Jahrzehntelang war die deutsche Judenheit in Einheitsgemeinden
organisiert und diese unter dem Dach des Zentralrates der Juden in
Deutschland. Die Glaubensrichtung war im Prinzip orthodox. Inzwischen
versucht ein Dutzend unabhängiger Gemeinden, die von den Nazis entwurzelte
liberale Tradition wiederzubeleben — und der Zentralrat, seine Position zu
behaupten. Es folgt ein Diskussionsbeitrag aus liberaler Sicht.
Rabbiner Uri Regev ist geschäftsführender Direktor der Weltunion für
Progressives Judentum.
Rabbiner Uri Regev
Das Judentum gleicht einem Regenbogen: Es steht auf dem Boden und strebt
in die Höhe. Aber den Reichtum seines Farbenspiels entfaltet es nur, wenn
diese Farben nebeneinander existieren und harmonieren können. Daraus bezieht
der jüdische Regenbogen seinen wahren Charakter und seine Lebendigkeit. Ich
bin liberaler Rabbiner und stehe an der Spitze der Weltunion für
Progressives Judentum, der weltweit größten Organisation religiöser Juden.
Unter dem Dach der Weltunion verbinden sich liberale Gemeinden in über 40
Ländern, von Australien und Neuseeland bis nach Brasilien und Argentinien.
Deutschland war im 19.Jahrhundert der Geburtsort des liberalen Judentums.
Dort wurde die Bewegung zur führenden Strömung unter den Juden: von dort aus
hat sie sich in alle Welt verbreitet. Der herausragende Repräsentant des
deutschen Judentums zur Zeit des Nationalsozialismus, Rabbiner Leo Baeck,
amtierte von 1938 bis 1953 als Präsident der Weltunion für Progressives
Judentum, selbst während seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager
Theresienstadt. Heute ist das liberale Judentum am stärksten in Nordamerika
verbreitet, mit über 900 Gemeinden und 1.800 Rabbinerinnen und Rabbinern.
Im Nachkriegsdeutschland dagegen fiel es schwer, seinen Ideen Gehör zu
verschaffen. Das Thema gewinnt an Bedeutung, seitdem die Bundesregierung
ihre Absicht bekannt gegeben hat, einen Vertrag mir der jüdischen
Gemeinschaft abzuschließen, in dem unter anderem den jüdischen Gemeinden
mehr Geld zugesagt werden soll: für die notwendige Integration der
russischen Immigration sowie für das Erstarken jüdischen Lebens in
Deutschland.
Mit Freude las ich, dass Innenminister Otto Schily in dieser Regelung die
Interessen der Union Progressiver Juden in Deutschland beachtet sehen will.
Denn es ist wichtig, auch den liberalen Gemeinden Mittel zur Verfügung zu
stellen und sie nicht nur Einheitsgemeinden zu gewähren. Andernfalls sähe
ich die freie Wahl der russischen Zuwanderer und anderer Mitglieder der
Gemeinden bedroht, verschiedene religiöse und soziale Angebote in Anspruch
zu nehmen. Studien in Russland und unter russischen Immigranten in Israel
bestätigen: Die russische jüdische Gemeinschaft, hoch gebildet und auf der
Suche nach Moderne und Demokratie, zieht liberale jüdische Strömungen der
Orthodoxie vor.
Dieser Tatsache sollte staatliches Handeln bei der Vergabe öffentlicher
Mittel Rechnung tragen. Ansonsten würde ihr Zweck unterlaufen, die volle
soziale und kulturelle Integration der russischsprachigen Einwanderer in
eine vielfältige jüdische Gemeinschaft und in die deutsche Gesellschaft als
Ganzes zu fördern.
In anderen Ländern wächst das liberale Judentum stetig. Sogar in Israel,
wo die Religionsfreiheit aufgrund der Macht der orthodoxen Parteien nicht
vollständig realisiert ist, will die Öffentlichkeit den jüdischen Glauben
auch auf nichtorthodoxe Weise erkunden. In den letzten Jahren hat denn auch
die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes in Israel das Prinzip des
jüdischen Pluralismus bestätigt, wenn es um staatliche Bezuschussung
jüdischer Einrichtungen ging oder um die Frage: 'Wer ist ein Jude?' In einer
Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofes heißt es: "Ohne die Möglichkeit
einer Wahl zwischen verschiedenen Wegen ist die Freiheit einer Person, ihren
Weg wählen zu dürfen, bedeutungslos. Dies ist das Wesen des Pluralismus,
nicht nur in der politischen Arena, sondern auch in der religiösen Sphäre."
Und weiter: "Im Judentum gibt es unterschiedliche Strömungen. Jede lebt
entsprechend ihrer Glaubensanschauungen und Einstellungen. Jedem einzelnen
Juden in Israel - und in gleicher Weise jedem einzelnen Nichtjuden - wird
Freiheit der Religion, des Gewissens und der Bildung religiöser
Vereinigungen garantiert."
Diese Prinzipien des Pluralismus galten in der jüdischen Gemeinschaft
Deutschlands in der Vorkriegszeit. Das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland verbrieft diese Rechte erneut. Es wäre ein Beweis von Starke und
Unabhängigkeit, wenn alle Vertreter der jüdischen Gemeinschaft und die
deutsche Politik auf Bundes- wie Landesebene sich von diesen Grundsätzen
leiten ließen, wenn es nun an Verhandlungen zum Wohl der ganzen Jüdischen
Gemeinschaft in Deutschland geht.