor in Parteischriften deutlich geäußerte Judenfeindlichkeit
in aggressive Taten umsetzten. Für den 1. April wurde zu einem
"Judenboykott" aufgerufen. Vorwand dafür war die propagandistisch
verbreitete Behauptung, daß das "Weltjudentum" gegen Deutschland hetze und
aus diesem Grund "deutliche Zeichen" dagegen gesetzt werden müßten.
Daraufhin erschienen auch in Osterholz-Scharmbeck Plakate mit der Aufschrift
"Deutsche! Kauft nicht bei Juden!". Seit diesem Boykottag hatten die
jüdischen Geschäfte nur noch wenig Kunden. Auch die Zahl der Patienten bei
Dr. Cohen, dem am 22. April 1933 die Kassenzulassung entzogen wurde, war
entsprechend gering geworden - nur noch Privatpatienten konnten sich von ihm
behandeln lassen. Dabei war Dr. Richard Cohen ein äußerst angesehener Mann.
Mit dem Fahrrad fuhr er zu Hausbesuchen bis nach Hülseberg, Ohlenstedt,
Freißenbüttel und Garlstedl. Von armen Patienten nahm er kein Geld, aber er
bezahlte selbst die Medikamente, die er verordnete; oft auch noch
zusätzliche Lebensmittel. Darüberhinaus beschenkte er während der
Inflationszeit 1923 und seit der Wirtschaftskrise 1931 an Weihnachtsabenden
die in Not geratenen kinderreichen Familien. Seine "Kinderspeisung", bei der
er mehrmals in der Woche einige Kinder bei sich zu Gast hatte, war weit über
die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und geachtet. Und plötzlich galt all
das nicht mehr, im Gegenteil, es wurde ihm sogar verboten, als Arzt und
Bürger Gutes zu tun.
Leo Löwenstein, der letzte Rabbiner der Synagoge
in Scharmbeck, verlor seine Stenografieschüler. Infolge dieser Ausgrenzung
kam es bei den kurz zuvor noch selbstverständlich zu öffentlichen Leben
gehörenden Juden zu Herzanfällen, Nervenzusammenbrüchen und
Selbstmordversuchen. Aber die gesellschaftliche Distanzierung wurde noch
schlimmer: Juden wurden von vielen nicht mehr gegrüßt, sie mußten
zwangsweise ihre Mitgliedschaften in Vereinen und Organisationen aufgeben -
so gelangte Johann Segelken, der später als eifriger NS-Parteigänger das
faschistisch geprägte "Heimatbuch" verfaßte, an die begehrte Stelle von
Rabbi Löwenstein im Scharmbecker Bürgerverein. In etwa dieser Zeit erschien
auch das anti-judaistische Buch "Dörpkinner" von Dr. Stille, ebenso der
antijudaistische Aufsatz "De Schächter" von Segelken. SA-Leute verboten
Juden auch die Teilnahme an einem Trauerzug: sie durften nicht hinter einer
deutschen Fahne gehen und keinen deutschen Friedhof betreten.
Manche Juden ließen daraufhin ihre Heimat und
ihre Habe zurück und wanderten aus. Andere konnten sich einfach nicht
vorstellen, daß man sie nach all den Jahren fleißiger Arbeit in Deutschland
und in vielen Fällen auch nach aktivem und mit Orden ausgezeichnetem
Soldatendienst im ersten Weltkrieg massiv verfolgen würde. Auch die
sogenannten "Halbjuden" wurden diskriminiert, weil nach der irrsinnigen
Lehre der Faschisten bereits durch einen jüdischen Elternteil ihr "Erbgut
verdorben" war. All diese Maßnahmen bereiteten den Weg zu Zwangsräumungen
von Wohnungen, Zwangs-"Verkäufen" - ohne tatsächliche Bezahlung von Häusern
und Geschäften und dem Massenmord, von dem auch die noch in
Osterholz-Scharmbeck lebenden Juden nicht verschont blieben.
Parallel zu diesen judenfeindlichen
Ausschreitungen, also mit Wissen und offensichtlicher Billigung solchen
Vorgehens, wurden unter der neuen Kommunalregierung umgehend, schneller als
in mancher Großstadt, Hindenburg und Hitler am 5. April zu Ehrenbürgern
ernannt. Derweil ging der Aufbau des faschistischen Systems weiter. Im
September nahm die Abteilung 4/177 des Reichsarbeitsdienstes zunächst in der
ehemaligen Tabakfabrik von Zülch & Nitsche (Bahnhofstraße/ Ecke
Schillerstraße) die Tätigkeit auf, man zog später in das Barackenlager im
Klosterholz. Der weibliche Arbeitsdienst war im Sandbeck'schen Witwenhaus
untergebracht. Der NSV hatte am 31. Dezember 70 Mitglieder ein Jahr später
schon 778.
Auch Präsentationen der Machthaber durch
Aufmärsche wurden schon 1933 organisiert, so der Fackelzug zur
Reichstagseröffnung, zu dem am 20. März 1933 aufgerufen wurde. 1934 gab es
dann ein großes NS-Kreistreffen in Osterholz-Scharmbeck. Seit dieser Zeit
bestand auch der "SS-Zug 2 des SS-Sturmes 9/88" in Osterholz-Scharmbeck. Die
NS-Frauenschaft hatte inzwischen 149 Mitglieder.
Die Verfolgung der Juden setzte sich derweil auf
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene fort. Am 3. November 1935
verbreitete das "Amt für Volksgesundheit" ein Pamphlet, in dem Kunden,
Klienten und Patienten jüdischer Kaufleute, Anwälte und Ärzte als "Verräter
an Volk und Vaterland" beschimpft wurden. Die Faschisten hatten längst
genügend Büttel, die darüber wachten, daß sich niemand über diese
Boykottanordnung hinwegsetzte. So blieben die letzten Kunden aus, auch Dr.
Cohen verlor damit die letzten Privatpatienten und konnte seinen Beruf nun
gar nicht mehr ausüben. Für ihn, der seit 1899 in der Stadt praktizierte,
brach seine Welt zusammen und er unternahm einen Selbstmordversuch. Seine
Haushälterin fand ihn jedoch rechtzeitig und mit Hilfe eines befreundeten
Apothekers und eines befreundeten Arztes gelang es noch einmal, ihn zu
retten.
Sigmund Cohens Sohn Erich war aufgrund der
Entwicklungen schon nach Südafrika ausgewandert. Herr Davidsohn wurde 1935
öffentlich von SA-Leuten zusammengetreten, nachdem er eine "Stürmer"-Ausgabe
aus dem NS-Schaukasten in der Bahnhofstraße/ Ecke Marktstraße entfernt
hatte, die antijüdische Hetzparolen enthielt. Alle Passanten sahen weg und
gingen eilig weiter. Im gleichen Jahr verstarb die Mutter des jüdischen
Möbelfabrikanten Feist. Für die Überführung zum Friedhof - ein Weg quer
durch die ganze Stadt - wurde ein Leichenwagen verwehrt. Als man den Sarg
durch die Stadt trug, photographierte und notierte die SA die 24 im
Leichenzug mitgehenden "Arier", um sie aufgrund dieses Verhaltens
"unehrenhaft" aus der Partei auszuschließen.
In den darauffolgenden Jahren 1936, 1937 und
1938 verzeichneten die NS-Organisation einen langsamen Mitgliederzuwachs,
während die Zahl der NSDAP-Mitglieder stark anstieg, es waren nun 793
Parteigänger - bei einer Einwohnerzahl von etwa 7.000. Unter einer neuen
Leitung war die NS-Kreisleitung wieder nach Osterholz-Scharmbeck verlegt
worden. Die Ausgrenzung der Juden galt den meisten Bürger inzwischen wohl
als eine Selbstverständlichkeit. Man hatte sich daran gewöhnt, und die etwa
30 übriggebliebenen Juden fielen den meisten kaum noch auf - am öffentlichen
Leben durften sie schließlich nicht mehr teilnehmen. Vielleicht wurde auch
der Selbstmord von Anna Ratusch 1937 nicht registiert - mit ihrem Mann und
ihren drei Kindern war sie immerhin vorher nach Bremen umgezogen. Sie
ertränkte sich dort vor Verzweiflung, weil sie allein, von ihrer Familie
getrennt, zwangsweise nach Polen deportiert werden sollte.
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/ 29-09-2005 |