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Eine herbstliche Reise durch das jüdische Deutschland:
Die Quelle, die nie versiegt

Von alten Feinden und neuen Hoffnungen, von Orthodoxen und Liberalen - und Grabsteinen aus "SS-Marmor"

Von Alexander Kissler

Immer wieder tritt er vom rechten auf das linke Bein, nähert sich im sanften Wiegeschritt dem Pult, auf dem zwei silberne Kerzenleuchter stehen, und hält dabei die Quasten des Gebettuchs zwischen Daumen- und Zeigefinger umschlossen. Dann schaut Rabbiner Walter Rothschild auf die Uhr und mahnt seine kleine Gemeinde, es sei schon 19 Uhr 37, man solle jetzt zur Ruhe kommen. Die zwölfjährige Ena, die morgen Bat-Mizwa feiern wird, und ihre Großmutter nähern sich dem Pult. Behutsam zünden sie die Kerzen an. Der Gottesdienst am Vorabend des Sabbats hat begonnen.

Wenig später singen die etwa vierzig Menschen, die den Weg in den zweiten Stock eines Münchner Bürohauses gefunden haben, mit kräftigen Stimmen das „Schalom Alechem“, den heiteren, schwungvollen Gruß an den „Engel des Dienstes, Engel des Friedens“. Lediglich drei ältere Herren lassen es bei einem Summen bewenden. Der erste von ihnen trägt eine umgedrehte Schirm-Mütze und fixiert den Teppichboden, der zweite hat die Brille abgenommen, so dass sie an einer weißen Schnur vor seiner Brust baumelt, der dritte schnalzt zwischen den Liedern mit der Zunge. Rabbiner Rothschild hält keine Predigt, denn „es gibt nichts, was ich besser wüsste als ihr.“ Stattdessen trägt er einen Text seines Lehrers vor: „Wenn wir keine Hand finden, die sich uns vertrauensvoll entgegenstreckt, könnte es an uns liegen.“

Dass Männer und Frauen nebeneinander sitzen, dass der Gottesdienst stets um halb acht Uhr abends beginnt und nicht bei Sonnenuntergang, dass manches Mitglied sich mit vollen Einkaufstaschen auf einem der Bistro-Stühle niederlässt, dass Frauen wie Männer zur Tora-Lesung aufgerufen werden: all dies wäre in streng orthodoxen Gemeinden undenkbar. Das progressive Judentum aber, dem die 1995 gegründete Münchner Gemeinde „Beth Shalom“ angehört, will – so heißt es in den 35 Grundsätzen zum liberalen Judentum – „religiöse jüdische Tradition und Moderne in einen sinnvollen Zusammenhang bringen“.

Vor 200 Jahren entstand die Reformbewegung im niedersächsischen Seesen, wo Israel Jacobson, für Goethe „der Judenheiland aus Braunschweig“, seine „Religions- und Industrieschule“ gründete und wo er 1810 den ersten reformierten Gottesdienst abhielt. Ausgerechnet in Deutschland aber sind die liberalen Juden, anders als im angelsächsischen Sprachraum, nur eine Minderheit.

Das messianische Zeitalter

Jan Mühlstein, ein leise sprechender, bedächtiger Mensch, rührt etwas schneller in der Tasse mit schwarzem Tee, wenn die Rede auf den Zentralrat der Juden kommt. Der 53-jährige Journalist ist Vorsitzender sowohl von „Beth Shalom“ als auch der „Union Progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz“. Ihn ärgert die öffentliche Wahrnehmung, wonach der Zentralrat quasi monopolistisch die deutschen Juden vertrete. Weltweit, erklärt er, seien die orthodoxen Juden, die den Zentralrat dominieren, eine Minorität; die „Weltunion für progressives Judentum“ hingegen sei mit 1,6 Millionen Mitglieder die größte jüdische religiöse Organisation.

Das in säkulare, liberale, konservative, orthodoxe und ultraorthodoxe Richtungen aufgefächerte Judentum unterscheidet sich in der Liturgie und im Rang, der den heiligen Schriften zugesprochen wird. Die Liberalen stehen in der Tradition der Haskala, der jüdischen Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit ist auch der Talmud Gegenstand textkritischer Exegese und gilt ebenso wie der Pentateuch als „menschlicher Ausdruck einer religiösen Erfahrung“, nicht mehr als direkte göttliche Offenbarung. Im Zuge dieser Historisierung haben sich die Liberalen vom Glauben an die Auferstehung der Toten und an die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels verabschiedet; auch erwarten sie nicht den Messias, sondern das „messianische Zeitalter, das dadurch entsteht, dass die gesamte Menschheit Gottes Willen annimmt.“

Die Orthodoxie hingegen hält die Offenbarung für abgeschlossen und akzeptiert nur jene Auslegungen, die spätestens im 16. Jahrhundert entstanden sind. Danach, so die Argumentation, hätten die Interpreten sich zu weit vom Ursprung entfernt, sei zu viel Zeit nach Moses verstrichen. Im Ritual- und Gesetzeskodex „Schulchan Aruch“ von 1578, auf Deutsch: „Gedeckter Tisch“, sind die bis dahin entstandenen Regeln und Gebote des Judentums versammelt.

Die restlose Angleichung

In Israel, weiß Mühlstein zu berichten, erkennen orthodoxe Rabbiner liberale Trauungen nicht an, und da die Heirat im Lande selber ein ausschließlich religiöser Vorgang ist, floriert der Zypern-Tourismus: Liberale Paare reisen nach Nikosia, um sich dort zivilrechtlich trauen zu lassen; im Ausland geschlossene Ehen muss der israelische Staat nämlich akzeptieren. Auf bizarre Weise eskalierte die Auseinandersetzung 1999. Der orthodoxe Oberrabbiner Bakschi-Doron behauptete, das Reformjudentum habe dem jüdischen Volk durch Assimilierung einen zahlenmäßig größeren Schaden zugefügt als die Nazis durch den Holocaust.

Von dergleichen Polemik sind die deutschen Debatten weit entfernt. Doch auch Jan Mühlstein nennt das Verhältnis zur Israelitischen Kultusgemeinde München heikel, obwohl die IKG nun beim Kultusministerium zugestimmt hat, Rabbiner Rothschilds Religionsunterricht dem schulischen Unterricht gleichzustellen. Zuvor aber hatte die IKG der Stadtverwaltung erklärt, die Liberalen stünden nicht in der jüdischen Tradition, da Frauen und Männer gemeinsam beteten.

Ein Anflug nur von Heiterkeit, kein Zorn liegt in Mühlsteins leiser Stimme: „Wir wurden aus dem Judentum rausgeworfen.“ Der schmächtige Mann, der 1969 aus der CSSR emigrierte, sieht in diesem Gebaren die Spätfolgen der Nachkriegszeit. Da die 200 000 osteuropäischen Juden, die nach Deutschland kamen, aus ihrer Heimat nur die Orthodoxie kannten – die Haskala war auf Mittel- und Westeuropa beschränkt –, hatte das deutsche Judentum plötzlich ein orthodoxes Gesicht. Der 1952 gegründete Zentralrat verfestigte diese Strukturen. Seit zehn Jahren gibt es im Mutterland der Haskala rund 20 liberale Gemeinden.

Derzeit ringt die „Union progressiver Juden“ um finanzielle Gleichberechtigung. Die Staatsverträge, die die Bundesländer geschlossen haben, sprechen meist von Zuwendungen an die „israelische Gemeinschaft“. De facto aber kommen jene Beiträge, die entrichten muss, wer auf seiner Lohnsteuerkarte „is“ für „israelitisches Glaubensbekenntnis“ vermerkt hat, dem Zentralrat und den Landesverbänden zugute. Ein erster Erfolg für das Reformjudentum ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das Ende Februar die Eigenständigkeit liberaler Gemeinden zumindest für Sachsen-Anhalt bestätigt hat. Der Synagogengemeinde zu Halle steht nun die „Teilhabe an den finanziellen Leistungen“ des Landes ebenso zu wie der orthodoxen Jüdischen Gemeinde. Das seit dem 19. Jahrhundert gültige Statut der Einheitsgemeinde, die sämtliche Strömungen unter ihrem Dach vereinigen soll, es aber – wie München und Halle zeigen – nicht immer tut, könnte ins Wanken geraten.

In Erfurt hat die mit rund 580 Mitgliedern kleinste jüdische Landesgemeinde ihren Sitz. Als Wolfgang Nossen, 1930 in Breslau geboren, zum ersten Mal nach der Synagoge fragte, bekam er zur Antwort: „Synagoge? Die ist doch abgebrannt.“ Der Passant wusste nicht, dass seit 1952 am Juri-Gagarin- Ring eine neue Synagoge steht – der einzige Neubau, den die DDR zuließ. Angewidert zeigt Nossen jene Sätze in der Lokalzeitung, mit denen ein Journalist 1952 die „restlos gelungene Angleichung an die Umgebung“ lobte. Genau darin sieht der 72-jährige Schlesier den Geburtsmakel des unauffälligen Baus, der ihn, abgesehen vom Davidsstern, eher an eine Scheune erinnert. Eine „restlose Angleichung“ wollten vielleicht auch jene beiden Jugendliche erreichen, die am 20. April 2000 einen Brandanschlag auf die Synagoge versuchten.

Nossen können solche Gewaltakte kaum schrecken: „Ich bin abgebrüht“ sagt er, „mich kann nichts aus der Ruhe bringen.“ Man glaubt es dem stämmigen Mann mit den bunten Hosenträgern und der großen, tropfenförmigen Brille. Auf seinem Schreibtisch stehen die thüringische und die israelische Flagge nebeneinander, an der Wand hängen eine farbige Zeichnung der alten Synagoge von 1884 und das Bild eines Rabbiners, der ins Studium der Torarolle vertieft ist. Momentan hat die orthodoxe Landesgemeinde, deren Ausrichtung Nossen „traditionell-liberal“ nennt, keinen Rabbiner. Die Probezeit eines 31-jährigen Geistlichen aus Jerusalem wurde nicht verlängert, da dieser, so Nossen, nicht bereit war, Deutsch zu lernen und sich als streng orthodox herausstellte. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltet sich schwierig.

Die Erfurter Gemeinde besteht zu 95 Prozent aus so genannten „Kontingentflüchtlingen“, meist älteren Juden aus Osteuropa, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Einreiseerlaubnis erhielten. Russisch ist mittlerweile die verbreitetste Sprache, Deutsch- und Religionskurse zählen zu den dringendsten Aufgaben. „Wir haben einen florierenden Seniorenclub“, erzählt Nossen und lächelt breit.

Vielleicht hängt die Gelassenheit des Vorsitzenden damit zusammen, dass sein Vater gegen alle Wahrscheinlichkeit das Konzentrationslager überlebte, 1945 Breslau verlassen musste und nach Uruguay übersiedeln wollte, aus gesundheitlichen Gründen dann aber in Erfurt blieb und von dort 1953 nach Nürnberg auswanderte, weil die „Moskauer Ärzteprozesse“ im gesamten Ostblock eine Welle des Antisemitismus ausgelöst hatten. Nossen selbst, der 1977 von Israel nach Deutschland zurückgekehrt war, wollte 1989 nach Jerusalem ziehen. Doch dann traf er bei einem Besuch in Erfurt seine Jugendliebe wieder. Dreißig Jahre hatten die beiden sich nicht gesehen. In Erfurt fanden sie ein spätes Glück.

Einmal verschlug es sogar Wolfgang Nossen die Sprache: vor zwei Jahren, als er für den Jüdischen Friedhof neue Grabplatten bestellte. Dem Steinmetz schilderte er sein Anliegen, man unterhielt sich über Form und Farbe, und plötzlich schlug der Steinmetz vor: „Dann nehmen wir doch SS-Marmor.“ Auf Nachfrage erfuhr Nossen, dass er sich für schwarz glänzenden Marmor entschieden hatte, also für einen „Schwarzen Schweden“.

Wie Wolfgang Nossen sich eine Synagoge vorstellt, die ihren Namen verdient, lässt sich in Mannheim besichtigen. Der Architekt Karl Schmucker, ein Christ, hat gegenüber der evangelischen Trinitatis-Kirche und der katholischen Marktkirche ein Meisterwerk geschaffen. Der Gemeindevorsitzende Manfred Erlich nennt den Bau von 1987 die schönste Synagoge, die nach dem Krieg entstanden sei. Der Gebäudekomplex aus Synagoge und Gemeindezentrum erstreckt sich über zwei Stockwerke. Die Außen- wie Innenwände sind in rotem Granit gehalten, ebenso der Boden der Synagoge, deren vier Stützpfeiler nachtblau erstrahlen. Unter der Kuppel symbolisiert eine blau-weiße Wolltapisserie den Himmel von Jerusalem; silbern glänzt der Torahschrein mit den beiden Gesetzestafeln.

Die Tore der Gerechtigkeit

Am Eingangsportal, das in Erfurt der Psalmspruch „Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit“ ziert, steht hier: „Mein Haus wird ein Haus der Gebete sein für alle Völker“. Der vor 51 Jahren in Mannheim geborene Erlich, hauptberuflich Geschäftsführer der jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz, ehrenamtlich Präsident des Oberrats der Israeliten Badens, deutet diesen Spruch als Programm. „Wir sind offen für alle“, sagt der quirlige Mann im schwarzen Polo-Shirt. Ein juristisches Repetitorium findet regelmäßig im Seminarraum statt, für muslimische Beschneidungen oder christliche Hochzeiten kann der Konzertsaal gemietet werden, den Kindergarten „Miriam“ besuchen Kinder aller drei monotheistischen Religionen.

Die Schwierigkeiten, die seinem Erfurter Kollegen die Integration der Osteuropäer bereitet und die in anderen Orten zur Spaltung der Gemeinde führte, kennt Erlich kaum. Die Kontingentflüchtlinge machen in Mannheim nur ein Fünftel der Mitglieder aus. Da die Stadt nur ein einziges Durchgangswohnheim für diese Menschen hat, konnte sie nur wenige Juden aus Russland, dem Baltikum, der Ukraine aufnehmen; in Heidelberg hingegen stellt diese Gruppe 90 Prozent. „Ich wehre mich dagegen“, stellt Erlich klar, „Versammlungen auf Russisch abzuhalten. Sonst fühlen sich die Alteingesessenen an den Rand gedrängt.“

Manches von dem, was in der liberalen Münchner Gemeinde abgeschafft ist, gehört in Mannheim zu den unverrückbaren Gepflogenheiten: Frauen werden nicht zur Tora aufgerufen, sie sitzen meistens auf der Empore, und wer einen festen Sitzplatz haben will, der muss 41 Euro im Jahr bezahlen. Gegen die Bat- Mitzwa für Mädchen aber hat Rabbiner Tuvia Hod, der die Mannheimer alle zwei Wochen besucht, nichts einzuwenden – obwohl er in Bnei Brak ausgebildet wurde, einer ultraorthodoxen Hochburg.

Mit pfälzischem Zungenschlag bekennt sich Erlich zur Einheitsgemeinde: „Jeder muss sich hier wiederfinden“, der liberale wie der orthodoxe Jude, und deshalb achtet er darauf, dass in der geräumigen Küche die Kaschrut, die Speisegesetze, eingehalten und die milchigen von den fleischigen Nahrungsmitteln getrennt werden. Auch das Ritualbad hält jeder rabbinischen Prüfung stand: Als die Mikwe im Sommer vor fünfzehn Jahren angelegt wurde, musste das Wasser aus einer Quelle stammen und in einem unverschlossenen Gefäß nach Mannheim gebracht werden, so schreiben es die Religionsgesetze vor. Da die nächste Quelle im Odenwald liegt und ein Transport angesichts der hohen Temperaturen zur Verdunstung geführt hätte, wartete man den Winter ab. Dann wurde ein Eisblock direkt von der Quelle geschlagen. Auf offener Ladefläche gelang der Transport. Seitdem sind solche Anstrengungen nicht mehr nötig, denn Manfred Erlich weiß: „Ein Tropfen von diesem Wasser wird immer erhalten bleiben.“

Rabbiner Rothschild hat den Gottesdienst beendet. Gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen macht sich die 25-jährige Nancy auf ins Nebenzimmer, wo über Wein und Brot das Kiddusch gesprochen wird. Nancy kommt aus Pennsylvania, ihre Eltern, der katholische Vater und die jüdische Mutter, stammen aus England beziehungsweise Osteuropa. Die Dolmetscherin lebt seit 1998 in München: „Ich bin Europäerin“, sagt sie euphorisch, als sei damit die Sehnsucht nach Deutschland erklärt. In Israel war sie noch nie, dorthin reisen will sie aus Angst vor Anschlägen nicht. Ihre Verwandten fragen sie oft, wie sie als Jüdin in Deutschland leben könne, doch dann setzt Nancy ihr entschlossenstes Gesicht auf und erwidert: „Das Land hat sich verändert. Ein paar Verrückte gibt es überall.“

Nancy mag an Deutschland die Sonntagsruhe, die geregelten Arbeitszeiten und die weniger oberflächlichen Menschen, vor allem aber das Rokoko und den Jugendstil. Was sie nicht mag, ist das fortwährende Erinnern an die Shoah. Was sie überhaupt nicht mag, ist die Gleichsetzung von Israel und Judentum. „Nicht jeder Jude ist ein Israeli. Ich bin nicht verantwortlich für die israelische Politik.“ Diesem Vorurteil müsse mit Offenheit und Aufklärung begegnet werden, niemals mit Abschottung.

So unterschiedlich die Erfurter, Mannheimer und Münchner Juden ihr Judentum auch begreifen, einig sind sie sich in einem: Seit Martin Walsers Roman und, stärker noch, seit Jürgen Möllemanns Auslassungen hat sich der Wind gedreht. Manfred Erlich, Wolfgang Nossen und Jan Mühlstein berichten von einer rapide gesunkenen Schamgrenze. Beschimpfungen habe es zwar immer schon gegeben, nun aber hätten die Absender der Schmähbriefe keine Hemmungen, ihren Namen zu nennen. Sie wollen prunken mit ihrer Tat. Einer Frau, die den Thüringer Landesvorsitzenden telefonisch herabwürdigte, bot Nossen ein persönliches Gespräch an. Die Dame lehnte ab: „Ich würde nie einem Juden die Hand geben.“

Keiner der befragten Juden denkt daran, Deutschland zu verlassen. Sie alle verweisen wie Manfred Erlich darauf, dass in anderen Ländern, etwa in Frankreich, der Antisemitismus stärker sei. Dennoch spüren sie die Fremdheit wachsen. Gepanzerte Dienstwagen sind Standard, die Synagogenfenster sind aus Panzerglas, vor jedem Gemeindezentrum droht ein Schild: „Achtung! Polizeiliche Videoüberwachung!“ Fremd und unverstanden fühlen die deutschen Juden sich nicht zuletzt, wenn sie die Zeitungen aufschlagen und in Leitartikeln wie Leserbriefen auf „antiisraelische Darstellungen des Nahost-Konflikts“ stoßen. Lamentieren wollen sie darüber nicht, sich wundern und das eigene Wundern begreifen lernen schon. Vielleicht, schreibt George Steiner, vielleicht stellt die „geheimnisvolle Unverwüstlichkeit“ des Judentums „eine unbequeme Wahrheit dar: dass die Menschen lernen müssen, auf diesem kleinen Planeten gegenseitig Gäste zu sein.“

Süddeutsche Zeitung, 8. November 2002


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